85 Old Goa

Am frühen Vormittag verließ ich mein Hotel, ließ meinen Rucksack bei den freundlichen Herren der Gepäckaufbewahrung am Busbahnhof von Panaji und nahm den nächsten Bus nach Alt-Goa. Der Ort war gänzlich anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bevor die Hauptstadt Goas zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Panaji verlegt wurde, war Alt-Goa eine blühende Metropole gewesen. Vom späten 16. bis frühen 18. Jahrhundert hatte dieses „Rom des Ostens“ sogar mehr Einwohner als das damalige London und Lissabon. Neben anderen Ursachen waren es anscheinend Malaria und Cholera, die im 18. Jahrhundert einen abrupten Niedergang bewirkten.

Ich hatte damit gerechnet ein beschauliches Gassengewirr alter Wohnhäuser vorzufinden, ähnlich dem in Panaji. Dem war nicht so. Übrig geblieben sind wirklich nur die steinernen Kirchen, Kapellen und Klöster. Man hat nicht das Gefühl in einer einstigen Metropole zu sein, vielmehr in einem großen, grünen Park voller Kirchen. In der belebtesten Straße stehen Verkaufsstände dicht an dicht. Im Angebot sind christliche Souvenirs, T-Shirts mit Bob Marley und Konsorten, CDs, „heiliges“ Wunderöl, das alle Schmerzen verjagte, etc. Aus manchen Läden dringt laut Raggy, aus anderen Kirchenmusik. Am Imbisstand, wo ich ein indisches Frühstück aß, spielte man Jingle Bells. Passt irgendwie nicht zu Palmen und dreißig Grad plus.

Als erstes besuchte ich die Kathedrale von Sé, welche anscheinend nicht nur die größte Kirche Indiens, sondern die größte Kirche Asiens ist. Im Glockenturm schwingt zudem auch die größte Glocke Asiens. Bei all diesen Superlativen ist die Kirche innen und außen jedoch erstaunlich unbeeindruckend.

Ich war anscheinend zur richtigen Zeit hier. Für den Zeitraum November bis Januar hatte man nämlich die Überreste von Goas „Nationalheiligem“ Franz-Xaver aus seiner Gruft in der Basilica nebenan hervorgeholt und stellte sie nun vor dem Altar in der Sé Kathedrale aus. Erstaunlich waren die ausufernden Sicherheitsvorkehrungen und der riesige zum Schlangestehen eingegrenzte Bereich. So etwas sah ich bisher nur in Disneyland. Da es der frühe Morgen eines Wochentages war, hielt sich der Ansturm noch in Grenzen. Dennoch kamen auch an Wochentagen  Tausende und an Wochenenden Zehntausende Menschen hierher um den mumifizierten Leichnam von Franz-Xaver zu sehen. Nach doppelter Sicherheitskontrolle (Waffen, Feuerzeuge und Zigaretten müssen draußen bleiben) gelangt man vorbei an schwer bewaffneter Polizei in den Altarbereich. Hier liegen die Reste des vor fünfhundert Jahren so aktiven Mannes aus Navarra. Die Gläubigen werden links und rechts des gläsernen Sarkophags vorbeigelotst und habe gerade genug Zeit um das mumifizierte Gesicht zu betrachten und das Glas des Sarkophags zu küssen. Irgendwie widerlich. Nicht der Leichnam, sondern das Glas. Bei tausenden Küssen täglich werden wohl einige Krankheitserreger ausgetauscht. Jedenfalls war es für mich interessant zu sehen, wie gut der Leichnam erhalten war, ganz ähnlich den schönen Moorleichen in Dublins naturhistorischem Museum, die ich vergangenen April ein zweites Mal bewundern durfte.

Unweigerlich erfuhr ich im Laufe des Tages einiges über das Leben von Franz-Xaver. Der aus Navarra stammende Adelige führte Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nach seinem Studium in Paris ein recht weltliches Leben, schloss sich dann aber doch einem strengen katholischen Orden an, der vor allem die Reformation rund um Luther bekämpfen wollte. Franz-Xaver reiste nicht nur nach Goa, wo er fleißig Einheimische konvertierte, er gelangte auch nach Sumatra und sogar bis nach Japan. Gestorben ist er im Alter von nur sechsundvierzig Jahren auf einer chinesischen Insel. Von dort wurde sein Körper dann zurück nach Goa gebracht. Vor seinem Tod hat Franz-Xaver natürlich auch eine ganze Reihe von Wundern vollbracht. Ein Highlight ist diese schöne Geschichte: Franz-Xaver befindet sich auf einem Schiff, das in einen wilden Sturm gerät. Die Seeleute fürchten um ihr Leben. Doch Franz-Xaver weiß, was zu tun ist. Er wirft sein liebgewonnenes Kruzifix in die Fluten und siehe da: der Sturm legt sich. Das Meer wird friedlich. Wieder an Land ist Franz-Xaver traurig ob des Verlusts des Kruzifixes. Betrübt steht er am Strand. Da kommt eine Krabbe auf ihn zu gekrabbelt. Und in einer ihrer Scheren hält sich doch tatsächlich das ins Meer geworfene und verloren geglaubte Kruzifix. Halleluja.

