Die Fernwanderung des vergangenen Sommers

Es ist fertig, das jüngste und elfte Buch in meiner Serie „Es muss nicht immer Jakob sein!“
Darin schildere ich auf über 300 Seiten die Eindrücke und Erlebnisse meiner 500 km weiten Wanderung durch das nordostungarische Berg- und Hügelland im Sommer 2020. Es ist dies ein weiteres Teilstück auf meiner langen Reise am Europäischen Fernwanderweg E4, von dessen 10.000 km langem Verlauf ich nun schon mehr als ein Drittel bewältigt haben.

Dieses neue Buch ist weit umfangreicher als die bisherigen Etappenberichte geworden, habe ich doch immer wieder auch Episoden aus der Historie der durchschrittenen Dörfer und Landstriche in die Wegbeschreibungen einfließen lassen. Außerdem ist das Buch so reich an Farbfotografien, dass man es fast als Bildband bezeichnen könnte.

Ich schreibe diese Bücher in erster Linie für mich selbst, um mich der Erinnerungen an meine Fernwanderreisen auch später im Leben noch mit vielen Details und Farben zu erfreuen. Dass meine Wanderberichte in der Vergangenheit auf reges Interesse in der deutschsprachigen Fernwander-Community gestoßen sind, ist natürlich sehr schön. Es gibt nicht viel Literatur zum Europäischen Fernwanderweg 4. Hier füllen diese Bücher wohl eine Lücke aus, die schon viel zu lange besteht.

Wer meine Erzählungen mag, wer gerne etwas über die schönen Landschaften und Bilderbuchdörfer des nordöstlichen Ungarns lernen möchte, wer sich fürs Fernwandern interessiert oder einfach nur ein paar Anekdoten vom Wegesrand hören möchte, hat an diesem Büchlein wohl seine Freude. Von Budapest geht es ans Donauknie und weiter über die Berge von Börzsöny, Mátra und Bükk hinab zum höhlenreichen Land von Aggtelek und durch die Hernád-Senke über die Zémplen-Berge nach Sátoraljaújhely. Ich freue mich schon aufs Weitergehen.

Hier ein Überblick über all meine Bücher zum Europäischen Fernwanderweg E4.

Hier der Link zur billigen Schwarzweißversion.

Hier der Link zur schönen Version in Farbe.

Und hier der Link zum E-Book.

Indien und Nepal

Die bisher längste Reise meines Lebens, mit welcher ich mich im Anschluss an meine Promotion im August 2014 belohnte, führte mich vier Monate lang durch Nepal und Indien. Was habe ich dort nicht alles erlebt … Unvergessliche Momente. Ich erinnere mich an das lebendige Chaos vieler Großstädte, an die weißen Felsriesen des Himalaya, an den Dschungel, an die Große Thar-Wüste, an wunderbare Küsten und Meere, an tausend Tempel, an bunte Menschen – und an viele abenteuerliche Zugfahrten.

Meine Route – Quelle: Google Earth

Hier die Worte und Bilder, die ich damals im Laufe der Reise ins Netz stellte:

Hinflug

Wie schon auf so vielen Flügen bot mir das Fenster neben mir weitaus Interessanteres als der Multimedia-Screen vor mir. Dieser wundersame Wechsel der Welten… Mitteleuropa war unter Wolken versteckt. Nur hin und wieder erhaschte man Blicke auf dicht besiedelten Raum. Über Bulgarien wurde es klarer. Ich sah ein endloses Meer rechteckiger Felder, gelegentlich auch kleine Dörfer und vereinzelte Windräder. Auch die Donau sah ich dort. Recht unscheinbar fließt sie durch flaches Land. Dann kam die Schwarzmeerküste und bald darauf das zerklüftete, felsige Terrain der Türkei. Menschenleere, dünn besiedelte Weiten, schroffe Felsformationen und schließlich der Tigris und die großen Seen im Südosten. Deutlich sieht man am Verlauf der Flugstrecke, dass auch die Airline eines islamischen Staates einen Bogen macht, um Syrien und die IS kontrollierten Gebiete des Iraks nicht überfliegen zu müssen. Entlang den dünnbesiedelten Gebirgszügen des irak-iranischen Grenzgebiets sieht man kaum Anzeichen von Zivilisation. Ausgetrocknete Seen,  winzige Siedlungen, ein weit verzweigtes Bachbett. Der Abend kam. In der Dämmerung sah ich weit unter mir das Licht eines Lagerfeuers am Berg. Was für Geschichten man sich dort wohl erzählt? Nun sehe ich eben die Küste des persischen Golfs, erhellt vom Licht einiger Küstenstädte. Am anderen Ufer liegt Abu Dhabi. Bald beginnt der Landeanflug. Ein letzter Lichtstreif erinnert an die Sonne. Wenn ich sie wieder aufgehen sehe, bin ich längst in Indien.

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Tag 1 – Delhi I

Die Ankunft in Delhi war bunt und aufregend. Als einziger Nicht-Inder im übervollen Bus bin ich vom Flughafen aus durch das Chaos der Straßen gefahren. Händler verkaufen im Sonnenaufgang an den Sraßenrändern Zitronen. Der Mann aus Punjab neben erzählte von seiner Heimat. Ich sah ärmliche Bauten, prunkvolle Fassaden, begrünte Straßen,  das rote Fort. Im dichtesten Tunmult von Alt-Delhi stieg ich dann aus, bahnte mir einen Weg vorbei an Obstverkäufern und aufdringlichen Rikshafahrern. Vor mir erhob sich schon die Jama Masjid – und gleich gegenüber mein Hotel. Hier lieg ich nun und schreibe diese Zeilen.

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Eben hab ich mich ganze zwei Stunden lang am Vorplatz der Jama Masjid mit Satish Solanki (siehe Link) unterhalten.
Unglaublich, was der Mensch für ein Allgemeinwissen hat. Voller Ratschläge, wie man als Reisender hier überleben kann, ist er auch. Aussehen tut der Mann wie Gandhi. War nett.

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Delhi ist einer der extremsten Orte, die ich je gesehen habe. Nirgendwo wird man der grassierenden Überbevölkerung so gewahr, wie in den engen Straßen von Alt- Delhi. Dort ist alles so voll Menschen und Rikshas, dass es kaum mehr ein Weiterkommen gibt. Ein Mann aus Uttar Pradesh zeigte mir das Viertel. Ich ließ mich drei Stunden lang durch das Gewirr führen und erfuhr einige interessierte Geschichten. In manch ein verfallenes Gebäude konnte man eindringen. Verfallene Prachtbauten, die bis zu fünfhundert Jahre alt sind, bröckeln vor sich hin. Doch auch die schäbigste Ruine ist noch bewohnt- nicht nur von Menschen. Überall sieht man streunende Hunde, Katzen, Ratten und auch Affen, die fröhlich über Dächer springen und mit alten Glocken der Kolonialzeit schaukeln und spielen. An einer Stelle zwang die schmale Gasse zur Umkehr, da sich ein Haus gerade im Einsturz befand. Ein durchaus häufiges Ereignis – wie man mir sagte. Schön war der Blick ins Abendrot von den Dächern der Fatehpur Masjid. Der Mann aus Uttar Pradesh hatte nicht nur viel Geschichte auf Lager, sondern lehrte mir auch das richtige Feilschverhalten
mit Rikshafahrern. Legendär war auch der schrullige Gewürzhändler am Basar, der nur mit Gesten und Blicken verständlich machte, wie wichtig es sei, immer doppelt nachzuzählen, wenn man einen Tausender in zehn Hunderter wechselt.
Auf der Riksha durchs nächtliche Delhi
fahrend gelangte ich schließlich zurück zum Hotel und gönne mir nun den wunderbaren Komfort eines Glases kalten, sauberen Wassers in einem Zimmer.

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Tag 2 – Delhi II

Ein … Tag, zu dem mir das rechte Adjektiv fehlt. Das meiste davon stand im Zeichen Gandhis. Leider blieb mir der Besuch des Ortes, an dem sein Körper verbrannt wurde, verwehrt. Die beachtliche Polizeipräsenz und die Bomb Removal Squads ließen schon darauf schließen, dass etwas im Gange war. Vor den Toren der Gedenkstätte brachte ich in Erfahrung, dass eine chinesische Polit-Delegation den Ort besuchen wollte. Schade. Morgen oder übermorgen hoffe ich zumindest den Ort seines Todes zu besuchen. Dennoch bekam ich heute viel von Gandhi zu sehen. Zwei Museen in der Nähe erzählen seine Geschicte, beide sehenswert. Besser fand ich das Unklimatisierte, in dem ich allein auf weiter Flur war. Dort werden nicht nur Bilder und Sandalen gezeigt, dort wird Geschichte erzählt. Es war interessant zu sehen, welche Aspekte Richard Attenboroughs Film aufgreift und das Museum verschweigt und vice versa. Ich lernte auch viel Neues. Beeindruckend waren vor allem die Kopien von Gandhis Briefen (etwa an seien verehrten Leo Tolstoi, aber auch z.B. an Hitler, den er – wie damals jeden – als „Dear friend “ adressiert und versucht ihn davon abzubringen, den Weltkrieg zu beginnen. Faszinierend sind auch die vielen Fotografien, die Gandhi gemeinsam mit Größen der Kunst wie Chaplin oder Rabindranath Tagore zeigen. In seinen vielen Zeitungsartikeln fand ich auch einige Punkte, in denen ich ganz anderer Meinung bin als Gandhi. Seine radikal ablehnende Haltung zu Verhütung ist einfach nur traurig.
Sehr ärgerlich war mein Besuch beim Feroz Shah Kotla. Mangels Kleingeld wurde mir der Eintritt verwehrt – und das nach langem Anmarsch in der Mittagshitze. Der Mann an der Kasse konnte – umgerechnet in Euro – bei einem Eintrittspreis von €1 keinen €10 Schein wechseln. Ein Zeichen dafür wie wenige nichtindische Besucher ihren Weg dorthin finden. Ich tröstete mich beim Betrachten der niedlichen Streifenhörnchen im nahegelegenen Park.
Von der Ruine entschied ich mich bis zum Connaught Place, dem alten kolonialen Herz der Stadt zu marschieren. Der abenteurtliche Weg zeigte mir viel Schmutz und Elend. Wie voll von Menschen hier alles ist.
Connaught place ist im Vergleich zu Alt-Delhi eine andere Welt. Hier pochte das Herz von British India. Geometrisch und voluminös ist die Struktur der Straßen und Gebäude. Bars, Bookshops und andere Einrichtungen säumen die weiten Arkaden. Eine der beeindruckendsten Bauten am Connaught place ist das vom Mogulenkönig Jai Singh ll erbaute Jantar Mantar. Es ist dies ein astronomisches Beobachtugszentrum sonder gleichen. Eine dreißig Meter hohe Sonnenuhr, deren Zeiger und Skala aus Stein gefertigt sind, und andere Bauten, die ebenfalls mit Licht und Schatten spielen, erlauben die Messung einer ganzen Reihe von Beobachtungsgrößen.
Im Zentrum des Platzes weht eine riesige Nationalflagge im Wind. Eine Weile lang lag ich unter ihr im Gras und betrachtete das Spiel des Windes, der vielfältige Strukturen in den Stoff zeichnete. Ashokas Rad verschwand stets kurz und kehrte wieder. Per Riksha fuhr ich weiter zum roten Fort.

Inzwischen bin ich recht geübt geworden im Abwimmeln diverser Typen, die einem alles mögliche andrehen wollen: Socken, Uhren, Haschisch, Radietapparate, Zitronen, 32Gb USB- Sticks, riesenhafte Luftballons etc. Alle zwei Monaten wird einem dies und dergleichen mehr unter die Nase gehalten. Der beste Trick ist, glaubhaft zu vermitteln, dass man schon Monate im Land sei und wisse, wie der Hase läuft.

Nun sitze ich eben auf einer dunklen Bank im nächtlichen Fort und warte auf den Beginn der vielgepriesenen Sound & Light Show.

Die Light Show erzählt von der Geschichte der einstigen Mogulenhaupstadt und beleuchtet dabei die schönen Bauten des roten Forts. Selbst bei der englischen Version war ich fast der einzige Nichtinder. Am Ende erhoben sich alle zur Nationalhymne. Per Riksha durch die immer noch vollen Straßen der Nacht gings zurück zum Hotel.

