85 Old Goa

Am frühen Vormittag verließ ich mein Hotel, ließ meinen Rucksack bei den freundlichen Herren der Gepäckaufbewahrung am Busbahnhof von Panaji und nahm den nächsten Bus nach Alt-Goa. Der Ort war gänzlich anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bevor die Hauptstadt Goas zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Panaji verlegt wurde, war Alt-Goa eine blühende Metropole gewesen. Vom späten 16. bis frühen 18. Jahrhundert hatte dieses „Rom des Ostens“ sogar mehr Einwohner als das damalige London und Lissabon. Neben anderen Ursachen waren es anscheinend Malaria und Cholera, die im 18. Jahrhundert einen abrupten Niedergang bewirkten.

Ich hatte damit gerechnet ein beschauliches Gassengewirr alter Wohnhäuser vorzufinden, ähnlich dem in Panaji. Dem war nicht so. Übrig geblieben sind wirklich nur die steinernen Kirchen, Kapellen und Klöster. Man hat nicht das Gefühl in einer einstigen Metropole zu sein, vielmehr in einem großen, grünen Park voller Kirchen. In der belebtesten Straße stehen Verkaufsstände dicht an dicht. Im Angebot sind christliche Souvenirs, T-Shirts mit Bob Marley und Konsorten, CDs, „heiliges“ Wunderöl, das alle Schmerzen verjagte, etc. Aus manchen Läden dringt laut Raggy, aus anderen Kirchenmusik. Am Imbisstand, wo ich ein indisches Frühstück aß, spielte man Jingle Bells. Passt irgendwie nicht zu Palmen und dreißig Grad plus.

Als erstes besuchte ich die Kathedrale von Sé, welche anscheinend nicht nur die größte Kirche Indiens, sondern die größte Kirche Asiens ist. Im Glockenturm schwingt zudem auch die größte Glocke Asiens. Bei all diesen Superlativen ist die Kirche innen und außen jedoch erstaunlich unbeeindruckend.

Ich war anscheinend zur richtigen Zeit hier. Für den Zeitraum November bis Januar hatte man nämlich die Überreste von Goas „Nationalheiligem“ Franz-Xaver aus seiner Gruft in der Basilica nebenan hervorgeholt und stellte sie nun vor dem Altar in der Sé Kathedrale aus. Erstaunlich waren die ausufernden Sicherheitsvorkehrungen und der riesige zum Schlangestehen eingegrenzte Bereich. So etwas sah ich bisher nur in Disneyland. Da es der frühe Morgen eines Wochentages war, hielt sich der Ansturm noch in Grenzen. Dennoch kamen auch an Wochentagen  Tausende und an Wochenenden Zehntausende Menschen hierher um den mumifizierten Leichnam von Franz-Xaver zu sehen. Nach doppelter Sicherheitskontrolle (Waffen, Feuerzeuge und Zigaretten müssen draußen bleiben) gelangt man vorbei an schwer bewaffneter Polizei in den Altarbereich. Hier liegen die Reste des vor fünfhundert Jahren so aktiven Mannes aus Navarra. Die Gläubigen werden links und rechts des gläsernen Sarkophags vorbeigelotst und habe gerade genug Zeit um das mumifizierte Gesicht zu betrachten und das Glas des Sarkophags zu küssen. Irgendwie widerlich. Nicht der Leichnam, sondern das Glas. Bei tausenden Küssen täglich werden wohl einige Krankheitserreger ausgetauscht. Jedenfalls war es für mich interessant zu sehen, wie gut der Leichnam erhalten war, ganz ähnlich den schönen Moorleichen in Dublins naturhistorischem Museum, die ich vergangenen April ein zweites Mal bewundern durfte.

Unweigerlich erfuhr ich im Laufe des Tages einiges über das Leben von Franz-Xaver. Der aus Navarra stammende Adelige führte Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nach seinem Studium in Paris ein recht weltliches Leben, schloss sich dann aber doch einem strengen katholischen Orden an, der vor allem die Reformation rund um Luther bekämpfen wollte. Franz-Xaver reiste nicht nur nach Goa, wo er fleißig Einheimische konvertierte, er gelangte auch nach Sumatra und sogar bis nach Japan. Gestorben ist er im Alter von nur sechsundvierzig Jahren auf einer chinesischen Insel. Von dort wurde sein Körper dann zurück nach Goa gebracht. Vor seinem Tod hat Franz-Xaver natürlich auch eine ganze Reihe von Wundern vollbracht. Ein Highlight ist diese schöne Geschichte: Franz-Xaver befindet sich auf einem Schiff, das in einen wilden Sturm gerät. Die Seeleute fürchten um ihr Leben. Doch Franz-Xaver weiß, was zu tun ist. Er wirft sein liebgewonnenes Kruzifix in die Fluten und siehe da: der Sturm legt sich. Das Meer wird friedlich. Wieder an Land ist Franz-Xaver traurig ob des Verlusts des Kruzifixes. Betrübt steht er am Strand. Da kommt eine Krabbe auf ihn zu gekrabbelt. Und in einer ihrer Scheren hält sich doch tatsächlich das ins Meer geworfene und verloren geglaubte Kruzifix. Halleluja.

Bei all den netten Geschichten vergessen wohl viele die wahre Geschichte der portugiesischen Inquisition. Wie vielen dieser Gläubigen, die hier vor lauter Demut am liebsten stundenlang Franz-Xavers Sarg küssen würden, ist wohl bewusst, welch menschenfeindliche Schreckensherrschaft die fanatischen Katholiken Portugals hier im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausübten? Voltaire war einer von wenigen Schriftstellern, die dies damals schon thematisierten. Ich erinnere mich noch gut an seine Erzählung „Les lettres d’Amabed“, in der ein armer indischer Prinz in die Fänge der hiesigen Portogiesen gerät. Zwangskonversionen, Folter und Vertreibung richteten sich aber nicht nur gegen die hinduistische Bevölkerung. Auch sämtliche Juden, die sich schon früh hier angesiedelt hatten, wurden von der Inquisition gepeinigt. Pikanterweise richtete sie sich auch gegen Christen. Anfangs waren Vasco da Gama und andere portugiesische Eroberer noch erfreut gewesen im neuentdeckten Land bereits christliche Gemeinden vorzufinden. (Das Christentum in Indien geht vielleicht bis auf den Apostel Thomas zurück, den es schon im ersten Jahrhundert hierher verschlug.) Nur waren die zur Zeit der Ankunft der Portugiesen hier lebenden Christen halt leider die falschen Christen, nämlich syrisch-orthodoxe und nicht papsthörige Katholiken. Das ging natürlich nicht. Also mussten auch sie zum Verbrennen ihrer Bücher und zum Abschwören ihres falschen Christentums gezwungen werden. Jahrhundertelang wurde hier im Namen des Christentums gefoltert und gemordet. All dies nur zu gern vergessend kommen aber Tausende täglich hierher und küssen den Sarg des freundlichen Heiligen mit der Krabbe.