Bei all den netten Geschichten vergessen wohl viele die wahre Geschichte der portugiesischen Inquisition. Wie vielen dieser Gläubigen, die hier vor lauter Demut am liebsten stundenlang Franz-Xavers Sarg küssen würden, ist wohl bewusst, welch menschenfeindliche Schreckensherrschaft die fanatischen Katholiken Portugals hier im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausübten? Voltaire war einer von wenigen Schriftstellern, die dies damals schon thematisierten. Ich erinnere mich noch gut an seine Erzählung „Les lettres d’Amabed“, in der ein armer indischer Prinz in die Fänge der hiesigen Portogiesen gerät. Zwangskonversionen, Folter und Vertreibung richteten sich aber nicht nur gegen die hinduistische Bevölkerung. Auch sämtliche Juden, die sich schon früh hier angesiedelt hatten, wurden von der Inquisition gepeinigt. Pikanterweise richtete sie sich auch gegen Christen. Anfangs waren Vasco da Gama und andere portugiesische Eroberer noch erfreut gewesen im neuentdeckten Land bereits christliche Gemeinden vorzufinden. (Das Christentum in Indien geht vielleicht bis auf den Apostel Thomas zurück, den es schon im ersten Jahrhundert hierher verschlug.) Nur waren die zur Zeit der Ankunft der Portugiesen hier lebenden Christen halt leider die falschen Christen, nämlich syrisch-orthodoxe und nicht papsthörige Katholiken. Das ging natürlich nicht. Also mussten auch sie zum Verbrennen ihrer Bücher und zum Abschwören ihres falschen Christentums gezwungen werden. Jahrhundertelang wurde hier im Namen des Christentums gefoltert und gemordet. All dies nur zu gern vergessend kommen aber Tausende täglich hierher und küssen den Sarg des freundlichen Heiligen mit der Krabbe.

Die Kathedrale von Sé ist nur eine von vielen imposanten Gotteshäusern Alt-Goas. Gleich daneben steht die Franz von Assisi Kirche, deren Inneres sehr beeindruckend ist. Vor der weitläufigen Bom Jesus Basilika, die ausnahmsweise einmal nicht weiß sondern rötlich ist, fand eben eine große Freiluftmesse in englischer Sprache mit hunderten Besuchern statt. Ich schlich mich daran vorbei um im Inneren der Basilika jene prunkvolle Kapelle zu sehen, in der Franz-Xaver normalerweise liegt. Dass er gerade nicht da war, schien nicht weiter zu stören. Die Gläubigen standen trotzdem Schlange um ihre Lippen auf den Stein des Altars zu pressen. Ich sah einem Mann dabei zu, wie er in voller Demut einen Holzbalken küsste. Dieser war eigentlich nur Teil des Gerüsts, welches das in Renovierung befindliche Kapellendach stütze. Faszinierend.
Ebenfalls in der Bom Jesus Basilika befindet sich ein besonders blutiges Kruzifix (siehe Foto).

Ich besuchte außerdem die Kirche Sankt Cayetan, die Kapelle Sankt Katharina und noch einige mehr. Sehenswert sind auch, das Archäologische Museum, das Museum Christlicher Kunst und ein paar andere kleinere Ausstellungen. Durch einen kleinen Triumphbogen hindurch erreichte ich schließlich noch das eher unspektakuläre des Mandovi Flusses.

Genug Christentum für heute. Ich nahm den Bus zurück nach Panaji. Da noch Zeit bleibt besuchte ich dort noch das Goa State Museum. Am interessantesten fand ich dort die Ausstellung zu Goas Freiheitskampf. Erst 1961 zwang das indische Militär die Portugiesen zum Abschied. Die Geschichte dieses kurzen Krieges, sowie das meist tragische Schicksal früherer Freiheitskämpfer wurde hier in Bildern und Dokumenten erzählt.

Schließlich hieß es Abschied nehmen von Goa. Ich nahm den Bus nach Margao, warf im Vorübergehenden noch einen Blick auf die dortige Heilig Geist Kirche und stieg am Bahnhof in mein geräumiges Erste Klasse Abteil.

Normalerweise reise ich ja nie erste Klasse und nur selten zweite. Hier in Indien genügt mir die dritte Klasse (=Sleeper) vollauf. Doch da für diesen Zug alles andere als erste Klasse schon ausgebucht gewesen war, hatte ich keine Wahl gehabt. Natürlich war der Komfort ein ganz anderer. Der Kellner, der das Abendessen serviert und Tee und Snacks bringt, war sehr freundlich. Das Bett war zehnmal angenehmer, als in den billigeren Klassen.
Man schläft gut mit dem Gedanken ein, dass das Bahnhofsgebäude, in das man am Morgen einfahren wird, auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO steht.

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