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Tag 3 – Delhi III

Heute sah ich ein ganz anderes Delhi, nämlich Neu-Delhi. Breite, begrünte Alleen, Burgersteige, ja gelegentlich sogar Fußgängerampeln. Sehr beieindruckend ist der riesige Rajpath, der Königsweg. Es ist dies eine an die drei km lange Prachtstraße, die nicht nur sehr grün, sondern sehr wasserreich ist. Brunnen und Becken rahmen die Straße ein. Am östlichen Ende thront der 42m hoch aufragende Triumphbogen India Gate. Am westlichen Ende erheben sich die verschnörkelten Prunkbauten der indischen Regierung. Wow. Das ganze kann an Monumentalität durchaus mit den Champs-Élysées oder dem Parlamentsgebäuden in London mithalten. Erbaut wurde all dies zwischen 1914 und 1931 von den Briten, die nur sechzehn Jahre später das Feld räumen mussten.
Sehenswert war auch das Nationalmuseum, vor allem die vielen Relikte der jahrtausendealten Harappa- Kultur, sowie die Masken aus Indiens wildem Nordosten. Weiter ging es entlang von Alleen in Richtung Gandhi Smriti. Dort verbrachte er die letzten 144 Tage seines Lebens, dort wurde er erschossen. Die Ausstellung ist gratis, multimedial und mit viel Liebe zum Detail gemacht. Steinerne Fußabdrücke am Boden markieren die letzten Schritte des Mahatmas.
Die Rikshafahrer ignorierend ging ich zu Fuß weiter bis zum Lodi Garden, einem der beschaulichsten Orte des Tages. Zwischen Bäumen und Teichen ragen hier die imposanten Mausoleen einiger Herrscher des 16. Jahrhunderts auf. Außerdem scheint der Ort ein beliebter Treffpunkt indischer Pärchen zu sein, die sich im Schatten der Bäume und Ruinen vor den Augen der sittenstrengen Parkwächter verstecken. Wenn zwei sich küssen, kommt der Wächter wütend pfeifend angerannt.
Vom Park aus ging ich bei hereinbrechender Dunkelheit zum India gate und über den Rajpath zurück in die überrasche moderne, komfortable und saubere Metro, dich mich zurück ins Chaos von Alt-Delhi brachte.

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Tag 4 – Delhi IV

Ein sehr heißer Tag. Nach langer Metrofahrt erreichte ich den Komplex von Qutb Minar weit im Süden der Stadt. Der 73 m hohe Turm ist wirklich beachtlich, die umliegenden Bauten und Ruinen sind es ebenso. Inmitten der einstigen Moschee unterhalb des Minar steht auch die um einige Jahrhunderte ältere Eisensäule, welche Vishnu geweiht ist. Im Westen kennt man sie hauptsächlich aufgrund der Fantastereien von Erich van Däniken und anderer Verschwörungstheoretiker, die – obwohl es längst eine wissenschaftliche Erklärung gibt – nicht aufhören zu behaupten, dass die Säule auf magische Weise nicht roste. Der Grund hierfür sei ihr außerirdischer Ursprung. In Wahrheit ist die Säule irdisch und stammt aus dem dritten Jahrhundert – was den Besucher dennoch nicht hindern sollte, staunend vor ihr zu stehen. Der hohe Minar daneben mit seinen kunstvollen Verzierungen (angeblich der höchste Ziegelturm der Welt) ist aber ungleich imposanter. Sehr amüsant und informativ ist der AudioGuide des Qutb Minar Komplexes. Nett wie sich der alte Sahib und das Mädchen aus der Nachbarschaft mit den Königen untergeganger Reiche unterhalten.
Als nächstes gelangte auf Irrwegen zum Hauz Khas. Ursprünglich war dies ein riesiges Wasserreservoir, an dessen Ufer irgendein Sultan eine theologische Universität errichten ließ. See und Ruine sind immer noch da. Angrenzend hat sich aber eine kleines Viertel mit Antiquitäten- und
Kunsthandwerksläden entwickelt. Es gibt aber auch zahlreiche Bars und Restaurants. In seiner Gesamtheit ist der Ort zum Domizil für die junge, wohlhabende Einwohnerschaft geworden, die in trauter Zweisamkeit die Stille der Ruinen such oder in fröhlicher Geselligkeit die Bars besucht und grässliche Technomusik hört. Man tanzt und kreischt im dunklen Gewölbe. Dabei ist es erst drei Uhr Nachmittags. Auf den zwei Flatscreens lief eben noch stumm zum Techno „Herr der Ringe 2“ . Irgendwie bizarr.

Nun läuft ein Cricket-Spiel, dessen Regeln ich zu ergründen suche. Hm. Einer schlägt mit dem Brett einen Ball ins jubelnde Publikum. Nun blicken alle recht depressiv vor sich hin. Ich bin der einzige Nichtinder hier. Das Essen war super. Als Vorspeise Falafel mit Minzsauce,  nun ein köstlicher Linsenschleim mit Nan.  Endlich eine bekannte Melodie. „There’s a collider under Geneva “ (Insider). Wie es aussieht ist die pinke Mannschaft am Gewinnen.
Auf der Heimfahrt erlebte ich die Metro zum ersten Mal zur Stoßzeit. Es ist einfach brutal. An jeder Tür sind zwei Polizisten stationiert die bei Einfahrt des Zuges erst einmal einen Korridor schaffen, durch den die aussteigenden Fahrgäste entkommen können. Das klappte nur bedingt, weil die letzten schon wieder von den ersten Einsteigenden überrannt wurden – mitunter von mir. Nicht dass ich eine Wahl gehabt hätte. Der Druck von hinter mir war zu Gruß. Wie eine Flut drängen die Menschen aller Altersgruppen in den Wagen. Man steigt sich auf die Füße schlägt mit dem Ellbogen in Gesichter. Und wenn alles voll ist drängen noch mehr Menschen nach bis man an allen Seiten so dicht an die Umstehenden gepresst wird, dass es schon weh tut. So steht man dann endlose minutenlang da – bis bei der nächsten Station das Gedränge wieder von vorne losgeht. Und erst der Kampf ums Aussteigen … Das Konzept Metro versagt angesichts dieser Menschenmassen.

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Tag 5 – Delhi V

Heute besuchte ich das Grab des Humayun – ein riesiges, wunderschönes Mausoleum, das wohl nur noch vom Taj Mahal übertroffen wird, aber fast genauso schön ist. Umgeben ist der Bau von einer weitläufigen Parkanlage, die der Lärm der Straßen nicht zu überbrücken vermag. Zum ersten Mal seit ich in Delhi bin, ist es still. Nur gelegentlich hört man das Pfeifen einer Lokomotive auf der nahen Bahnstrecke. Morgen Abend werde auch in einen Zug steigen. Im Park rund um Humayuns Grab stößt man auch auf andere Mausoleen, etwa das seines Lieblingsbarbiers. Ein schöner Ort, um im Schatten von Bäumen und Gräbern zu sitzen, die Hitze zu genießen, den Vögeln zu lauschen und Rabindranath Tagore zu lesen.

Ein Erlebnis der besonderes Art war der anschließende Besuch des Sufi-Heiligtums Hazrat Nizam-ud-din Daragh. Im engen Gassengewirr eines Basars findet man nach ein bisschen Suche das versteckte Eingangstor. Kaum hatte ich mir die Sandalen ausgezogen, bekam ich auch schon einen Teller Rosenblüten in die Hand und eine Sufi-Kappe auf den Kopf gedrückt. Im Pilgerstrom folgte ich den anderen durch enge Korridore an dessen Seiten arme Menschen, denen Arme oder Beine fehlten.

um Gaben bitteten. Einer hatte am ganzen Körper kugelartige Geschwüre, ein anderer ans
cheinend gar Lepra. An mancher Ecke gab es die Möglichkeit weitere Opfergaben – den Teller Rosenblüten trug ich ja schon mit mir rum – zu erwerben, etwa irgendwelche bunten Tücher, etc. Nach Minuten in elendgefüllten Korridoren erreichte man schließlich das Zentrum der Heiligstätte. Auf einem marmorbefließten Innenhof erhebt sich das wunderschöne Mausoleum des Hazrat Nizam-ud-din. Darum herum und darin sangen und beteten die Pilger. Während ich noch grübelte, was ich jetzt hier mit meinen Rosenblüten anfangen sollte, kam ein Alter Sufi auf mich zu. Er begrüßte mich freundlich und nahm sich – nachdem ich nochmals meine Handfläche darauf legen musste – der Rosenblüten an, indem er sie in die innere Kammer trug. Ein anderer Sufi erkundigte sich nach meiner Herkunft und wollte, als ich Austria sagte, die korrekte Aussprache von Zell am See wissen. Hä?

Ich kostete noch ein wenig die Atmosphäre aus und suchte dann das Weite.

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Tag 6 – Nach Osten

Nach der fünften Nacht verließ ich mein inzwischen lieb gewonnenes Hotelzimmer und ließ mich von einer Autoriksha zur New Delhi Railway Station bringen. Auf dem sah in den Straßen Alt-Delhis eine Menschenmenge, die sich um einen Seiltänzer versammelt hatte. Der Mann hatte einen riesigen aufgemalten Schnurrbart im Gesicht und balancierte mit einem Holstab in der Hand auf einem in etwa drei Metern Höhe gespannten Seil. Die Szenerie erinnerte mich sehr an Nietzsche und Also sprach Zarathustra. Ich war viel zu früh am Bahnhof, aber an Sehenswürdigkeiten hatte ich schon alles gesehen, was mich interessierte. Eine Weile lang genoss ich die bunte Bahnhofsatmosphäre. An einer Säule gelehnt am Boden sitzend betrachtete ich das rege Treiben von Reisenden aus dem ganzen Subkontinent. Kaum wo (vielleicht nirgendwo) sind die Menschen so bunt wie in Indien. Menschen aller Altersgruppen, vieler verschiedener Religionen, aller Bezirke Indiens liefen an mir vorüber oder saßen wartend um mich am Boden. Manche trugen eher moderne Kleidung, andere wirkten sehr traditionell. Frauen mit extrem farbenfrohen Kleidern und offenem Haar, Frauen in Ganzkörperburka, junge Männer mit Anzug, Krawatte und glattgegelten Haaren, Greise mit langem Bart und rotgefärbten Haar – die Kontraste sind einmalig. Gelegentlich warf ich einen Blick auf die Anzeigetafel, die Züge in alle Teile des Landes ankündigte: nach Amritsar, Mumbai, an die Adaman Küste. Durch ein Gitter hindurch, sah ich die Züge kommen und gehen. Mein Zug stand noch nicht auf der Anzeige.
Es blieb noch Zeit. Ich folgte einer Lonely Planet Empfehlung und suchte Sam‘ s Cafe auf . Hier sitze ich nun im kühlen Raum, schlürfe Lassi und habe gute Aussicht auf das Treiben in den Straßen unter mir. Schräg gegenüber ist ein kleiner Ganesha-Schrein. Eine Maus klettert auf Ganesha herum und sucht nach Essbarem.

Endlich sitze ich im Zug. Durch meinen Fensterschlitz sehe ich den roten Feuer Ball der untergehenden Sonne während wir den breiten Yamunastrom uberqueren. Wie breit wird erst der Ganges sein? Mit Musik in den Ohren ist alles gleich doppelt schön. Yann Tiersen und der Yamunastrom. In Delhi sah ich am Weg zurück zum Bahnhof noch einen farbenfrohen Umzug. An die zehn von Rindern gezogene Festwägen zeigten stellten verschiedene Göttergeschichten dar. Dazwischen spielten indische Musikgruppen auf Trommeln und Blasinstrumenten. Kinder tanzten. Ein schöner Abschied von Delhi.
Ich bin in meinem Waggon der einzige Nicht-Inder. Hoffentlich geht alles gut. Draußen ist bald tiefe Nacht. Mein Rucksack ist an meinem Bett festgekettet. Die wirklich wertvollen Wertsachen sind an mir festgekettet. Dank meinem online-Ticket konnte ich den Sitzplatz schnell finden. Nur der Bahnsteig war schwer ausfindig zu machen, schien der Zug auf der fehlerhaften Anteigetafel erst gar nie auf. Wenn morgen die Sonne aufgeht, werde ich schon nahe Varanasi sein. Mir gegenüber ist ein sympathischer Inder mit seinem kleinen Sohn, dem das Zugfahren offensichtlich viel Spaß macht. Die beiden bleiben bis zur Endstation im Zug, fahren also nicht wie ich vierzehn, sonderlich ganze dreißig Stunden. Ein Junge teilt an alle Passagiere Leintücher, einen Polster und eine Decke aus. Die Betten sind etwas kurz. Wenn ich die Beine aus Strecke, läuft mir jeder Vorbeikommende gegen die Füße. Gute Nacht, Welt.