Die Kathedrale von Sé ist nur eine von vielen imposanten Gotteshäusern Alt-Goas. Gleich daneben steht die Franz von Assisi Kirche, deren Inneres sehr beeindruckend ist. Vor der weitläufigen Bom Jesus Basilika, die ausnahmsweise einmal nicht weiß sondern rötlich ist, fand eben eine große Freiluftmesse in englischer Sprache mit hunderten Besuchern statt. Ich schlich mich daran vorbei um im Inneren der Basilika jene prunkvolle Kapelle zu sehen, in der Franz-Xaver normalerweise liegt. Dass er gerade nicht da war, schien nicht weiter zu stören. Die Gläubigen standen trotzdem Schlange um ihre Lippen auf den Stein des Altars zu pressen. Ich sah einem Mann dabei zu, wie er in voller Demut einen Holzbalken küsste. Dieser war eigentlich nur Teil des Gerüsts, welches das in Renovierung befindliche Kapellendach stütze. Faszinierend.
Ebenfalls in der Bom Jesus Basilika befindet sich ein besonders blutiges Kruzifix (siehe Foto).

Ich besuchte außerdem die Kirche Sankt Cayetan, die Kapelle Sankt Katharina und noch einige mehr. Sehenswert sind auch, das Archäologische Museum, das Museum Christlicher Kunst und ein paar andere kleinere Ausstellungen. Durch einen kleinen Triumphbogen hindurch erreichte ich schließlich noch das eher unspektakuläre des Mandovi Flusses.

Genug Christentum für heute. Ich nahm den Bus zurück nach Panaji. Da noch Zeit bleibt besuchte ich dort noch das Goa State Museum. Am interessantesten fand ich dort die Ausstellung zu Goas Freiheitskampf. Erst 1961 zwang das indische Militär die Portugiesen zum Abschied. Die Geschichte dieses kurzen Krieges, sowie das meist tragische Schicksal früherer Freiheitskämpfer wurde hier in Bildern und Dokumenten erzählt.

Schließlich hieß es Abschied nehmen von Goa. Ich nahm den Bus nach Margao, warf im Vorübergehenden noch einen Blick auf die dortige Heilig Geist Kirche und stieg am Bahnhof in mein geräumiges Erste Klasse Abteil.

Normalerweise reise ich ja nie erste Klasse und nur selten zweite. Hier in Indien genügt mir die dritte Klasse (=Sleeper) vollauf. Doch da für diesen Zug alles andere als erste Klasse schon ausgebucht gewesen war, hatte ich keine Wahl gehabt. Natürlich war der Komfort ein ganz anderer. Der Kellner, der das Abendessen serviert und Tee und Snacks bringt, war sehr freundlich. Das Bett war zehnmal angenehmer, als in den billigeren Klassen.
Man schläft gut mit dem Gedanken ein, dass das Bahnhofsgebäude, in das man am Morgen einfahren wird, auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO steht.

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84 Panaji

Nach einem letzten Frühstück am Märchenstrand von Palolem gelangte ich per Bus binnen zwei Stunden in Goas Hauptstadt Panaji.

Dass nach den Höhepunkten der vergangenen Tage (Mysore, Hampi, Palolem) der nächste Ort ein bisschen enttäuschen könnte, war zu erwarten. Panaji bietet portugiesischen Charme. Blauweiße Fließen (die berühmten Azulejos) benennen alte Villen. Die Viertel Sao Tomé, Altinho und Fontainhas  sind voll mit bunter, reizvoller Architektur. Manche Häuser sind sehr gepflegt, andere bröckeln allmählich in sich zusammen. Auf einer kleinen Anhöhe im Zentrum der Stadt, steht die fast fünfhundert Jahre alte Kirche mit ihrer strahlend weißen Fassade und den schönen Stufen, die zu ihr empor führen. Witzig wie die Gläubigen vor der verschlossenen Tür auf die Knie fallen und, da sie nicht weiter kommen, eben dort beten. Unweit nördlich der Kirche fließt der breite Fluss Mandovi. Am Ufer leuchten nachts zahlreiche Casinoboote und locken die Besucher. Auch abendliche Schiffsfahrten entlang des Flusses werden geboten.

Alles hier wäre aber so viel schöner und beschaulicher, wenn nur dieser laute, dichte Straßenverkehr nicht wäre. Nirgendwo auf dieser Reise fand ich ihn störender als hier. Sogar der Kirchenchor des abendlichen Freilicht-Gottesdienstes auf den Stufen vor der mit Lichterketten wunderschön erleuchteten Kirche hatte Mühe das unaufhörliche Hupen zu übertönen. Um wieviel beschaulicher hier alles wäre, gäbe es ein paar Fußgängerzonen und ein bisschen Verkehrsberuhigung.

Nach einer nachmittäglichen Erkundungstour, wusste ich nicht so recht, was ich mit dem Abend anfangen sollte. Die River Cruise entlang des Mandovi klang an sich reizvoll, doch das Internet hatte mich vor eineinhalbstündigem Schlangestehen für nicht sonderlich spannende Aussicht auf einem überfüllten Schiff mit mittelmäßigen Entertainment gewarnt. Ich überzeugte mich selbst von der Länge der Schlange. In der Tat war der unbequem Andrang groß. Ich machte kehrt.

