82 Palolem I

Von Goas größtem Bahnhof in Madgaon nahm ich mir einen Bus nach Süden und gelangte binnen einer Stunde an den südlichen Traumstrand von Palolem.

Im Unterschied zu Varkala gibt es hier kaum Wellen. Das Meer liegt fast so ruhig da wie ein See. Doch es ist wunderschön. Ein dichter Palmenwald begrenzt den Strand. Die Bäume ragen teils weit über den Sand als streckten sie sich dem Wasser entgegen. Im Norden ragt der bewaldete Hügel einer Halbinsel, die bei Flut zur Insel wird, ins Meer hinaus. Direkt am Strand unter den Palmen gibt es viele gute Restaurants und kleine Bungalows zum Wohnen. In eines davon zog ich nun ein.

Während das Baden im Meer hier zwar schön aber mangels Wellen auch recht eintönig ist, lohnt ein Spaziergang entlang der Küste nach Norden. Nahe der Halbinsel findet man viele verschiedene Krebse von Fingernagel- bis Handtellergröße. Schön ist der Blick auf das Meer, auf die Palmen und die grünen Hügel dahinter. Der Strand von Palolem ist eine Art Manifestation der Paradiesvorstellungen der Menschen in den Städten des Nordens.

Aufgrund der ruhigen See kann man gefahrlos weit hinausschwimmen. Man kann sich aber auch ein Kayak nehmen und damit allein auf weitem Wasser ins Meer hinaus paddeln. Letzteres tat ich. Im sanften Licht des Spätnachmittags lenkte ich mein Kayak entlang des goldenen Pfads der im Wasser gespiegelten Sonne. In einem weiten Bogen umrundete ich die Halbinsel im Norden und erreichte die Bucht jenseits davon. Eine Stunde lang ließ ich mich dort treiben und hielt Auschau nach Delfinen. Ihr Erscheinen würde diesen schönen Tag noch schöner machen. Die Zeit verging. Indes wurde die Sonne stets rötlicher und das Meer silbriger. Leicht enttäuscht ob des Ausbleibens der Delfine paddelte ich schließlich zurück auf die andere Seite der Halbinsel. Und dann sah ich sie plötzlich kommen. Drei silbrige Körper glitten durchs Wasser und sprangen im fröhlichen Spiel gelegentlich zur Gänze über die Oberfläche. Sie kamen mir entgegen, tauchten unter mir hindurch. Ich folgte ihnen, kam ihnen sehr nahe. Einmal sprang einer nur etwa fünf Meter neben mir in die Höhe. Wundervolle Kreaturen. Zum letzte Mal Delfine gesehen (viel ferner jedoch) habe ich erst letzten Februar am Point Lobos nahe Monterey, California, in einer ganz anderen Ecke der Welt unter gänzlich anderen Umständen. Das Gefühl der großen Freiheit war aber beide Mal gegenwärtig.

Unsagbar schön war auch der Sonnenuntergang. Immer noch in meinem Kayak treibe sah ich die große, feuerrote Scheibe in die Wellen tauchen. Und die Welt ward silberblau. Kurz sah ich noch einen vierten, eisamen Delfin. Dann paddelte ich endgültig zurück ans Ufer. Am Abend  werden dort Feuer angezündet. Manche Lokale stellen ihre Holztische und gemütlichen Stühle bis ans Wasser.

Stunden nach der Kayaktour saß ich euphorischen Gemüts am kerzenerleuchteten Strand und hob mein Whiskyglas dem Meer entgegen. To life. L’chaim. Auf das Leben. Heute war mein neunundzwanzigster Geburtstag. Und ich wusste, wo ich vor genau zehn Jahren gewesen bin. In einem kalten, kargen Bundesheerbunker an der ungarischen Grenze nahe Nickelsdorf. Ich steckte Pin-Nadeln, die die einzelnen Truppen markierten, in die Karte des Grenzverlaufs und funkte „Ramses 10 an Ramses 100, kommen.“ Im Hintergrund lief Radio Burgenland. Ein anderer Mensch in einer anderen Welt.
Runde Geburtstage sind nicht so wichtig. Viel interessanter sind jene in Zeiten des Unbruchs, also jener vor zehn Jahren im militärischen Niemandsland zwischen Schule und Studium, und jener heute im verdienten Atemzug zwischen Doktorat und Fragezeichen. Jetzt war die Zeit, um beim Anblick des Meeres Rückschau zu halten auf diesen wilden Ritt der letzten zehn Jahre. Das Meer ging mir auch damals durch den Kopf, schrieb ich doch in jenen kalten Burgenlandwochen ein paar der frühen Kapitel von „Auf See“. Und jetzt war ich hier an Indiens westlicher Küste. Die Gedanken schweifen über zehn bunte Jahre, über Philosophieseminare und Physikpraktika, über Gedichte, Romane und Theaterstücke, über Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen und Tränen im Publikum. Über Menschen und Geschichten. Über tausend Erfahrungen und Bereicherungen. Über viele schöne Reisen und noch schönere Reisen im Geiste. Über Unvergessliches und manchmal auch gerne Vergessenes. Über Sterne und Bühnen. Über zehn Jahre in all ihrem unwiederholbaren, unwiederbringlichem Facettenreichtum. So heben wir das Glas dem Meer entgegen und sagen uns: Wohlan, die nächsten zehn Jahre können kommen. Und wo auch immer ich heute in zehn Jahren sein würde, an diesen Moment, an dieses Meer und diesen Strand und dieses Mondlicht zwischen den Palmen würde ich denken müssen.

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