Tag 7 – Varanasi I

Varanasi hat mich gut aufgenommen. Von meinem Zimmer am Assi Ghat habe ich einen schönen Blick auf den Ganges. Etwas weiter nördlich werden am Ufer Leichen verbrannt. Zuerst werden die leblosen Körper in Tücher und Schmuck gehüllt durch die Straßen getragen, dann in den Ganges getaucht, dann verbrannt. Ich habe mir erklären lassen,  dass man dazu bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss. Schwangere Frauen, Kinder und z.B. auch Leute, die an einem Kobrabiss starben, werden nicht verbrannt, sondern einfach so mit einem Stein in den Ganges geworfen. Dem Verbrennungsritual sah ich gestern zu. Davor gönnte ich mir ein Stück weiter flussabwärts eine Massage. Auf einer Holzplattform auf den Stufen zum Fluss bearbeiteten mich zwei Meister ihres Faches derartig, dass ich schon glaubte, ihre Taktik bestünde darin, mir das Rückgrat zu brechen und mich anschließend auszurauben. Tat gut. Auffällig sind hier auch die vielen Rinder. Wie anderswo streunende Hunde, liegen und stehen hier Tausende Kühe und Stiere in der Stadt rum, halten den Verkehr auf und lassen sich’s gut gehen. Sie gehören niemanden und leben unbekümmert inmitten der Menschen.
Gestern war ich auch noch einmal am Bahnhof um die Weiterfahrt in Richtung Grenze zu organisieren. Der freundliche Beamte nahm sich viel Zeit, erörterte minutiös die Vor- und Nachteile verschiedener Züge und bot mir dabei sogar eine Tasse Tee an. Dreißig Minuten lang berieten wir über einen Fahrschein, der umgerechnet nicht einmal eineinhalb Euro kostet.

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Tag 8 – Sarnath

Ah, Sarnath … Welch wunderbare Erfrischung zu den lauten, staubigen Straßen von Varanasi. Ein bisschen Wind weht durch die vielen Bäume des grünen, ruinenreichen Ortes. Es ist ruhig und friedlich. Man kann ungestört im Schatten sitzen, ohne beständig irgendwelche Leute abwimmeln zu müssen. Schön ist’s.
Es war hier vor etwa zweitausendfünfhundert Jahren, da Buddha nach seiner Erleuchtung seine ersten Reden zum achtfachen Pfad hielt und die ersten Anhänger fand. Jahrhunderte später ließ König Ashoka den Ort mit Tempeln und Stupas bebauen. Geblieben ist wenig, doch genug um auf eine große Vergangenheit schließen zu lassen. Buddhhistische Pilger aus aller Welt kommen hierher.
Das archäologische Museum von Sarnath ist mit mehrsprachigen Infoscreens sehr modern gestaltet. Zur Zeit meines Besuchs war es grad voller Italiener, die von einem Inder von Statue zu Statue geführt wurden. Der Anblick eines Inders, der in fließendem Italienisch von Buddha erzählt, war sehr amüsant. Jedenfalls zeigt das Museum viele bis zu zweitausenddreihundert Jahre alte Statuen, die sehr sehenswert sind. Highlight ist zweifelsohne das Kapitell der Ashokasäule mit seinen vier Löwen.
Es gibt noch mehr zu sehen. Ein Stück die Straße runter markiert eine beachtliche Stupa, den genauen Ort, an dem Buddha seine Jünger fand. Davor ist noch ein wunderschöner Thai-Tempel mit zum Spaßen aufgelegten Mönchen.
Ein anderer Tempel, der in den dreißiger Jahren erbaut wurde (vor allem durch Gelder einer reichen Hawaianerin) widmet sich der schwierigen Aufgabe, den Buddhismus in Indien wieder stärker zu verbreiten.

Zurück in Varanasi wurde ich abends Zeuge der täglichen Lichterzeremonie am Ganges. Tausende versammeln sich zu diesem Musik- und Feuerspektakel, bei dem mehrere rituell gekleidete Hindus Blüten in die Menge streuen, sowie Balancekunststücke mit baum- und kobraförmigen Feuerschalen vollführen. Gläubige waschen sich im Ganges und auch im Feuer, indem sie die Hände in die Flammen halten und sich dann übers Gesicht fahren. Bei Händlern kaufen die Menschen ganze Flotten von kleinen Lotosblütenschiffchen, die sie dann brennend dem Fluss übergeben und ihnen Worte nachflüstern. Nur wenige Leuchtschiffchen schaffen es allerdings vorbei an der dichten Phalanx von Booten, auf denen Schaulustige das Spektakel vom Wasser aus beobachten.
Jeden Abend zieht dieses Flussfest tausende Menschen an: Pilger aus ganz Indien, heilige Sadus, Leute aus der Nachbarschaft, Händler … Die Touristen (mehrheitlich Japaner) sind eine verschwindend kleine Randgruppe. Ein beeindruckendes Spektakel, das man wohl nicht so leicht wieder vergisst.

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Tag 9 – Varanasi II

Der Tag begann früh mit einer Bootsfahrt auf dem Ganges. Ich sah badende Menschen, betende Hindus, brennende Leichen und einen wunderschönen Sonnenaufgang über dem östlichen Ufer. Die Stimmung war einzigartig. Hernach legte ich mich noch einmal nieder und wagte mich erst gegen elf wieder ins Freie. Eine Riksha brachte mich zur nahen Benaras Hindu University, die einen über Landesgrenzen hinweg sehr guten Ruf besitzt. Der weite Campus ist sehr grün und geometrisch. Über dreißig tausend Studenten gibt es hier, sehr viele davon weiblich. Studieren kann man hier viel: Wirtschaft. Raumfahrttechnik, Sprachen. Zentrum des Campus ist ein hinduistischer Tempel, in dessen schattigen Galerien und Grünanlagen sich die Sudierenden zum Lernen treffen oder geruhsame Mittagspause halten. Ich selber lag dort lange Ramayana-lesend im Schatten der Säulen und beobachtete das friedliche Treiben.
Zurück in der Altstadt gönnte ich mir noch ein Abendmahl über den Dächern der Stadt in einem sehr sympathischen Restaurant. Beim Essen kann man den Affen zusehen, wie sie wagemutig von Dach zu Dach springen. Spät Abends ging es dann auf zum Bahnhof für die Weiterreise nach Norden.

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Tag 10 – Grenzüberschreitung

Lange Stunden verbrachte ich am Bahnhof von Varanasi. Der Zug, der kurz nach elf Uhr abends hätte abfahren sollen, tat dies erst kurz vor drei. In der Zwischenzeit machte ich Bekanntschaft mit einem irisch-englischen Pärchen, zwei Brasilianern und einem sehr sympathischen Israeli. Letzterer hatte ständig herrliche gesellschaftspolitische, zynische Bemerkungen parat und kletterte zur allgemeinenen Erheiterung einfach mal zwischen den Tanks eines Güterzuges herum, bis alle Inder am Bahnsteig ihn entgeistert ansahen. Endlich kam der Zug. Ich fand rasch Schlaf und erwachte erst, als der Morgen längst da  und der Zug schon angenehm leer war. Das Ziel der Fahrt war der Ort Gorakhpur, von wo es einen Bus zur Grenze geben sollte. Es war schwer zu sagen, wie weit das noch war. Zähneputzend in der offenen Zugtür stehend, sah ich die grüne Landschaft des nördlichen Uttar Pradesh an mir vorüber gleiten. Als wir einmal mehr an einem kleinen Bahnhof hielten, erscholl eine Lautsprecherdurchsage in Hindi und das Gros der Leute im Zug stieg ins Freie. Ich brachte in Erfahrung, dass der Zug am Nachbargleis früher nach Gorakhpur führe und wechselte ebenso. Am chaotischen Bahnhof von Gorakhpur fand ich rasch einen Bus ans Grenzdorf Sunauli. Drei unbequeme Stunden saß in diesem vollgepferchten Fahrzeug. Die Sitze waren nicht wirklich für Menschen meiner Größe konzipiert. Der Abstand von Lehne zu Lehne war zum Beispiel kleiner als die Länge meines Oberschenkels. Hinzu kam, dass der Typ neben mir ständig auf meiner Schulter einnickte und mein T-Shirt ansabberte. Ich war froh, als wir endlich Sunauli errreichten. Die Grenzbeamten beider Seiten waren unerwartet freundlich und gut gelaunt. Problemlos und schnell ließ ich Indien vorerst hinter mir und bekam ein 30 Tage Visum für Nepal in den Pass geklebt. Ein Rikshafahrer brachte mich vier Kilometer nach Westen. Dort stand ein Bus bereit, mit dem ich weiter bis nach Lumbini, dem Geburtsort Buddhas, gelangte. Neben mir saß ein junger Mann aus der Gegend. Wir kamen rasch ins Gespräch. Er sei Muslim, absolviere gerade einen Studienlehrgang in Computerkunde und besuche demnächst ein Praktikum in Saudi-Arabien. Vor allem freue er sich darauf, Mekka zu sehen. Er fragte mich, ob ich Christ sei. Ich verneinte und erläuterte in kurzen Sätzen mein agnostisch-atheistisches Weltbild. Das war ihm sichtlich unangenehm.
Endlich erreichte ich Lumbini, fand sogleich ein nettes Zimmer, aß zu Abend und legte mich schlafen.
Berge sieht man hier übrigens nirgendwo. Die sind erst weiter im Norden. Nepals Süden ist flach und fast auf Meeresniveau.

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Tag 11 – Lumbini

Nach gutem Frühstück nahm ich mir ein Fahrrad und besuchte den Maya Devi Tempel und die Ashoka-Säule daneben. Es ist dies eine der vier  wichtigsten Pilgerstätten des Buddhismus. Erst kürzlich haben neue archäologische Erkenntnisse gezeigt, dass es sich hierbei wirklich um den exakten Geburtsort der historischen Figur des Gautama Sakyamuni Siddharta handelt. Wichtiges Indiz ist natürlich vor allem die Säule von König Ashoka mit der entsprechenden Inschrift aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, die also nur zwei bis drei Jahrhunderte nach Buddhas Tod entstand. Interessanterweise ist die tatsächliche Existenz des Buddha historisch viel deutlicher belegt, als beispielsweise die Existenz des historischen Jesus.

Ich sitze immer noch hier und denke über Siddharta nach. Er hat gewissermaßen eine Art kantisches Schicksal erlitten. Buddhas Lehre ist keine Religion. Sie ist ein weitgehend metaphysikfreies Gefüge aus Kosmologie und Ethik. Der historische Buddha stand dem Konzept von Gott und Göttern ablehnend gegenüber. Ironischer-, ja tragischerweise, hat die Nachwelt den findigen Moralphilosophen selbst zum Gott gemacht – so ziemlich das schlimmste, was einem Philosophen passieren kann. Die plumpe Verehrung eines Buddha-Gottes im Vulgärbuddhismus ist wohl weit von dem entfernt, was der historische Gautama Siddharta bezweckte.

Schön ist es hier. Angenehm kühl. Vor mir liegt der Teich, in dem – so die Legende – Maya Devi vor zweieinhalb Jahrtausenden badete. Heute, wie wohl auch damals, gleiten Schildkröten durchs Wasser. Genau fünfundzwanzig Schritte vom Teich entfernt (als ob das in der Situation jemand mitgezählt hätte) gebar sie dann mit der rechten Hand einen Bodhibaum umklammernd den jungen Prinzen. Ein weißer Stein markiert den genauen Ort. Daneben steht Ashokas Säule. Die Details sind wohl mehr Mythos als Faktum.