Reizvoll wäre sicher auch ein Casino-besuch gewesen. Das Angebot für 3000 Rupien Essen und Getränke so viel man will, Entertainment und Jetons im Wert von 2000 Rupien zu erhalten, klang verführerisch. Ein bisschen Roulette macht immer Spaß. Mit ein bisschen Glück könnte ich meinen 30 Dollar Verlust vom Februar im Venetian in Vegas wettmachen. Allerdings begann das nächtliche Entertainment und der Ansturm der Besucher erst gegen halb zehn und solange wollte ich nicht warten. Es war ein heißer Tag bei etwa 35 Grad gewesen und ich war müde. Zudem hätte ich Schwierigkeiten gehabt, dem Dresscode zu entsprechen.

Ich entschloss mich also für einen ruhigen Abend in meinem gemütlichen Altstadtzimmer. Davor gab’s aber noch ein hervorragendes Abendmahl. Überhaupt war das Essen eines der besten Erlebnisse in Panaji. Goas regionale Küche ist hervorragend. Sowohl das Kingfish-Vindaloo, das ich mittags hatte, sowie das Garnelencurry am Abend schmeckten derart ausgezeichnet, dass man am liebsten gleich wieder Hunger hätte, um nochmal dasselbe zu bestellen. Diese  dezenten Tamarind- und Kokosnoten im Curry, das feurige Vindaloo… Welch Gaumenschmaus. Beim Abendessen führte ich noch eine nette Unterhaltung mit zwei US-Amerikanern, von denen einer die letzten vier Jahre in Delhi gelebt hatte. Natürlich hatte er spannende Geschichten auf lager. Der ältere Herr aus Oakland und ich hörten gespannt zu.

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83 Palolem II

Ein schöner, ruhiger Tag in Palolem, an dem ich nichts tat, als gut zu speisen, im Meer zu schwimmen, den Strand entlang nach Süden zu spazieren und auf Liegen und Felsen in der Mahabharata zu lesen. Der Krieg zwischen Pandavas und Kauravas hatte nun endlich begonnen. Tag auf Tag gab es Gemetzel. Im zentralen Bhagavad-gita Kapitel, das immer als Kernbotschaft hinduistischen Denkens genannt wird, wird Arjuna von Krishna darüber belehrt, warum der Kampf unvermeidbar sei. Arjunas Folgsamkeit ist eine Niederlage jeglichen kritischen Denkens, denn Krishnas Ausführungen (, die ich auch schon aus anderen Übersetzungen kannte,) sind einfach nur abzulehnen. Man kann bei jedem zweiten Satz nur den Kopf schütteln und laut „Nein“ sagen.

Wie kann man wissen, was das rechte Handeln ist? Ganz einfach. Richtig ist immer nur das, was Krishna sagt und Krishna von dir will. Höre also auf zu denken, Arjuna, und folge brav dem weisen Krishna, welcher deinen Wagen lenkt. Dass in der Bhagavad-gita der Hinduismus plötzlich zum Monotheismus wird, indem alle anderen Götter zu Aspekten Krishnas (bzw. Vishnus) degradiert werden ist ein interessanter Punkt. Man merkt, dass das Kapitel eine spätere Ergänzung ist. Denn nimmt man alles darin ernst, macht vieles keinen Sinn mehr. An einer Stelle fordert Krishna sogar, keinen Gott neben ihm selbst anzubete. Und das im Hinduismus! Jedenfalls wird mir Krishna zunehmend unsympathisch. Sehr spannend bleibt aber die Psychologie auf der Verliererseite. In den Kapiteln rund im die Kauravas kommt stets der alte Konflikt zwischen Fatalismus und freiem Willen ans Licht. Spannend.

Abends saß ich noch lange in einem Lokal mit dem schönen Namen „The Found Things“. Man bot Life-Musik und offenes Feuer. Der Mond ging wieder hinter den Palmen auf. Die Sonne versank im Meer. Schön.

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82 Palolem I

Von Goas größtem Bahnhof in Madgaon nahm ich mir einen Bus nach Süden und gelangte binnen einer Stunde an den südlichen Traumstrand von Palolem.

Im Unterschied zu Varkala gibt es hier kaum Wellen. Das Meer liegt fast so ruhig da wie ein See. Doch es ist wunderschön. Ein dichter Palmenwald begrenzt den Strand. Die Bäume ragen teils weit über den Sand als streckten sie sich dem Wasser entgegen. Im Norden ragt der bewaldete Hügel einer Halbinsel, die bei Flut zur Insel wird, ins Meer hinaus. Direkt am Strand unter den Palmen gibt es viele gute Restaurants und kleine Bungalows zum Wohnen. In eines davon zog ich nun ein.

Während das Baden im Meer hier zwar schön aber mangels Wellen auch recht eintönig ist, lohnt ein Spaziergang entlang der Küste nach Norden. Nahe der Halbinsel findet man viele verschiedene Krebse von Fingernagel- bis Handtellergröße. Schön ist der Blick auf das Meer, auf die Palmen und die grünen Hügel dahinter. Der Strand von Palolem ist eine Art Manifestation der Paradiesvorstellungen der Menschen in den Städten des Nordens.

Aufgrund der ruhigen See kann man gefahrlos weit hinausschwimmen. Man kann sich aber auch ein Kayak nehmen und damit allein auf weitem Wasser ins Meer hinaus paddeln. Letzteres tat ich. Im sanften Licht des Spätnachmittags lenkte ich mein Kayak entlang des goldenen Pfads der im Wasser gespiegelten Sonne. In einem weiten Bogen umrundete ich die Halbinsel im Norden und erreichte die Bucht jenseits davon. Eine Stunde lang ließ ich mich dort treiben und hielt Auschau nach Delfinen. Ihr Erscheinen würde diesen schönen Tag noch schöner machen. Die Zeit verging. Indes wurde die Sonne stets rötlicher und das Meer silbriger. Leicht enttäuscht ob des Ausbleibens der Delfine paddelte ich schließlich zurück auf die andere Seite der Halbinsel. Und dann sah ich sie plötzlich kommen. Drei silbrige Körper glitten durchs Wasser und sprangen im fröhlichen Spiel gelegentlich zur Gänze über die Oberfläche. Sie kamen mir entgegen, tauchten unter mir hindurch. Ich folgte ihnen, kam ihnen sehr nahe. Einmal sprang einer nur etwa fünf Meter neben mir in die Höhe. Wundervolle Kreaturen. Zum letzte Mal Delfine gesehen (viel ferner jedoch) habe ich erst letzten Februar am Point Lobos nahe Monterey, California, in einer ganz anderen Ecke der Welt unter gänzlich anderen Umständen. Das Gefühl der großen Freiheit war aber beide Mal gegenwärtig.