Nördlich von Buddhas Geburtsort erstreckt sich ein weites, grünes Gebiet, auf welchem alle Länder, die eine nennenswerte buddhistische Gemeinschaft haben, einen Tempel errichten ließen oder immer noch dabei sind, dies zu tun. Man kann den ganzen Tag damit verbringen, von Tempel zu Tempel zu radeln und die verschiedensten Stile der Architektur, Skulptur und Malerei zu bewundern. Dieser große monastischen Komplex ist von einem langen Wassergraben getrennt. Östlich davon befinden sich alle Tempel der Theravada-Schule des Buddhismus, also jene von Sri Lanka, Myanmar, Thailand und Kambodscha. Letzerer ist zwar erst halb fertig, aber architektonisch besonders ansprechend. Allein die Angkor Wat nachempfundenen Eingangstore sind wunderschön. Das einzige theravada-dominierte Land, das fehlt, ist Laos – aus welchen Gründen auch immer. Westlich des Wassergrabens findet man Tempel buddhistischer der Mahayana-Schule und zwar jene von China, Korea, Vietnam, Nepal, Japan, SingaPublikumr, aber auch Tempel die  buddhistischen Gemeinschaft in Deutschland, Österreich und Frankreich zuzuordnen sind. Buthan und Mongolei haben auch schon Baupläne. Indien fehlt ganz. Alle Tempel in ihrer wunderbaren Verschiedenartigkeit sind sehenswert (außer vielleicht der von Singapur). Als absolutes Highlight empfand ich die Tempel von Vietnam und Deutschland aufgrund ihrer verspielten Landschaftsgestaltung. Jener Koreas wird wohl alle anderen überragen – wenn er erst einmal fertig ist.
Nördlich der monastischen Zone befindet sich ein kleines Museum und die imposante World Peace Pagoda, die von den Japanern errichtet wurde. In den Wäldern ringsum finden Kraniche ein wertvolles Refugium vor und nach ihrer mühsamen Überquerung des Himalaya.

Lumbini ist ein schönes Willkommen in Nepal. Obwohl ich erst knapp über 24 Stunden hier bin, ist der Kontrast zu Indien kaum zu leugnen. Die Menschen hier sind viel gelöster, viel offener und freundlicher als in Indien. Man hat viel mehr das Gefühl, willkommen zu sein.

Es gibt auch weniger Armut. Ein jeder scheint weniger streng und irgendwie glücklicher zu sein als in Indien. Meine dreißig Tage in diesem schönen Landgedenke ich jedenfalls voll auszukosten.
Morgen Abend bin ich in einem Dorf in den Bergen. Schön.

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Tag 12 – Fahrt in die Berge

Wunderschön war es heute Morgen, als aus der grauen Nebelsuppe über dem Flachland plötzlich die Umrissene von Bergen herauswuchsen. Besser noch: Es waren nicht irgendwelche Berge, sondern die südlichen Ausläufer des Himalaya. Howard Shore in den Ohren betrat ich eine Geheimniswelt aus tiefen grünen Schluchten und aus großer Höhe herabstürzender Wasserfällen. Der Bus, in dem ich saß, wurde auf dem nur teils asphaltierten Siddharta-Highway ordentlich durchgeschüttelt. Nach kurzweiliger Fahrt erreichte ich das steil in den Berghang gebaute Bergdorf Tansen, eine schöne Basis für einige Wanderungen der nächsten Tage. Der alte Mohan, der hiesige Tourismuschef, hieß mich gleich willkommen und versorgte mich mit Unterkunft, Kartenmaterial und allen nötigen Informationen. Während ich zu Mittag aß, beobachtete ich einen wunderschönen, fast handtellergroßen Schmetterlinge, der in nächster Nähe von Blüte zu Blüte flog.
Nach geruhsamer Mittagsruhe in meinem geräumigen Zimmer (zwei Betten, drei Sofas, vier Fenster, vier
Euro die Nacht) begab ich mich auf eine
erste kleine Wanderung und erklomm den nördlich von Tansen gelegenen Shreenagar Hill. Was ich von Anfang
an an diesem Ort genoss, ist das kühlere Klima. Ich bin hier über tausend Meter höher als Lumbini. Wieder ohne Ventilator schlafen können. Wieder schweißfrei spazieren können – was für eine Wohltat. Leider war inzwischen Nebel aufgezogen und versperrte mir die Aussicht. Ansonsten hätte ich vom Hügel aus bereits ein paar Achtausender gesehenen, allen voran das mächtige Annapurna Massiv (8091m) und den Dhaulagiri (8167m).
Stattdessen sah ich Nebelschwaden über die Hügel ziehen – aber auch das hatte seinen Reiz. Auf dem grünen Shreenagarhügel gibt es ein paar Sehenswürdigkeiten, darunter eine Buddhastatue, eine Statue von Hanuman, dem mutigen, affenartigen Begleiter Ramas aus der Ramayana, sowie einen halbfertigen Aussichtsturm, der ein bisschen an Mordor erinnert.
Oben am Hügel hatte ich ein amüsantes Gespräch mit einem jungen Mathematiklehrer der hiesigen Schule. Sein Englisch war eher dürftig, dafür war er umso redseliger und plauderte gute zwanzig Minuten lang mit expressiver Gestik vor sich hin, über Nepal, dessen böse Politiker, die schlechte Infrastruktur, etc. Mitunter zeigte er eine Neigung zum Philosophischen. „Nature is not man. Man is better. And better is bad. “ Das klang schon fast wie Kirilow in Dostojewskis Dämonen. Schön war auch die Entgegnung, als ich angab allein zu reisen. „That is good. Nature his way. Because alone we are bored (ich glaube, er meinte ‚born‘). And alone we go to dead.“ Das Verhältnis von Mathematik und Physik, kommentierte er damit, dass ersteres ‚imagination‘ und letzteres ‚proof‘ sei. Ich überlegte kurz, ob ich ihm die zu meinen Studienzeiten beleibte Metapher erläutern sollte, welche besagt, dass sich Physik zu Mathematik ebenso verhält, wie Sex zu Selbstbefriedigung, ließ es dann aber doch bleiben. Witzig war auch, dass mir dieser Mathematiker während seiner Ausführungen mindestens zehnmal die Hand schüttelte, ganz so, als ob er immer wieder unter Beweis stellen wollte, dass er dieser europäischen Begrüßungsformel auch mächtig sei. Ich verabschiedete mich mit einem ordentlichen Namaste plus Händefalten und wanderte weiter durch Nebelwälder.
Wenn man durch die steilen Straßen von Tansen wandert, wird man der allgemein vorherrschenden Freundlichkeit rasch gewahr. Die
Menschen lächeln einen an, die Kinder grüßen mit einem fröhlichen Namaste. Eine Weile lang saß ich noch auf der Dachterasse meines Hotels und tauschte Reiseerfahrungen mit einer alleinreisenden Dame aus Lyon aus. Auf dem Dach gegenüber versuchten zwei Kinder einen Drachen zum Fliegen zu bringen.

Morgen wage ich mich an eine
neunstündige Wanderung zu einem verlassenen Palast. Wenn mir das Wetter hold ist, kann ich vielleicht einen ersten Blick auf das Annapurna-Massiv erhaschen.

Tag 13 – Tansen I

Schön ist es über Nepals grüne Hügel zu wandern. Üppige Vegetation, saubere Bäche, Wasserfälle, einen reißender Strom, winzige Dörfer und noch so viel mehr – all das sah ich heute. Ziel der Wanderung war das allmählich in sich zusammen fallende Barockschlösschen Ranighat, ein eher trauriger Ort inmitten wunderschöner Natur. Gegen halb sieben Uhr morgens ging der Marsch los. Durch noch dichten Nebel stieg ich steile Wälder hinab und gelangte bald in ein Talbecken, dessen taunasse Reisterrassen in der Morgensonne in funkelndem Hellgrün erstrahlten. Ich überquerte eine kleine Brücke und stieg einen grünen Grat empor. Immer wieder begegneten mir Einheimische. Mein Weg führte mich vorbei an einzelnen Bauernhäusern und winzigen Weilern. Es war jededmal das selbe schöne Spektakel. Die Kinder grüßen mich schon aus der Ferne mit einem enthusiastischen „Namaste! „, die Älteren erkundigen sich freundlich nach meinem Weg und vergewissern sich, dass ich weiß, wo es lang geht. Oft zögern die hiesigen Kinder auch nicht, ihre an der Schule frisch gelernten Englischkenntnisse an mir auszuprobieren und fragen nach meinem Woher und Wohin. Sie haben sichtlich Spaß dabei. Manch Jugendlicher, dem man auf dem Weg begegnet, erzählt stolz vom geplanten Bildungsweg, von Management-Schulen und Computer-Kursen. Über die Englischkenntnisse der Einheimischen, vor allem der Kinder, kann man nur staunen. Es herrscht hier eine Art von Bildungshunger, von Aufbruchsstimmung und Optimismus, wonach man in Europa lange suchen muss. In all den vielen Begegnungen des heutigen Tages, hat mich nicht ein einziger Mensch um Geld gebeten. Ich erfuhr Freundlickeit und Hilfsbereitschaft in Reinkultur. Ein paar Augenblicke Dorfidylle blieben mir besonders gegenwärtig: Das kleine Mädchen im roten Kleid, das am Brunnen Zinnkrüge putzt, der Junge, der mit dem Rindergespann die steile Bergwiese pflügt, die alte Frau mit dem Besen, die mich wissend anlächelt, als ich ihr ein Namaste zurufe. Schön waren auch die großen Bodhi- , Banyan- und Mangobäume, unter denen es sich so angenehm rasten lässt.

Gegen halb elf Uhr vormittags erreichte ich nach steilem Abstieg das Ufer des wasser reichen Kali Gandaki. Eine 222 Meter breite Hangebrücke (nur für Fußgänger, Autos kommen nicht einmal in die Nähe dieser Gegend) überspannt den reißenden Strom. Und wunderbar idyllisch am Ufer gelegen steht hier der Palast von Ranighat mit seiner traurigen Geschichte. Sein Erbauer, kunstbeflissen und politisch aktiv, wollte hier im Jahre 1896 ein Paradies für sich und seine Gattin schaffen. Britische Architekten aus Kalkutta wurden mit der Planung beauftragt. Keine Kosten wurden gescheut. Doch die Gattin starb. So wurde der Bau mehr zum Mausoleen, als zum Ort der Freude. Wegen politischer Intrigen in Katmandu kam es nun auch dazu, dass der unglückliche Erbauer ins indische Exil gehen musste. Der einstige Wubschtraum stand nun leer, wurde geplündert und schleichendem Verfall preisgegeben. Ein geradezu melancholisches Gefühl überkommt einen, wenn man durch die kühn geplanten Räume schleicht, auf den Balkonen die Aussicht betrachtet und aus dem runden Dachbodenfenster lugt.
Natürlich besuchte ich auch die nahe Hangebrücke, stand lange in ihrer Mitte und blickte hinüber auf Ranighat, hinauf zu den Hügeln und hinab in die reißende Strömung. Ich war ganz alleine hier. Wie viele Welten lagen doch zwischen diesem friedlichen Ort und dem Treiben von Delhi und Varanasi.

Der Rückweg führte mich durch ein grünes Tal und dann steil hinauf nach Tansen. In Wasserfällen und im sprudelnden Bach gönnte ich mir Kühlung. Einige Ziegenhirten, die ihre Herden talabwärts trieben, begegneten mir. Gegen Abend erreichte ich müde doch froh meine Herberge.

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Tag 14 – Tansen II

Ich erwachte gegen halb sechs, als vom Fenster her ein rätselhafter Singsang erklang und mich aus meinen Träumen riss. Ein Zug von etwa dreißig Frauen schritt eine Art Gebetsformel intonierend die enge Gasse entlang. Ich ließ sie ziehen und legte mich wieder hin.

Die Wanderung des heutigen Tages war längst nicht so bunt und anstrengend wie der gestrige Marsch nach Ranighat, aber durchaus nicht arm an Charme. Die Achtausender hielten sich immer noch verborgen, doch zumindest hinab ins weite grüne Madi-Tal konnte ich sehen. Gemächlich wanderte ich entlang der Hügelkette von Dorf zu Dorf. An manchen Stellen gab es beschauliches Dorftreiben zu bewundern, auf manchen Hügeln wunderbare Aussicht. Die Freundlichkeit der Einheimischen überraschte mich einmal mehr. Etwa zehn Minuten begleitete mich ein Junge, sicher nicht älter als acht. In sehr gutem Englisch fragte er mich alles mögliche: Herkunft, Anzahl und Namen der Familienmitglieder, Reiseziele, etc. Er bat mich ein Foto von ihm zu machen und amüsierte sich über das Ergebnis auf meinem Handy-Screen. Schließlich zeigte er mir den Weg zu einem nahen Tempel und verabschiedete sich. Keine krummen Tricks, keine Bitte um Geld, einfach nur Neugier und Freundlichkeit.