Unsagbar schön war auch der Sonnenuntergang. Immer noch in meinem Kayak treibe sah ich die große, feuerrote Scheibe in die Wellen tauchen. Und die Welt ward silberblau. Kurz sah ich noch einen vierten, eisamen Delfin. Dann paddelte ich endgültig zurück ans Ufer. Am Abend  werden dort Feuer angezündet. Manche Lokale stellen ihre Holztische und gemütlichen Stühle bis ans Wasser.

Stunden nach der Kayaktour saß ich euphorischen Gemüts am kerzenerleuchteten Strand und hob mein Whiskyglas dem Meer entgegen. To life. L’chaim. Auf das Leben. Heute war mein neunundzwanzigster Geburtstag. Und ich wusste, wo ich vor genau zehn Jahren gewesen bin. In einem kalten, kargen Bundesheerbunker an der ungarischen Grenze nahe Nickelsdorf. Ich steckte Pin-Nadeln, die die einzelnen Truppen markierten, in die Karte des Grenzverlaufs und funkte „Ramses 10 an Ramses 100, kommen.“ Im Hintergrund lief Radio Burgenland. Ein anderer Mensch in einer anderen Welt.
Runde Geburtstage sind nicht so wichtig. Viel interessanter sind jene in Zeiten des Unbruchs, also jener vor zehn Jahren im militärischen Niemandsland zwischen Schule und Studium, und jener heute im verdienten Atemzug zwischen Doktorat und Fragezeichen. Jetzt war die Zeit, um beim Anblick des Meeres Rückschau zu halten auf diesen wilden Ritt der letzten zehn Jahre. Das Meer ging mir auch damals durch den Kopf, schrieb ich doch in jenen kalten Burgenlandwochen ein paar der frühen Kapitel von „Auf See“. Und jetzt war ich hier an Indiens westlicher Küste. Die Gedanken schweifen über zehn bunte Jahre, über Philosophieseminare und Physikpraktika, über Gedichte, Romane und Theaterstücke, über Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen und Tränen im Publikum. Über Menschen und Geschichten. Über tausend Erfahrungen und Bereicherungen. Über viele schöne Reisen und noch schönere Reisen im Geiste. Über Unvergessliches und manchmal auch gerne Vergessenes. Über Sterne und Bühnen. Über zehn Jahre in all ihrem unwiederholbaren, unwiederbringlichem Facettenreichtum. So heben wir das Glas dem Meer entgegen und sagen uns: Wohlan, die nächsten zehn Jahre können kommen. Und wo auch immer ich heute in zehn Jahren sein würde, an diesen Moment, an dieses Meer und diesen Strand und dieses Mondlicht zwischen den Palmen würde ich denken müssen.

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81 Hubli Junction

Nach Tagen voller Tätigkeit und einer bunten Flut an Impressionen ist es manchmal sehr erholsam, einen Tag lang nur zu reisen, aus Zugfenstern zu blicken, zu lesen, von den vergangenen Tagen zu schreiben und auf den nächsten Zug zu warten. So ein Tag war heute.

Nach einem Frühstück mit Craig dem Australier kam der frühe Abschied von Hampi. Ich ignorierte die Tuktuk-Fahrer und sprang in denselben Bus, der mich gestern erst hierher gebracht hatte. Bald saß ich auch schon im Zug nach Westen und sah die flache, grüne Landschaft des nördlichen Karnatakas an mir vorübergleiten. Nach drei Stunden erreichte ich den Bahnhof von Hubli. Da es reservierungstechnisch nicht anders möglich gewesen war und ich obendrein eine großzügige Verspätung einkalkuliert hatte, war mein Aufenthalt in dieser Stadt ohne Sehenswürdigkeiten auf ganze sieben Stunden bemessen.

Der supermoderne Bahnhof Hubli Junction bietet die idealen Voraussetzungen, um Zeit totzuschlagen. Dort gibt es nicht nur vorzügliche Verpflegung (Gebäck, Kaffee, Eis, Schokolade, Idlis, Dosas, Biriyanis, etc.), sondern auch einen komfortablen Warteraum mit sauberem Bad, Akkuladestation und sogar ein Internetcafé direkt in der Bahnhofshalle. Was will man mehr? Nur wenige europäische Bahnhöfe können da mithalten.

Die meiste Zeit befand ich mich in der Welt der Mahabharata. Alle Vorzeichen stehen auf Krieg. Letzte Vorbereitungen werden Getroffen. Generäle werden ernannt. Die Qualität der Erzählung wird einmal mehr durch leise, emotionale Szenen unterbrochen, die gekonnt in die martialische Schlachtvorbeteitung verwebt sind. Etwa die Szene, in der Kunti ihrem weggebenen Sohn Karna seine wahre Herkunft offenbart und er erkennt, dass seine Feinde in Wahrheit seine Brüder sind. Ein kleines Juwel ist auch die Nebenhandlung rund um Shikhandi, dessen Schicksal es ist, Bhishma zu töten, da dieser in Shikhandis früherem Leben als  Prinzessin Amba all ihre Träume zerstörte.

Ich las, schrieb und plante die nächsten Tage in Goa. Schnell verging die Zeit. Es wurde Nacht, ich bestieg meinen Zug und wurde schlafend nach Westen zur Küste getragen. Karnataka flüsterte ich noch ein ernst gemeintes „Auf Wiedersehen“ zu. Hampi könnte mich eines Tages – und sei es in mehreren Jahrzehnten, wenn ich so alt bin wie Craig der Australier – wieder zu sich locken.

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80 Hampi

Hampi ist ein welthistorisches Highlight und zweifellos einer der schönsten Orte dieser Reise. Hampi ist atemberaubend schön. So opulent wie Rom – so beschrieb diesen Ort einer jener wenigen Europäer, die es in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hierher geschafft haben. Wo heute Geröll und Ruinen sind, erhob sich damals die Stadt Vijayanagar, reiche Hauptstadt des gleichnamigen Reiches, das sich im vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert teils über den ganzen Süden Indiens erstreckte. Doch dann im Jahre 1565 taten sich mehrere muslimische Herscher zusammen und machten das von internen Machtkämpfen geschwächte Vijayanagar dem Erdboden gleich. Stadt gibt es hier heute keine mehr, nur ein paar Häuser, die Unterkunft gewähren. In Anbetracht dessen, was geblieben ist, kann man nur schwer schließen, was einst alles war. So steht man zum Beispiel vor der Ruine eines prunkvollen, palastartigen Gebäudes mit elf hohen Torbögen und liest erstaunt, dass dies kein Palast sondern nur die Stallungen der Hofelefanten waren. Wie groß mag erst der Hof des Herrschers gewesen sein? Davon ist nur Schotter übrig.
Bei all den Ruinen von Tempeln und Palästen – diese sind hier nicht die Hauptattraktion. Der wahre Reiz von Hampi liegt in der wunderbaren, außerirdisch anmutenden Landschaft, in dem all dies sich befindet. Der mäandernde Fluss mit seinem felsigen Ufer, die zerklüfteten Hügel roten Gesteins, wie von Riesen zusammengetragen, die versteckten Täler und Schluchten, die spektakulären Felsformationen – all dies vermag zu bezaubern, vor allem im Licht eines tiefroten Sonnenuntergangs. Hampi muss man gesehen haben. Doch gehen wir’s chronologisch an.

Gegen halb acht Uhr morgens fuhr mein Zug in Hospet ein. (Hampi selbst hat keinen Bahnhof.) In Rekordzeit sprang ich ins erste Tuktuk, verließ es drei Minuten später und sprang nach fünf Sekunden am Busbahnhof in den Bus nach Hampi, der sich direkt vor mir materialisierte. Natürlich hatte der Tuktuk-Fahrer versucht, mich von der Busfahrt abzubringen, um mich selber nach Hampi zu bringen. Er log mir vor, der Bus wäre immer voll und die Fahrt dauerte eineinhalb Stunden. Die angenehme Wirklichkeit war: Der Bus war halbleer und die Fahrt dauerte fünfundzwanzig Minuten. That’s India.

Jedenfalls erreichte ich kurz nach acht Uhr das kleine Dorf von Hampi, das mit seinen Holzhütten inmitten steinerner Ruinen und riesiger Felder noch kleiner wirkt, als es ist. Ich fand rasch eine passable Unterkunft und ein gutes Frühstück. Schnell war ein Fahrrad ausgeliehen und los ging das Abenteuer.

Zuerst wollte ich den Osten der Ruinenstadt erkunden. Rasch erwies sich mein Fahrrad auf den spaltenreichen Pflasterstraßen des fünfzehnten Jahrhunderts mehr hinderlich als förderlich. Ich ließ es in der Obhut einer von den Jahrhunderten verwitterten Nandi Statue zurück und erklomm auf Sandalen den kleinen Pass unterhalb des Matangahügels. Und wen fand ich hier inmitten von Felsen und Ruinen? Es war Craig der Australier, mit dem ich vor über einer Woche am Bahnhof von Varkala so nett philosophiert hatte.

Gemeinsam mit einem Polen und einer Britin erwanderten wir den Vittala Tempel, eine der besterhaltenen Ruinen von Hampi. Die kunstvollen Steingravuren zeigten einmal mehr Szenen der Ramayana, welche zu Hampi eine besondere Verbindung hat. Gemeinhin wird dieser Ort mit der mythischen Stadt Kishkinda identifiziert, Heimat des Affenkönigs Sugriva. Tatsächlich gibt es hier sehr viele Affen (Languren, Rhesusaffen und andere Verwandte). Hampi gilt auch als Geburtsort von Hanuman. Man meint sogar, den Hügel zu kennen, auf dem dieser Held der Ramayana als Sohn des Windgottes und einer Affendame geboren wurde. Vom Vittala Tempel aus kann man den Hügel gut sehen. Noch mehr angetan war ich aber vom einsamen, knorrigen Baum auf dem Tempelgelände.

Wieder allein kletterte ich eine Stunde lang durch die Felsen am Flussufer und entdeckte dabei einige verborgene Schreine, Gravuren im Stein von Yonis, Lingams und mehr, sowie ein paar Schilder, die vor Krokodilen warnen. An einer Stelle führte mich mein Weg sogar durch eine Höhle, in welcher ein paar Sadus um Geld baten.

Zurück bei meinem Fahrrad schwang ich mich auf den Sattel und erkundete binnen drei Stunden die Ruinen im Süden, wo sich das eigentliche Zentrum der königlichen Macht befunden hatte. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die zauberischen Spiegelungen im teils überfluteten Shiva-Tempel, die besagten Elefantenstallungen, die hohe Statue der Vishnu-Inkarnation Lakshimi Narasmiha, die hohe Plattform von Mahanavimi-diiba inmitten des Ruinenmeers, das pittoreske Lotos-Mahal und das Bad der Königin. Kurz stürzte ich mich auch noch in den dichten Verkehr der nahen Stadt Kamalapuram, um das dortige Archäologische Museum zu besuchen. Dessen Hauptattraktion ist (neben vielen Skulpturen) ein großes 3D-Model von Hampi, seiner Landschaft und seinen Palästen.

Drei von geschmückten Rindern gezogene Zweispänner überholend brauste ich bergab zurück nach Hampi. Dort gönnte ich mir ein spätes Mittagessen aus Fruchtsaft und Momos. Wieder einmal ist im ganzen Ort (außer vielleicht in versteckten Kellerkneipen, deren Suche mir zu anstrengend ist) kein Bier zu finden. Aber wer braucht das schon, wenn es hier doch köstliche Lichy-Apfel oder Kiwi-Ananas Säfte gibt. Allgegenwärtig ist auch hier das Haschisch. Besonders deutlich wird das anhand der Händler die abends über den Aussichtshügel streifen und lautstark ihre Waren anpreisen: „Water? Joint? Water? Joint?“ – so als wären beide die selbstverständlichsten Waren der Welt.