Nach vielen Dörfern und verlassenen Wegen, nach vielen Rindern, Ziegen und Spinnennetzen stieg ich schließlich ab zum Siddharta Highway und nahm den Bus zurück nach Tansen, das ich kurz vor einem harmlosen Gewitter erreichte.

Nach ein paar Leckerbissen aus der lokalen Bäckerei und verdienter Frühnachmittagsrast schlenderte ich noch eine Runde durch Tansen und betrachtete einige historische Bauten sowie das hiesige Leben. Wenn man genau hinsieht, so findet man in den Schnitzereien des Amar Narayan Tempels einige äußerst anzügliche Motive. In den engen Gassen der Stadt stößt man immer wieder auf kleine Schreine zu Ehren Hanumans, der hier anscheinend besonders beliebt ist. Auf meinem Spaziergang passierte ich auch einige Handwerksstuben, in denen, wie schon seit Jahrhunderten, Bronze bearbeitet wird. Nach einem großen Teller Momos im Royal Inn (gutes Essen, unfähiger Kellner) werde ich nun meinen Rucksack packen und mich dann schlafen legen. Schon um sechs Uhr morgens geht mein Bus nach Pokhara, an dessen schönem See ich einige Zeit zu bleiben gedenke.

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Tag 15 – Siddharta Highway

Sechs Stunden lang fuhr ich mit dem Regionalbus den Siddharta Highway entlang. Es war kein bisschen eintönig, sondern kurzweilig und wunderschön. Der Bus, der zuzeiten bis zu 40 Nepalis, einen Österreicher (c’est moi), zwei Kanadier und vier Ziegen fasste, kurvte durch steile, saftig grüne Täler und hielt in so manchem beschaulichen Dorf. Von meinem Fenster aus konnte ich viele Begrüßungen und Abschiede beobachten. Viele Leute, auch der freundliche Nepali neben mir, waren auf dem Weg zu ihrer engeren Familie, um mit ihnen die bevorstehenden Feiertage zu verbringen. Als die teils schon fürs Dashainfest geschmückten Ziegen im Mittelgang keinen Platz mehr fanden, wurden sie kurzerhand in den Kofferraum gesteckt.
Nach vielen schönen Tälern, Bächen und Bergen erreichten wir schließlich Pokhara, die Stadt am schönen See von Phewa Tal mit seinen waldreichen Ufern. In der Luft sieht man die Paraglider gleiten, am See die Boote übers Wasser fahren. Um den Mittagshunger zu stillen, verschlang ich sogleich einen Fisch „fresh from the lake“. Nach angenehmer Rast genoss ich einen Spaziergang entlang des Seeufers. Herrlich. Alles schimmerte silbrig im Licht der nahenden Dämmerung. Vereinzelt trieben noch Boote im See. Einzelnen Fischer säumten das Ufer. Die Weltfriedenspagode erhob sich auf ihrem Hügel im Westen. Im Norden konnte man die Umrissene des Annapurnamassivs erahnen. Das Klima hier könnte kaum angenehmer sein. Ein frischer Wind weht von den Bergen her. Lange stand ich an diesem schönen Ufer und beobachtete, Rachmaninov in den Ohren, den Flug einer Fledermaus.
Pokhara ist mit seinen vielen Trekking-Ausstattern, seinen Reisebüros und modernen Restaurants wohl der „westlichste“ Ort, der mir für einige Zeit begegnen wird. Im Unterschied zu Indien findet man nirgendwo Tuktuks und Rikshas. Sogar Recycling gibt es hier. Und an allen Ecken und Enden lockt das Abenteuer. Was soll’s zuerst sein? Ein Paragliding Tandemflug? Ein dreitägiger Rafting Trip auf dem Kali Gandaki? Eine Tagestour mit dem Fahrrad? Eine Zehnstundenwanderung rund um den See? Oder soll ich mir einfach für ein paar Stunden ein Ruderboot nehmen, weit hinaus paddeln und im Angesicht sich im Wasser spiegelnder Achttausender ein Bad nehmen, ein Buch lesen, die Welt betrachten?
Als erstes kommt der Sonnenaufgang.

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Tag 16 – Pokhara I

Ich erwachte, als die Stadt noch schlief, und begann den Tag mit einem Morgenspaziergang am Seeufer. Da sah ich zum ersten Mal klar und deutlich die schneebedeckten Achtausender leuchten, während die übrige Welt um mich noch im Schatten lag. Ursprünglich wollte ich den Vormittag auf einem Boot im See verbringen. Da der Paragleitbetrieb aber während der Feiertage eingestellt wird, beschloss ich dieses Wagnis gleich heute in Angriff zu nehmen. Gemeinsam mit den erfahrenen Gleitern von Sunrise Paragliding und sechs kichernden Chinesinnen fuhr ich in einem Jeep den Hügel von Sarangkot hinauf. Auf der Fahrt hatte ich besseren Blick auf die Berge als je zuvor. Dominiert wird das dramatische Panorama klar vom nur 6997 Meter hohen Machhapuchhare, der wie eine spitze Pyramide matterhornartig in die Höhe ragt. Dieser imposante Berg hat etwas, das ihn vor allen anderen Gipfeln Nepals auszeichnet: Er wurde noch nie bestiegen. Anscheinend weniger aus Gründen der Heiligkeit, sondern mehr aus dem Wunsch heraus, sich einen letzten jungfräulichen Berg zu bewahren, ist es per Gesetz verboten, den Machhapuchhare zu erklimmen. Der Boss von Sunrise Paragliding, ein sympathischer Nepali Anfang fünfzig, erzählte mir aber, dass es neulich erst dank extrem guter Thermik einem Paragleiter gelungen sei, nur einige hundert Meter unterhalb des Gipfels zwischenzulanden. Auf diese Weise wird der Machhapuchhare vielleicht in naher Zukunft zwar nicht bestiegen, doch zumindest erflogen werden. Eine der Chinesinnen fragte schließlich, welcher dieser vielen schneebedeckten Gipfel denn der „Himalaya“ sei. Facepalm.
Am Startplatz – einem steilen Hang nahe dem Gipfel des Sarangkot – herrschte reges Treiben. Alle zwei Minuten startete ein Tandemflug. Die professionellen Flieger sind keineswegs alle Nepalis. Anscheinend haben einige Europäer in Pokhara eine neue Heimat gefunden und verdienen sich ihr Geld mit Paragliding. Ich sah Briten, Franzosen und – am Akzent unverkennbar – einen Österreicher, mit dem ich vor dem Flug ein bisschen plauderte. Er komme aus Salzburg, lebe schon seit fünf Jahren in Pokhara und hege derzeit keine Ambitionien wieder zurück nach Hause zu gehen. Dazu sei das Leben in Pokhara einfach zu „geil“, die Leute zu nett. 
Nachdem die sechs Chinesinnen allesamt kreischend abgehoben waren, kam ich an die Reihe. Ich flog mit einem jungen, kompetenten Nepali namens Milan, der unter seinen Kollegen anscheinend recht angesehen war. Und schon ging es los. Ich war überrascht wie einfach und leicht Start und Landung waren. Der Flug selber bot wunderschöne Aussicht auf den See und die Berge. Auf der Suche nach der richtigen Thermik, die uns weiter nach oben trieb, folgten wir den Greifvögeln. Es war ein schönes Gefühl nur Meter neben sich einen Geier im selben thermischen Strudel gleiten zu sehen. Milan erzählte mir in der Luft einige Geschichten und nannte mir die sichtbaren Gipfel. Als ich angab, dass mein Magen es noch zuließ, machte Milan über dem See noch ein paar „acrobatics“ . Wir schlugen Loopings und drehten uns wild nach allen Seiten. Kinderleicht schien die Landung im nahen Feld.

Nach mittäglicher Rast bestieg ich gegen drei Uhr nachmittags ein Boot und paddelte allein mit einem Ruder in den See hinaus. Ich kam überraschend schnell voran. Zweimal links, zweimal rechts. Geht doch. Im Süden die Weltfriedenspagode, im Norden den Machhapuchhare und das Annapurnamassiv vor Augen war ich bald von weitem Wasser umgeben. Mein Boot, in dem locker acht Menschen Platz gehabt hätten, war sehr geräumig. Ich legte das Ruder weg, ließ Arme und Beine ins Wasser hängen oder stand auffrecht inmitten des Sees. Langsam senkte sich die Sonne und der Tag ging zu Ende. Kurz vor Sonnenuntergang erreichte ich das Ufer. Bei einem fruchtigen Smoothie saß ich dort noch lange und wusste nicht, wohin ich blicken sollte – nach Westen zur untergehenden Sonne oder nach Norden zur leuchtenden Spitze des Machhapuchhare.
Morgen werde ich den See umwandern.

Und falls sich jemand fragt, warum die Überschrift zu diesem Tag „Fischschwanz“ lautet, so sei noch schnell gesagt, dass dies die Übersetzung von Machhapuchhare ins Deutsche ist. So ein unpassender Name für so einen schönen Berg.

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Tag 17 – Pokhara II

Nach gutem Frühstück verließ ich die Lakeside von Pokhara in Richtung Süden und folgte dem Ufer des Phewa Tal bis zum eher unscheinbaren Staudamm. Die nahe Bambusbrücke erlaubt Fußgängern das Wechseln der Seite. Ein Blick zurück über den See erlaubte sowohl Annapurna I und Machhapuchhare, wie auch deren Spiegelung im Wasser zu sehen. Leider sah man nur die Spitzen, blieb die Hauptmasse der weißen Riesenberge doch den ganzen Tag über hinter Wolken versteckt.
Mit der Überquerung der Brücke hatte ich den Rand der dichten Wälder, die das hügelige Südufer des Phewa Tal säumen, erreicht. Ein steiler Anstieg zur Weltfriedenspagode stand bevor. Dieser war nicht ganz ungefährlich, war es doch in diesem Wald im Lauf der vergangenen Jahre mehrmals zu Raubüberfällen auf Touristen gekommen. Ein freundlicher Einheimischer erzählte mir überdies von Muren mit tödlichem Ausgang, die auch einen Wegabschnitt zerstört hatten, von labyrinthischen Wegen, sowie von ganz bösen Blutegeln, die überall lauerten. Die Botschaft war klar. Er wollte, dass ich ihn als Guide anheure. Da er harmlos genug aussah und sich mit einer sehr kleinen Summe zufrieden gab, willigte ich ein. Und siehe da, er (Ich bin so schlecht im Namenmerken) führte mich viel rascher als erwartet zur Pagode. Auf dem Weg erzählte er mir von seinem Leben als Reisbauer, dem ungewöhnlich starken Monsun dieses Sommers und von den Raubüberfällen. Außerdem zeigte er mir ein paar Blutegel, die sich eben an seine nur Sandalen tragenden Füße heften wollten. Dank festem Schuhwerk blieb ich von diesen Tierchen verschont.
Wir erreichten also die Pagode. Mein guide erklärte mir, welchen Pfaden ich später weiter westlich folgen müsste. Es sei „very complicated „. Er wolle lieber mitgehen und mir den Weg zeigen. Dieses Angebot lehnte ich ab. Ich hatte Zeit genug, mich zu verirren. Außerdem waren mir See und Berge doch beständige Wegweiser. Von nun an ging es alleine weiter.

Etwa eine Stunde lang blieb ich bei der Weltfriedenspagode. Sie war etwas kleiner als ihr Gegenstück in Lumbini. Dafür war die Lage am Hügelkamm umso imposanter – und gewagter. Besagte Mure gab es wirklich. Der Berghang direkt unterhalb der Pagode zum See hin sah wüst aus. Viel fehlte nicht und es hätte vor einem Monat auch das Friedensbauwerk in die Tiefe gerissen. Wie lange sich die Pagode hier wohl noch halten kann? Etwa achtzig Weltfriedenspagoden haben die Japaner Mitte der Achtziger Jahre errichtet, die ersten in Nagasaki und Hiroshima, die späteren weltweit. Die beiden in Nepal habe ich nun gesehen. Die in Delhi ist mir entgangen. Sie sehen ohnehin alle fast gleich aus. Die größte Attraktion an der world peace pagoda von Pokhara ist die Aussicht, die man von dort hat. See, Himalaya und die Spiegelung von letzterem in ersterem.
Von der Pagode aus folgte ich weiter dem Hügelkamm. Der guide hatte Recht gehabt. Very „complicated.“ Ein chaotisches Gewirr an Wegen durchzieht Wälder und Reisfelder der Nordflanke dieser Hügel und verbindet die winzigen Dörfer. Bald fand ich mich allein auf einem teils zugewucherten, teils von Bächen überschwemmten, teils von Muren zerstörten Weg wieder, der allen Widrigkeiten zum Trotz in die richtige Richtung führte. Dies verriet der Blick hinab zum See. Nach Stunden im Gestrüpp erreichte ich immer noch blutegelfrei das Dorf Margi. Ein idyllischer Ort. Kinder spielten mit einer Bambusschaukel, eine Kuh graste friedlich. Von hier aus ging alles ganz leicht. Ich folgte einem Pfad quer durchs saftig grüne Marschland im Mündungsdelta des Zuflussstroms. Eine selbstbedienbare Fähre erlaubte es, den letzten schmalen flussartigen Abschnitt hinter sich zu lassen. Und schon stand sich auf der Straße, die das Nordufer des Sees entlang bis nach Pokhara führt. Auf diesem letzten Wegabschnitt machte ich in einem kleinen Dorf Rast. Wie überall waren die Anzeichen des Dasainfestes zu erkennen. Die großen Bambusschaukeln, die ich schon vor vielen Dörfern sah, werden eigens zur Festzeit aufgebaut. Es war nett, der Dorfjugend beim waghalsigen Spiel auf der Schaukel (das Ding ist riesig) zuzusehen. Obwohl die Jugend auch hier oft schon Smartphones besitzt, scheint die einfache Bambusschaukel ihre Anziehungskraft nicht verloren zu haben. Ein weiters Anzeichen fürs Dasain sind natürlich die allgegenwärtigen Ziegen, deren Opferung ein Höhepunkt des Festes ist. Schon seit Tagen sieht man, wie Ziegen von A nach B transportiert werden, auf den Dächern von Bussen, auf Motorrädern, etc. Am Dorfplatz, über dem Nebelkrähen und Greifvögel kreisten, saß ich unmittelbar neben einem fürs Fest bemalten alten Ziegenbock, der eben mit Appetit sein letztes Gras verschlang. In ganz Nepal verlieren am heutigen Tag hunderttausende Ziegen ihr Leben. Drittes Anzeichen fürs Dasain ist die Musik, vor allem die Trommeln, die aus den Tempeln erklingt. Viertes Anzeichen: Die Menschen wünschen einander tatsächlich „Happy Dasain!“
Ich spazierte gemächlich weiter und erreichte schon bald Pokhara.

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Tag 18 – Pokhara III

Früh am Morgen ließ ich mich von einem Taxi hinauf zum ca.1400 hohen Hügel Sarangkot nördlich des Sees bringen. Es ist dies ein beliebter Aussichtspunkt, um das majestätische Erwachen der Annapurnakette im Sonnenaufgang zu sehen. Ich hatte Glück. Die Wolken verbargen nur vereinzelte Bereiche. Die Annapurnagipfel und der Machhapuchhare waren gut sichtbar. Zuerst lag alles noch im Schatten. Dann konnte man sehen wie je nach Höhe nach und nach die Gipfel ins Licht getaucht wurden und der Schnee darauf zu leuchten begann. Es ist ein erhendes Gefühl auf diese Weise mehr als sechstausend Meter über sich die Berge erwachen zu sehen.
Noch erhebender wäre es freilich, wenn man dieses atemberaubende Schauspiel in kleinerem Kreise betrachten könnte – nicht inmitten von zweihundert pausenlos fotografierenden Menschen. Die große Mehrheit unter den Touristen scheint hier ganz klar aus China zu kommen. Das zeigte einmal mehr die Menge am Hügel. Und als die Sonne kam, kreischten alle laut auf und riefen Hallo. Seufz. Ein bisschen mehr Ehrfurcht und Stille im Angesicht dieser Wunder der Plattentektonik wäre doch angebracht.

Der Rest des Tages verlief sehr ruhig. Ich las viel, saß lange am Ufer und betrachtete den See. In Pokhara war es ruhiger als sonst. Viele Geschäfte hatten aufgrund des Feiertages geschlossen. Heute ist der Tag des Dasain, an dem ein jeder seine Tika bekommt. Ein Familienältester oder hinduistischer Priester malt allen eine rote Markierung (die Tika) auf die Stirn. Diese ist keineswegs nur ein kleiner Punkt, wie man es oft in Indien sieht, sondern nimmt bei manchen fast die ganze Stirn ein. Auch Blüten und Reiskörner sind mit der leuchtend roten Paste vermengt.
Viele Nepalis holen sich hier ihre Tika in einem Tempel auf der kleinen Insel im See von Pokhara. Gemeinsam mit den Einheimischen ließ ich mich übersetzten. Zwar wusste ich schon, dass buddhistische und hinduistische Heiligtümer immer im Uhrzeigersinn zu umrunden sind. Dass aber der Fährmann zuerst die ganze Insel im Uhrzeigersinn umrunden muss, bevor er anlegen darf, war mir neu. Auf der winzigen Insel gibt es einen schönen Tempel, schattenspendende Bäume und einen kleinen Shop, der Souvenirs und Opfergaben im Angebot hat. Drei  Sadus saßen auf dem asphaltierten Boden und nahmen Spenden entgegen. Ich sah zu, wie die Nepalis, meist ganze Familien in den Tempel gingen, eine Kleinigkeit spendeten, mit Tika auf der Stirn wieder zum Vorschein kamen und einander eifrig mit Smartphones und Tablets abfotografieren. Im Ganzen erinnerte das Prozedere doch sehr an die christliche Kommunion, nur dass das dezent antropophage Verzehren des Leibs Christi durch ein Bemalen der Stirn ersetzt wird. Diese Markierung wird dann den ganzen Tag lang getragen. Mancherorts kann man sich auch als Tourist die Stirn beschmieren lassen, aber irgendwie lockte mich dies wenig.

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Tag 19 – Pokhara IV

Nach langem Schlaf und gutem Frühstück nahm ich mir ein Taxi zur nahen Fledermaushöhle. Ich überzeugte den Mann im Kassenhäuschen, dass ich keinen Guide bräuchte und kroch mit Taschenlampe bewaffnet in die Dunkelheit. Die tausend von der Decke hängenden Hufeisenfledermäuse, von denen mein Reiseführer spricht, konnte ich nirgends entdecken. Sehrwohl aber sah ich mehrere Flügelwesen im Schein meiner Lampe durch das Gewölbe flattern. Höhlen sind immer wieder schön. Eine jede weckt Erinnerungen an alle andern Höhlen, die man schon besucht hat, vor allem dann, wenn man das Licht ausmacht und alles still und dunkel ist. Nur die fallenden Wassertropfen tönen durch die Finsternis. Ist es wirklich erst sieben Monate her, dass ich im südlichen New Mexico durch die Carlsbad Caverns kroch? Und in dreieinhalb Monaten werde ich jene schönen Höhlen im nördlichen Laos wiedersehen, noch dazu in so wunderbarer Begleitung.
Highlight der Fledermaushöhle von Pokhara waren für mich weniger die Fledermäuse, als der abenteuerlich  schmale Spalt durch den man sich zurück ins Freie zwängen darf – eine anspruchsvolle Kletterpartie. Vor dem Ausgang saßen Kinder und amüsierten sich laut lachend über jeden, der keuchend aus der Öffnung robbte.

Von der Höhle, die einige Kilometer nördlich der Stadt liegt, beschloss ich zu Fuß den Rückweg anzutreten. Auf dem Weg warteten einige Attraktionen. Zuerst besuchte ich das Gurkha-Museum. Auf drei Stockwerken wird hier über die Geschichte dieser ruhmreichen Elitesoldaten erzählt. Seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts kämpfen die Gurkhas unter britischer Flagge, sei es 1857 gegen die Rebellion in Indien, in den Weltkriegen oder im Afghanistan des 21. Jahrhunderts. Das Museum erzählt leicht kriegsverherrlichend von vielen tapferen Gurkhas, die etwa einen Hügel ganz allein genommen haben oder nur mit einem Messer dreißig Taliban erledigten. Dafür regnete es dann Medaillen und Lob von der Queen. Jedenfalls sind die Nepalis mächtig stolz auf ihre Gurkhas. Falls es doch Bodentruppen gegen isil unter britischer Beteiligung geben sollte, müssen die Gurkhas wohl bald wieder ans Werk.

Gleich neben dem Museum befindet sich ein kleiner Park, durch den das schäumend weiße Wasser des tief in einer verborgenen Schlucht versteckten Setiflusses sprudelt. Ein Mönch machte sich einen Spaß daraus alle Besucher mit dem heiligen Wasser zu bespritzen.
Weiter südlich besuchte ich einen kleinen Tempel auf einem Hügel. Da er Durga geweiht war, um deren Taten sich das Dasainfest dreht, sah man hier viel frisches Ziegenblut auf den Altären. Vor vielen Wohnhäusern sah ich übrigens auch abgetrennte Ziegenhörner auf Zäunen hängen und am Boden liegen.

Vorbei an schönen Häusern der traditionellen Newari-Architektur, schlenderte ich weiter durch Pokharas Altstadt. Ich fand noch einen weiteren Tempel. Mitten auf der Straße als Verkehrsinsel dienend lehnten Motorräder und Mülleimer an seinen zweihundert Jahre alten Wänden. Die Schnitzereien an den Dachstreben sind faszinierend. Es ist ein merkwürdiger Kontrast, dass man im sonst so prüden Nepal (und auch Indien), wo Frauen voll bekleidet baden und öffentliche Küsse verpöntes Ärgernis sind, auf so vielen alten Tempeln die freizügigsten Motive findet. So auch hier. Auf etwa sechszehn Dachstreben sind unterhalb den  Abbildungen von Göttern auf einer weiteren Ebene Männer, Frauen und Tiere in anscheinend jedweder Kombination in verschiedenen Koitusstellungen abgebildet. So sieht hier die religiöse Schnitzerei vergangener Jahrhunderte aus.

Die nächsten drei Tage gibt es höchstwahrscheinlich keinen neuen Blogeintrag von mir. Hier hat zwar jeder Imbisstand ein eigenes WLAN Netz, beim Raften auf dem heiligen Kali Gandaki rechne ich aber kaum mit Konnektivität zur Außenwelt.

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Tag 20 bis 22 – Kali Gandaki

Schön war’s, drei Tage lang in netter Gesellschaft die beinahe unberührte Natur dieses Flusses entlang zu gleiten, von Stromschnellen geschüttelt zu werden und sich ab zu auch ohne Raft im Wasser treiben zu lassen. Am Ufer sahen wir Wasserfälle, Affen, die von Baum zu Baum sprangen, riesenhafte Schmetterlinge und andere Naturschönheiten. An manchen Orten überspannten schmale Hängebrücken die Schlucht.
Natürlich ist man nicht immer auf dem Wasser. Abbau und Aufbau unseres Zeltlagers, Essen und nächtliches am Feuer Sitzen nahmen ebenso viel Zeit ein. Am anderen Ufer unseres Camps der ersten Nacht fand die rituelle Verbrennung eines Verstorbenen des nahen Dorfes statt. Ich saß auf den Steinen und blickte hinüber. Dann kam der fast volle Mond und brachte ein paar Sterne mit. Die Nächte waren hell genug, um den Fluss silbrig schimmern zu sehen.

Wir waren insgesamt 25 Leute auf drei Rafts und drei Kayaks, darunter 18 Touristen und eine kultige  siebenköpfige nepalesische Crew mitsamt Koch. Der Chef des Teams hieß Santos und sieht aus wie Dschingis Khan. Sein Vize Rambo vollführte einige Kayakkunstsstücke. Der Koch zauberte dreimal täglich sehr  bekömmliche Kost herbei.
Unter den achtzehn Touristen herrschte klare israelische Übermacht. Hebräischkenntnisse wären recht hilfreich gewesen. Neben 10 Israelis, sechs Briten und mir hatten wir noch einen Niederländer an Bord. Eine nette Runde. In etwa einer Stunde trifft man sich ein letztes Mal um sich gemeinsam die schon fertige DVD unserer Rafting Tour anzusehen.