Nach kurzer Nachmittagspause besuchte ich schließlich den großen Virupaksha Tempel, welcher ebenso aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert stammt, aber im Unterschied zu allen übrigen Bauten jener Zeit nachwievor genutzt wird. Da der Preis stimmte ließ ich mich von einem zertifizierten Guide eine halbe Stunde lang durch die Gewölbe führen. Er erklärte mir die Symbolik der Gravuren auf dem fünfzig Meter hohem Torturm und an allen anderen Ecken und Enden. An vielen Stellen unterbrach ich den Guide, da er mir nicht viel Neues erzählte. Man kennt sich inzwischen ja ein bisschen aus. Einiges lernte ich aber doch hinzu. Im Allgemeinen war es einer der interessanteren Tempelbesuche dieser Reise. Der Tempelelefant Lakshmi scheint sich hier jedenfalls sehr wohl zu fühlen. Er beschnupperte neugierig meine Hand.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne schwebte dem Horizont entgegen. Ich erklomm den Hemakuta Hügel im Süden des Tempels. Hier lag ich lange auf warmen Stein zwischen Felsen und Ruinen und betrachtete den Himmel und die wunderschöne Aussicht. Die Landschaft wurde zunehmend rötlicher. Die Welt wurde ruhiger. Man darf hier nicht zu lang die Augen schließen, denn die Affen sind flink. Ich sah, wie einer zwei kurz unachtsamen Damen die Wasserflasche entwendete. Lang saß das Äffchen auf einem Felsen und rätselte wie es die Flasche nun aufkriegen sollte. Schließlich gelang es. Etwas später sollte ich dann noch eine Lemurendame sehen, die samt Nachwuchs (letzere am Hals hängend) einen Russen ansprang, ihm seine eben gekauften Bananen entwendete und diese gierig verschlang.
Doch zurück zum Hemakuta Hügel. Die Sonne senkte sich leuchtend rot dem Horizont entgegen. Ich stand zwischen Felsen, Affen, schönen Rindern und Ruinen und sah ihr dabei zu. Der schönste Sonnenuntergang der bisherigen Reise an einem der faszinierendsten Orte, an denen ich je gewesen bin. „Eppur si muove“ in den Ohren hüpfte ich den Hügel hinab.

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79 Mysore II

Ich begann den Tag mit einem Spaziergang durch den morgendlichen Devaraja Markt, nur ein paar Schritte von meinem Hotel entfernt. Auf dem weitläufigen Areal verkaufen Händler Obst, Gemüse, Blüten, Naturfarbstoffe und andere Waren. Beschaulich.

Wie überall in Mysore wurde auch hier bald einer jener Typen auf mich aufmerksam, deren Aufgabe es ist, die Touristen mit falscher Freundlichkeit und Flunkerei dazu zu bringen, ihnen zu einem dubiosen „Weihrauchmarkt“ zu folgen. Natürlich ging ich nicht mit. Bewundernswert ist aber, wie geschult und gerissen diese Typen sind. Da verwechselt keiner Austria und Australia. Ganz im Gegenteil: Man lobt Red Bull, preist Niki Lauda und fragt, ob man aus Wien kommt – sogar auf Deutsch. Und einmal mehr wird der Zauber des „Räucherstäbchenmarktes“ geschildert. Faszinierend, dass sich das Aneignen solchen Wissens lohnt – bei der Handvoll Österreicher, die jährlich wohl nach Mysore gelangt. Amüsant ist auch die Sorge dieser Typen um meine Gesundheit. Da werden Mysore und mein nächstes Ziel Hampi als moskitogeplagte Malariagebiete beschrieben. Und natürlich gibt es das Öl, das ja so viel besser ist als der Moskitospray nur auf besagtem Weihrauchmarkt zu kaufen. Die Wirklichkeit ist eine andere: Kaum irgendwo sah ich in Indien weniger Moskitos als in Hampi und Mysore. Auserdem sind beide Orte nahezu malariafrei. Man kennt noch weitere Tricks. Mit Ähnlichem ist wohl in ganz Indien zu rechnen, doch so schlimm wie in Mysore war es schon seit Varanasi nicht mehr. Ich mag die Stadt trotzdem. Jedenfalls ließ ich all die scheinfreundlichen Typen links liegen und ging frühstücken. „Guests are advised to be wary of strangers who might strike up conversations as they may lead to unpleasant or risky consequences „, stand da in der Speisekarte. Zufrieden löffelte ich meinen Poridge.

Da mir das Finden des richtigen Busses zu mühsam war, investierte ich fünf Euro in ein Tuktuk und ließ mich hinauf auf den 1062 Meter hohen Chamundi Hill bringen. Chamundi ist nur ein anderer Name für Durga, die wiederum niemand anderes ist als Parvati. Es ist ihr Kampf gegen einen starrköpfigen Dämon, worum es beim Dassara (oder Dasain) eigentlich geht. Der Prophezeiung nach konnte besagter Dämon von keinem Gott und Mann getötet werden und dünkte sich daher unbesiegbar. Die weibliche Durga aber konnte ihn bezwingen. (Klingt sehr nach Tolkien.) Chamundi Hill hat einen schönen Tempel und etwas unterhalb  einen riesigen schwarzen Nandi-Stier, den größten, den ich bisher sah. Hauptattraktion des Hügels ist aber klar die Aussicht in alle Himmelsrichtungen, vor allem hinab auf Mysore.

Zurück in der Stadt blieb noch Zeit bis zur abendlichen Abfahrt meines Zuges. Da mich alles andere weniger reizte, besuchte ich einfach ein zweites Mal den Palast und bestaunte die erst gestern genossenen Räume und Kunstwerke. An der Hinterseite des Palasts entdeckte ich noch ein kleines Museum, das ich gestern übersehen hatte. Ein weiterer Audioguide (u.a. mit einleitenden Worten des letzten Maharajahs) beschreibt die diversen Exponate aus dem Besitz der Königsfamilie: Kinderspielzeug, Musikinstrumente, Waffen, etc.