Tag 23 – Bandipur I

Nach einem letzten Frühstück in Pokhara nahm ich mir ein Taxi zum 
Busbahnhof. Es gibt in Nepal eigene Touristenbusse. Diese sind teurer und fahren nur zu bestimmen Zeiten. Außerdem bekommt man darin wenig Lokalkolorit zu spüren. Mit den herkömmlichen Regionalbussen zu fahren ist viel intetessanter.
Ein nepalesischer Bus ist nie voll. Das heißt: egal wie viele Leute schon drin sind, es geht immer noch mehr. Da sitzt man dann, oft weit hinten, im bunten Treiben. Aus einem Lautsprecher tönen nepalesische Schnulzensongs.  Besonders spannend ist es, sich beim Aussteigen den Weg ins Freie zu kämpfen. Über all die im Mittelgang sitzenden Leute drüber zu klettern, ist gar nicht so einfach. Neben mir saß eine Nepali mit Kleinkind. Sie spricht kein Wort Englisch. Der Klingelton ihres Samsung Smartphones ist Schuberts Forelle. Ihre gelbe Geldbörse ziert der dämlich grinsende Spongebop. Wie klein doch unsere Welt geworden ist.

Gegen Mittag erreichte ich Bandipur, ein kleines, ungemein symphatisches Dorf in den Bergen. Alles ist hier sehr ursprünglich. Es gibt einige interessante Tempel zu sehen, ein paar Höhlen, Hügel mit wunderbarer Rundumsicht und freundliche Einwohner. Der Abend schenkte mir einen schönen Sonnenuntergang mit Sicht auf den Himalaya und hinab ins grüne Tal des Marsyangdi Khola. Schön auf diesen grünen Hügeln zu stehen und, Musik in den Ohren, hinab in die Weite zu blicken.

Gemeinsam mit der Familie meiner Herberge und den drei anderen Gästen folgte ein nettes Abendmahl mit traditionellen nepalesischen Gerichten.

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Tag 24 – Bandipur II

Ich erhob mich früh und erklomm noch bevor der Tag begann,  einen nahen Hügel, dessen Gipfel ein Tempel ziert. Dort erlebte ich einen wunderbaren Sonnenaufgang mit freier Sicht auf die ganze Himalayakette. Gegenüber versank der Mond hinter silbrigen Hügeln. Von meinem Berg aus überblickte ich alle Himmelsrichtungen.  Lange saß ich und las ich an diesem Ort. Dann stieg ich ab und gönnte mir ein gutes Frühstück.

Ziel des heutigen Tages war es die nahe Siddha Höhle, angeblich die größte Höhle Nepals, aufzusuchen und zu erkunden. Dazu musste ich die Kante des Plateaus, auf dem Bandipur liegt, überqueren und auf steinernen Stufen den steilen Abhang hinab steigen. An summenden Grillen, hüpfenden Heuschrecken und blühenden Blumen vorüber, stieg ich tiefer und erreichte die Höhle. Diese erwies sich um viele Größenordnungen imposanter und interessanter als die Feldermaushöhle von Pokhara. Ich sah riesige, über vierzig Meter hohe Kavernen, schöne Felsformationen und hunderte durch die Luft schwirrende  Fledermäuse. Über eine halbe Stunde lang folgte ich einem sympathischen Nepali über Leitern und seilgesicherte Kletterpassagen von einer unterirdischen Kammer zur nächsten. An mehreren Stellen der Höhle ehrten Bronzedreizacke und Statuetten den Gott Shiva. Ein spannender Aspekt an dieser Höhle ist auch, dass sie erst vor siebenundzwanzig Jahren entdeckt wurde.
Nach anstrengendem Marsch zurück hinauf nach Bandipur gönnte ich mir einen ruhigen Nachmittag im Dorf mit schönem, schattigen Tisch in einem Café und wunderbarer Aussicht über die Hügel.

Abends aß ich gemeinsam mit anderen Reisenden und diskutierte Leben im Weltraum. Ein Ire ist schon elf Monate lang hier und unterrichtet Englisch an einer lokalen Schule. Ein Hawaianer deckt hier Dächer. Im übrigen erzählt man mir, dass im nahen Wald ein Tiger umgeht und erst kürzlich ein paar Ziegen gerissen hat. Ich hätte ihm auf meiner Höhlenwanderung ohne weiteres begegnen können.
Nach dem Essen setzten wir uns noch zu musizierenden Nepalis in einen Tempel und lauschten traditioneller Musik. Ein schöner Ausklang eines schönen Tages.

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Tag 25 – Manakamana

Die Fahrt im lokalen Bus von Dumre nach Cheres war abenteuerlich. Ich saß auf einer hühnergefüllten Kiste im Mittelgang des Busses, wahrend einmal mehr laute Musik erscholl und Nepalis über mich hinweg kletterten. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange. Schon vor der Ankunft in Cheres sah ich den vertrauten Anblick einer Gondelbahn, die sich die grünen Hänge emporstreckt.
Wenig später saß ich ein einer der Gondeln der österreichischen Firma Doppelmayr und fühlte mich fast wie zuhause beim Skifahren. Sogar die Sicherheitsvorschriften sind in deutscher Sprache zu lesen. Die Preistabelle der Talstation gibt auch über die Beförderungskosten von Ziegen Auskunft. Für diese gibt es allerdings nur ein Oneway Tickett.
Die Bergstation der Gondel ist das 1000 Meter höher gelegene Dorf Manakamana. Der hiesige Tempel ist ein wichtiger Pilgerort für alle Hindus. Vor allem junge Paare aus dem ganzen Subkontinent kommen hierher. Sie bitten Parvati um männlichen Nachwuchs und opfern dafür Hühner und Ziegen.
Beim Tempel herrschte reges Treiben. Eine sehr lange Schlange von Gläubigen wartete darauf, eingelassen zu werden. Ringsum verkaufen Händler kitschige Devotionalien und  Kindetspielzeug von Plastikschmuck bis Dartscheiben.  Auf der Rückseite des Tempels ist der Boden sehr blutig. Hier wird geopfert. Ich sah dabei zu, wie zwei vor Angst schreiende Jungziegen und ein Huhn enthauptet wurden. Äußert befremdlich war, dass die Gläubigen während der Opferung alles andere als andächtig schienen. Während der zuständige Opfermeister – ein Junge unter zwanzig – den schreienden Ziegen die Kehle durchsägte und mit Mühe den Kopf abhackte, lachten die Leute über eben erzählte Späße. Kinder widmeten sich ihren Smartphones. Währenddessen starb qualvoll ein Tier.

In der Abenddämmerung konnte man hinter dem Tempel in der Ferne die weißen Himalayagipfel sehen.

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Tag 26 – Kathmandu I

Im Morgengrauen besuchte ich noch einmal den  Manakamanatempel. Die Menschenschlange vor dem Eingang war schon sehr lang. Die ersten waren wohl schon lange vor dem ersten Tageslicht erschienen, um Parvati ihre Wünsche darzubringen. Die meisten Pilger warten wohl viele Stunden, zuerst in der Schlange vor der Gondelbahn, dann in der Schlange vor dem Tempel. Viele Ziegen machten sich auf, die letzten Schritte zu tun.

Die Fahrt hinabins Tal war schön. Die Gondeln tauchten durch ein Nebelmeer. Fast erwartete ich im Nebel plötzlich Schnee und heimische
n Nadelwald erscheinen zu sehen.

Ich stieg in den erstbesten Bus, der nach Kathmandu fuhr. Die dreistündige Fahrt war ausgesprochen kurzweilig, sprach ich doch die meiste Zeit mit den Nepalis um mich herum. Es war eine sehr bunte Truppe. Der eine hatte sieben Jahre lang in Saudi-Arabien gelebt. Nun war er froh wieder hier zu sein. Ein anderer hatte eben erst im August seinen PhD in Engineering erhalten und zwar an der New York State University. Die nepalesische Heimat besuche er zum ersten Mal in fünf Jahren. Derzeit lebe er mit seiner Frau (auch ein PhD) in Galveston, Texas! Wir hatten uns einiges zu erzählen. Ein dritter Nepali ist lokaler Filmregisseur und produziere nepalesische Tanzfilme. Allen gemein war, dass sieredlich daran interessiert waren, wie es mir in Nepal bisher ergangen sei und ob ich irgendwelche
Unannehmlichkeiten erfahren hatte. Auch Tipps für die Weiterreise gab man mir. Als wir letztendlich Kathmandu erreichten half man mir noch ins gewünschte Viertel. Schon bald saß ich erholt auf dem Balkon eines gemütlichen Hotels.

Kathmandu ist schön. Das bunte Treiben in den engen Altstadtstraßen erinnert an Alt-Delhi, ist aber viel leichter zu verkraften. Überall stößt man auf kunstvolle Tempel und antike Kostbarkeiten, die einfach so am Straßenrand den Betrachter erfreuen. Das reale Leben ist dabei eng mit dem Altertum verknüpft: eine Frau nutzt die Arme einer eintausendfünfhundert Jahre alten Buddhastatue um Unterwäsche zu trocknen.
Die großen Highlights von Kathmandu, den Durbar-Platz und den Swayambhunath-Tempel, habe ich noch nicht gesehen. Doch schon jetzt kann ich sagen, dass dies ein spannender, durch und durch sehenswerter Ort ist.

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Tag 27 – Kathmandu II

Schon lange hatte ich mich darauf gefreut, die große Swayambhunath-Stupa zu besuchen. Ich weiß noch, als ich vor vielen Jahren im Fernsehen zum ersten Mal diese strengen, fast hypnotischen Augen Buddhas sah, die von der Stupa aus in alle vier Himmelsrichtungen blicken. Und ich dachte mit: Da muss ich hin. Jahre später verwendete ich diesen Ort in einem meiner Theaterstücke und ließ meine Evi Brenner in „Gefangen“ vom „Om mani padme hum“ des Swayambhunath Tempel erzählen – einen Ort, den ich nur aus Bildern und Beschreibungen kannte.
Und nun sah ich ihn schon aus der Ferne. Ich überquerte den unglaublich schmutzigen Vishnumati Fluss und erreichte den steilen Stufengang, auf dem Händler Souvenirs verkaufen und Rhesusaffen Schabernack treiben.
Oben angekommen war ich alles andere als enttäuscht. Die Swayambhunath Stupa ist noch beeindruckender, als ich sie mir vorgestellt hatte. Die Gebetsfahnen flattern im Wind, die Mühlen drehen sich im Schwung der Besucher. Dazwischen thronen Bodhisattvas. Weiß strahlt der Sockel der Stupa, golden die dreizehnteilige Spitze. Und die drei Augen Buddhas blicken viermal  in die Welt hinaus. Hinzu kommt das ständig hörbare Mantra vom schönen Lotosjuwel, das aus Lautsprechern und aus den Mündern der Gläubigen klingt und für die passende Untermalung sorgt. Den Ohrwurm werde ich wohl eine Weile nicht mehr los. Om mani padme hum.
Rund um die große Haupt-Stupa warten noch einige interessante Tempel, Statuen, Stupas, Glocken und Trommeln auf ihre Erkundung. Überall sieht man Affen frech herumthurnen; auf Dächern, Buddhas, Bodhisattvas. Der Hügel von Swayambhunath bietet auch schöne Aussicht auf die westlichen Hügel und das staubige Kathmandu im Osten.

Auf dem Weg zurück in die Stadt gönnte ich mir einen Besuch im naturhistorischen und im National-Museum. Ersteres wartet mit einer großen Sammlung ausgestopfter Tiere und intetessanter Nashorn- und Elefantenembryonen auf. Eine lokale Schulklasse besuchte zeitgleich mit mir die Ausstellung. Nach dem ersten Museum wollte ich mich kurz auf eine Bank setzen, doch ein Affe machte mir mit Drohgebärden schnell klar, dass das seine Bank war. Vorbei an einer Militärkaserne, wo ich Rekruten exerzieren sah (ach … vor zehn Jahren war ich auch so einer), erreichte ich das Nationalmuseum. Auch dort gab es viele spannende Exponate: Gemälde, Statuen, ein Walskelett (so weit weg vom Meer), eine Mandalasammlung und noch viel mehr.