Nahe des Bahnhofs fand ich noch eine Unterführung mit erstaunlich schöner Graffitikunst, die Landschaften, Tiere hinduistische Götter, aber auch Szenen des täglichen Lebens zeigt. Der Bahnhof von Mysore ist sehr modern, sauber und übersichtlich. Übrigens sind die meisten Bahnhöfe dieser Reise weitaus moderner als jener in New Delhi.

Nach den Busfahrten der vergangen Tage freute ich mich so richtig aufs Zugfahren. Problemlos fand ich meinen Platz, gönnte mir noch einen Tee und schlief rasch ein. Nach kurzem Erwachen in Bangalore, wo viele Menschen aus- und einstiegen, ließ ich mich wieder schlafend durchs östliche Karnataka weiter nach Norden tragen. Ein Stück weit führte die Bahnstrecke auch durch den Bundesstaat Andhra Pradesh, dessen Osten ich vor drei Wochen auf der Fahrt nach Chennai (ebenfalls bei Nacht) schon durchfahren hatte. Der Zug brauste durch das Land. Hampi rückte näher.

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78 Mysore I

Mysore war bis 1947 Hauptstadt eines mehr oder weniger unabhängigen Königreichs (unter britischer Duldung). Die Maharajahs von Mysore aus der Dynastie der Wodeyars regierten in Prunk und Pomp von ihrem Palast aus und ließen sich zum wichtigsten Fest des Jahres, dem Dassara (einer Variante des auch in Nepal zelebrierten Dasain) auf in Gold gekleideten Elefanten durch die Straßen tragen. Auch heute noch wird hier Dassara mit prächtigen Umzügen gefeiert, nur der Maharajah fehlt. Geblieben aber ist einer der schönsten Paläste des Erdenrunds.

Bevor mich meine Füße dorthin trugen, besuchte ich zuerst den viel kleineren Jaganmohan Palast, welcher einst als königliches Auditorium fungierte. Im selben Gebäude befindet sich heute eine recht ansprechende Kunstgalerie, welche hauptsächlich indische und europäische Kunst aus der Kolonialzeit zeigt. Man findet hier einige Schätze. Sogar ein Selbstbildnis von Rembrant ist dabei. Viele Gemälde zeigen Szenen, die ich aus der Mahabharata kenne, etwa Bhishmas Verzicht auf den Thron. (Dies erlaubt seinem Vater die schöne Fischerstochter zu heiraten, deren Vater nur einwilligt, falls seiner Tochter künftiger Sohn König werden soll.)

Entlang der Mauer, die das weitläufige Palastareal umgrenzt, erreichte ich endlich das einzige der vier großen Tore, das für Besucher geöffnet hat. Das Areal rund um den Palast beherbergt schöne Bäume, Statuen angriffslustiger Tiger, einige Hindutempel, sowie Stallungen für die  Elefanten, auf denen man auch eine Runde reiten darf. Den meisten Raum aber nimmt die leere, gepflasterte Fläche ein, auf welcher sich das Volk zu wichtigen Anlässen (wie etwa dem Geburtstag des Maharajahs) versammelte und einen Blick auf die Herrscherfamilie auf den breiten Terrassen der zum Hof geöffneten Säulenhalle zu erhaschen hoffte. Von außen wirkt der Palast (nachdem man das Innere gesehen hat) überraschend unspektakulär. Von innen aber … In meinem Kopf liefert sich der Königspalast von Mysore einen bislang unentschiedenen Kampf mit der Alcázar von Sevilla um Platz eins auf meiner persönlichen Rangliste der (von innen) schönsten Gebäude, die ich bisher sehen durfte. Was für ein Augenschmaus! Allein die Durbar Halle mit ihren rötlichen Säulen, türkisen Bögen und ihren vielen Spiegeln, von denen auch der Boden einer ist, lohnt jede Reise hierher. Das hohe Heiratspavillon mit seiner gläsernen Kuppel und den spannenden Wandgemälden, die verschiedene Episoden festlicher Umzüge zeigen, ist ebenso beeindruckend. Aber da ist noch viel mehr…
Mit sympathischem Audioguide durchwanderte ich Hallen und Korridore. Der Palast ist erst knapp über  hundert Jahre alt. Wir verdanken ihn den Köchen des Maharajahs, die im Jahre 1897 etwas anbrennen ließen, sodass der alte Palast Opfer der Flammen wurde. Ein neuer musste her und Geld hatte man gerade in Hülle und Fülle. So indisch der Palast auch erscheinen mag, der Architekt war doch  ein Brite. Und so hinduistisch die Motive der gläsernen Fenster auch sind, gefertigt wurden letztere doch in Glasgow. Aber eben die Mischung an Motiven und Kunstfertigkeiten macht den Palast so ungemein ansprechend. Als er 1912 fertiggestellt wurde, war elektrischer Strom längst kein Science Fiction mehr. Die elektrische Beleuchtung und der Fahrstuhl sind keine späteren Ergänzungen. Sie waren von Anfang an da

Nach diesem schönen Palastbesuch gönnte ich mir ein gutes Mal im Parklane (sehr freundliche Kellner) und machte dann auf den Weg noch ein paar andere Sehenswürdigkeiten zu würdigen. Vorbei am alten Glockenturm und der Memorial – beide unverkennbar britischen Ursprungs – gelangte ich zu einem weiteren Museum, welches nach Indira Gandhi benannt ist. Erstaunlich ist der Gedanke, dass dieses unscheinbare, recht hässliche Gebäude fast hundertfünfzig Jahre älter ist als der Palast. Die Ausstellung im Erdgeschoss und in  den Gärten zeigt verschiedene Stile von Terrakotta-Kunst aus ganz Indien. Die Räume im ersten Stock bieten die wohl schrägste Gegenüberstellung verschiedener Werke, die mir bisher untergekommen ist. Da sieht man die Schwarzweißfotografien grimmig dreinblickender Maharajas und daneben das grellebuntes Bild eines rote Shorts tragenden Mannes im Tigerkostüm, der aussieht wie der Bösewicht in einem schlechten Comic. Gegenüber: Landschaftsmalerei und Nehru.

Ich schlenderte noch ein paar Schritte durch dichten Verkehr und unaufhörliches Hupen vorbei an einer schönen Moschee bis in die Gärten des kolonialen Government House. Dort machte ich kehrt und beendete den Tag mit gutem Essen und einem grottenschlechten Science-Fiction Film in meinem ruhigen Hotelzimmer.

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77 Wayanad II

Früh morgens um fünf Uhr dreißig holte uns ein freundlicher Guide mit seinem Jeep im Hotel ab. Er erzählte, dass die Trips der letzten beiden Tage in den östlichen Teil des Naturrefugiums recht ergebnislos geblieben waren. Die Tierwelt hielt sich versteckt. Deshalb würde er uns heute in den nördlichen, entlegeneren Abschnitt bringen. Noch bevor wir den Eingang des Wayanad Sanctuarys erreichten, war es soweit. Wir stiegen bei noch spärlichem Licht aus dem Jeep und sahen unweit die Schatten einer ganzen Elefantenherde geisterhaft durch den Dschungel gleiten. Schön.

Die nächsten zwei Stunden zeigten uns viele freche Affen (drei verschiedene Arten), zahlreiche gepunktete Rehe (spotted deer), Rieseneichhörnchen, viele Pfaue und weitere Elefanten. An einer Stelle stand ein großer Elefantenbulle nur wenige Meter von unserem Jeep entfernt. Hier durften wir natürlich nicht aussteigen. An einer anderen Stelle kreuzte eine Elefantenkuh hinter uns die Straße. Tiger sahen wir keinen, wohl aber frische Tigerfußspuren im Sand neben der Straße. Vielleicht sah der Tiger uns. Jedenfalls lohnte sich mein Ausflug ins Wayanad Sanctuary sehr. Nach traditionellem Frühstück (idlis und sambar, what else? ) brachte uns der Guide (dessen Fähigkeit, in den hohen  Bäumen Eichhörnchen zu erspähen, unmenschlich gut ist) zu einer Insel im Fluss (Kuruva Island). Eine Fähre setzte uns über. Der Ort war voller wunderschöner Schmetterlinge, beschaulicher Wasserwege, Bambusbrücken und Schildern mit Zitaten zum Thema Umweltschutz. Vor der Fährfahrt muss ein jeder Besucher alle mitgebrachten Plastikverpackungen deklarieren. Für meine Wasserflasche galt es, Pfand zu hinterlegen und hernach, nachdem ich die Flasche noch vorweisen konnte, wieder einzukassieren. Kompliziert, doch scheinbar der einzige Weg den indischen Besuchern das Wegwerfen in der Natur auszutreiben.

Nach gutem Thali führte uns die Tour durch kleine Dörfer und vorbei an Kaffee- und Bananenplantagen. Wir sahen schöne Landschaften, noch mehr Rieseneichhörnchen und eine handtellergroße Spinne in ihrem Netz. Python und Kobra – beide hier heimisch – hielten sich verborgen.

Zurück in Kalpetta wartete ich eine mühselige Stunde lang an der Straße auf einen Bus nach Mysore. Wieder einmal trugen die meisten Busse keinen lateinischen Schriftzug. Ohne die Hilfe ein paar Einheimischer hätte ich wohl nie den richtigen erwischt. Zugfahren ist ja so viel einfacher.

Wir fuhren in den Spätnachmittag hinein, passierten die Grenze zwischen Kerala und Karnataka und erreichten nach Einbruch der Dunkelheit dann endlich Mysore. Schon vom Bus aus konnte ich einige strahlend leuchtende Kolonialgebäude erspähen. Schnell fand ich ein geeignetes Hotel in zentraler Lage und speiste wenig später im hervorragenden Parklane Hotel, wo es zur Abwechslung wieder einmal westliches Essen gab. Auf dem Weg sah man schon das Leuchten des großen Königspalastes, Hauptgrund für viele, Mysore auf ihre Reiseroute zu setzen.
Müde legte ich mich schlafen.

76 Wayanad I

Gefühlt war es eine der kürzesten Zugfahrten meines Lebens. Ich stieg ein, schlief ein, wachte zum Läuten meines Weckers auf und trat fünf Minuten später auf den Bahnsteig hinaus. So schnell vergehen sieben Stunden. Und die Reise ging weiter. Noch befand ich mich an der Küste in Kannur, einem Ort im nördlichen Kerala. Von hier nahm ich nun einen Bus und gelangte in die kühleren, höher gelegenen Gefilde des Wayanad Wildlife Sanctuary. Hier, in der grünen Grenzregion von Kerala, Tamil Nadu und Karnataka hat man die Gelegenheit Elefanten, Tiger und viele andere Tiere in freier Wildbahn zu erspähen. Höchste Erhebung der Gegend ist der Chembra Peak mit seinen 2100 Metern. Leider ist es verboten, ihn zu erklimmen. Ganz in der Nähe liegt der Ort Kalpetta. Hier suchte ich mir ein Hotel und arrangierte gemeinsam mit einem Kanadier und zwei Deutschen eine Jeeptour für den morgigen Tag.

Auf der Fahrt nach Kalpetta waren mir einmal mehr die vielen kommunistischen Wahlplakate aufgefallen. Es gibt wohl wenige Orte mit einer so hohen Dichte an Che Guevara Abbildungen. Man könnte fast meinen, er selbst würde hier für einen Sitz in der Lokalregierung kandidieren. Manche Poster zeigen einen hiesigen Politiker, hinter dessen linker Schulter Che Guevara verwegen in die Welt blickt. Hinter seiner rechten Schulter schwebt nicht minder verwegen das Abbild vom Friedensnobelpreisträgerin  Malala Yousafzai. Ich sah auch Poster, die Marx, Lenin, Guevara und Yousafzai zeigen. Was für eine Kombination!

Es gab an diesem Tag nicht mehr viel zu tun. Bei Tee und Zitronensoda (Bier war einmal mehr unauffindbar) plauderte ich mit anderen Reisenden und führte mir dann im gemütlichen Zimmer noch einen Film zu Gemüte.

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