Nach dem Museum widmete ich mich Durbar Square, dem schönen Herz von Kathmandus Altstadt. Man könnte lang und viel über dieses bunte Gefüge von alten Tempeln (vor allem hinduistischer Natur), Palästen, Innenhöfen und Statuen schreiben. Ich habe Stunden dort verbracht und das bunte Treiben betrachtet. Einst hatten die nepalesischen Könige hier residiert. Ein Museum erzählt ihre Geschichte. Die verwerfliche Neigung dieser Herrscher sich in Großwildjägermarnier vor erschossen Tigern und Nashörnern portraitieren und fotografieren zu lassen, verhindert jegliche Sympathie. Das mysteriöse Massaker an der Königsfamilie von 2001 wird im Museum nicht erwähnt. Dem ausgestopften Lieblingssingvogel des Kronprinzen ist ein ganzer Raum gewidmet.
Einen der schönen, mit erotischen Schnitzereien versehenen Türme des Palastes darf man erklimmen. Von oben hat man schöne Aussicht auf Kathmandu und Swayambhunath. Interessant war auch, dass neben Vishnu, Shiva und Parvati auch Hanuman recht viel Verehrung zuteil wird. Der affenköpfige Freund Ramas ist in Nepal anscheinend sehr beliebt.

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Tag 28 – Patan

Problemlos und schnell gelangte ich morgens per Minivan ins nahe Patan, einst mit Kathmandu rivalisierende Stadt um die Vorherrschaft im Tal, heute eher Vorort. Die Pracht der Altstadt zeugt von vergangener Macht – wahrlich ein architektonischer Hochgenuss. Welche Flut wunderbar proportionierter Tempel mit kunstvollen Verzierungen. Dazu der einstige Königspalast mit seinem sehr gelungen
Museum (finanziert von Nepal und Österreich). Inzwischen bin ich recht geschult darin, mit wenigen Blicken zu erkennen, wem ein Tempel gewidmet ist. Ob Shiva, Vishnu, Lakshmi oder Parvati, ob Durga, Bairava, Indra, Hanuman oder gar Chandra – ich kenn mich aus (Ganesha ist natürlich trivial,  sein Reittier ist eine Maus).
Spannend war in Patan unter anderem, dass auf mehreren Tempeln jene Dachbalken, auf denen üblicherweise erotisch-pornographische Schnitzereien zu finden sind, stattderer Folterszenen zeigen. Das Museum zeigte mir einmal mehr, wie sehr sich spätere Formen des Buddhismus (insbesondere im vajrayana) mit hinduistischen Elementen vermengten. Beide Religionen klauen einander ein paar Götter weg. Seltsame Symbiosen tun sich auf. Auch über Tantrismus in Hinduismus und Buddhismus weiß das Museum von Patan viel zu erzählen. Ein Highlight sind auch die im Wiener Völkerkundemuseum entdeckten und nun in Patan ausgestellten Schwarzweißfotografien eines Österreichers, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts Nepal
besuchte und in seinen Bildern verewigte. Er hätte sich wohl nicht träumen lassen, das seine Fotografien  einst in jenem Gebäude ausgestellt würden, das er damals so eifrig fotografierte.

In seiner Gesamtheit ist der Durbarplatz von Patan wohl noch ein wenig eindrucksvoller als jener von Kathmandu. Aber auch die Tempel, Schreine und versteckten Innenhöfe im übrigen Patan verdienen Beachtung.

Im Innenhof des Museums sah ich etwa hundert Schüler, die in einer Art Kundgebung mit vielen selbstgebastelten Schildern auf die Gefahr von Erdbeben hinwiesen. Schon mehrmals fiel mir auf, dass bei den hiesigen Schuluniformen auch Mädchen Krawatte tragen.

Nachmittags kam der Regen und ich nahm den nächsten Bus zurück nach Kathmandu. Die sonst so staubigen Straßen der Altstadt waren nun voller
Schlamm. Ein jedes vorbeirauschende Motorrad sorgte für braunes Gespritz. Diese Stadt würde von asphaltierten oder gepflasterten Straßen in Kombination mit der ein oder anderen Fußgängerzone immens profitieren.

Es folgte ein gemütlicher Abend im nicht ganz authentischen Irish Pub von Thamel. Morgen früh flieg ich zum höchsten Punkt der Welt.

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Tag 29 – Kathmandu III

Blitze und Donnergrollen erfüllten den Himmel über Kathmandu, als ich kurz vor fünf Uhr morgens in ein Taxi stieg. Der Sicherheitsgurt war defekt. Bei Starkregen und beschlagener Windschutzscheibe raste der Fahrer durch die Nacht.

Am winzigen Flughafen von Kathmandu war banges Warten angesagt. Ich brachte in Erfahrung, dass der „Mountain Flight“ zum Everest und zurück gestern gestrichen worden war. Heute sah das Wetter weitaus schlechter aus. Aber letztlich ist es egal, wie es in Kathmandu aussieht. Wichtig ist, dass man aus der Luft die Berge sieht. Anscheinend war dem heute nicht so. Kurz nach sieben herrschte Klarheit. Kein Mountain Flight. Ein Umbuchen auf einen anderen Termin war kein Problem. In vier Tagen will ich noch einmal mein Glück versuchen.

Ich verließ den Flughafen zu Fuß (seltsam einen Flughafen zu Fuß zu verlassen) und erreichte nach wenigen Minuten den heiligsten Ort Nepals – zumindest für Hindus. Der Tempelkomplex von Pashupatinath ist eine Art nepalesisches Miniatur-Varanasi. Zentrum ist auch hier ein total verschmutzter – aber heiliger – Fluss (der Bagmati), in dessen Wasser man sich badet bzw. kurz vor ihrer Verbrennung die Toten taucht. Einer brannte gerade, als ich zugegeben war. Nach dem Blutbad an der Königsfamilie im Jahre 2001 war auch diese hier verbrannt worden. In den goldenen Haupttempel dürfen nur Hindus. Vom Tor aus kann man aber das Hinterteil einer riesigen, goldenen Nandi-Skulptur, sowie Shivas Dreizack erkennen. Der Andrang der Pilger war an diesem Tag sehr groß. Noch zahlreicher allerdings waren die Rhesusaffen, die frech auf den Brücken und Dächern herumturnten. Im Umfeld des Tempels gibt es viel zu sehen. Hunderte kleinere Tempel – ein jeder mit Nandi und Bhairav – warten darauf entdeckt zu werden. Immer wieder eröffnen sich schöne Aussichten auf Fluss und Haupttempel. Orangefarbene Sadus mit abenteuerlicher Haar- und Barttracht warten auf den Touristen, der sie fotografiert und dafür bezahlt. Immer wieder kreischen Affenchöre und übertönen den Singsang vom Tempel. Der in Intervallen wiederkehrende Regen zwang mich immer wieder unter dem nächsten Baum oder Tempeldach Schutz zu suchen und minutenlang die Atmosphäre zu genießen.
Über einen Hügel gelangt man zu weiteren Shivaschreinen und schließlich wieder hinab zum Fluss.

Ein freundlicher Nepalese wies mir den Weg zum nahen Bodhnath Stupa – Weltkulturerbe und Höhepunkt des Tages. Größer könnte der Gegensatz zur eben geschilderten hinduistischen Heiligstätte kaum sein. Die Bodhnathstupa ist neben Svayambunath und Lumbini eine der wichtigsten buddhistischen Stätten des Landes und obendrein die größte Stupa Asiens (und wohl auch der Welt? ). Insbesondere der tibetische Exilbuddhismus hat in den umliegenden Klöstern eine neue Heimat gefunden. Die Stupa ist riesig, das Ambiente fast noch eindrucksvoller als in Swayambunath – sogar im strömenden Regen.
Ich aß in einem kleinen Restaurant zu Mittag. Von meinem Fenster im Obergeschoss sah ich genau in eines von Buddhas Augenpaare auf der Stupa. Dazu hervorragendes vegetarisches nepalesisches Essen. Nach einer neuerlichen Umrundung der Stupa erkundete ich noch ein paar tibetische Klöster, doch der unnachgiebige Regen scheuchte mich schon bald in den nächsten Bus zurück nach Kathmandu. Die Straßen der Altstadt sind inzwischen zu Flüssen aus Schlamm geworden.

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Tag 30 – Bhaktapur

Aus dem noch regennassen Kathmandu gelangte ich binnen einer Stunde problemlos ins schöne Bhaktapur. An allen Straßen, die in die Altstadt führen, sind Tickethäuschen platziert, die dem Touristen ganze 1500 Rupien abnehmen. Doch das Geld ist gut investiert. Es dient dem Erhalt der einzigartigen Altstadt von Bhaktapur, Weltkulturerbe und architektonisches Juwel. Ich nahm mir ein ruhiges Hotel nur eine Gehminute vom großen Nyatapola Tempel (dem höchsten
Nepals) entfernt. Dann brach ich auf, die Altstadt zu erkunden. Man findet hier ganz ähnliche Dinge, wie in Patan und Kathmandu: einen Konigspalast,
viele imposante Tempel, Säulen, Tore, Wasserbecken und Statuen. Viele
Nandis und Garugas. Doch irgendwie ist alles wieder anders, alles neu zusammengewürfelt und mit anderen Akzenten versehen. Bhaktapur hat neben seinem Durbar square noch drei weitere imposante Plätze. Schön sind auch die vielen großen Wasserspeicher dieser Stadt, aus denen oft steinerne Kobras hervor lugen. Inzwischen war die Sonne zurückgekehrt. Auf einem
zweistündigen Rundgang durch beschauliche Gassen, abseits der
Touristenströme, bekam ich viel vom lokalen Leben zu spüren. Erstaunlich
wie viel Schulen es hier gibt. Und fast
jedes zweite Webeschild wirbt für irgendwelche Universitätslehrgänge
bzw. Auslandsstudienaufenthalte samt
Stipendien. Dieses Land hat so viel Bildungshunger, dass man einfach staunen muss.

Nachdem ich viel von Bhaktapur gesehen hatte, nahm ich den Bus zum Tempel von Changu Narayan und erreichte somit das siebte und letzte UNESCO Weltkulturerbe des Kathmandutales. Die übrigen sechs (Swyambunath, Bhodnath, Pashupatinath, sowie die Altstadt von Kathmandu, Patan und Bhaktapur); hatte ich bereits besucht. Mit Lumbini ist die Liste komplett. Ohne es beabsichtigt zu haben, ist mir kein einziges Weltkulturerbe Nepals entgangen.
Changu Narayan ist ein schöner, ruhiger Tempelkomplex auf einem Hügelkamm nördlich von Bhaktapur. Der dominante Gott ist hier Vishnu, auf welchen viele Symbole hindeuten. Die Garudastatue vor dem Tempel stammt aus dem fünften Jahrhundert, ebenso wie die Inschrift einer hier gefundenen Steintafel.
Schöner als der Tempel selbst war für mich der Rückweg nach Bhaktapur. Bei wunderschöner Aussicht auf Flüsse und Täler im Spätnachmittagslicht durchwanderte ich Dörfer und Wälder. Überall grüßen einen freundliche Einheimische (vor allem die Kinder) und fragen interessiert nach dem Woher
und Wohin. Die Sonne ging eben unter als ich nach eineinhalb Stunden
Fußmarsch wieder am Durbar Platz von Bhaktapur stand. Ich gönnte mir zur Stärkung eine lokale Spezialität. Bhaktapur ist berühmt für sein cremiges Naturyoghurt (the royal curd), das wirklich hervorragend schmeckt. In einem winzigen Laden, wo es nichts anderes gibt als Naturyoghurt, aß ich ganze drei Tonschüsseln und nahm mir vor morgen früh noch einmal vorbeizuschauen.

Abends las ich im Internet, dass der ungewöhnliche Wintereinbruch der vergangenen Tage seine Opfer gefordert hatte. Am Annapurnatrek nahe dem Thorung La Pass sind angeblich bis zu sechzehn Touristen verunglückt. Mehr noch werden vermisst. Auf meiner Reise habe ich einige Leute getroffen, die eben jetzt in der Nähe dieser heiklen Stelle im nördlichen Annapurna sind. Mit ein bisschen Regen bin ich wohl recht glimpflich davongekommen. Inzwischen ist es wieder warm und schön.
Abends saß ich noch auf einer Dachterasse inmitten der Altstadt, aß ein hervorragendes Chowmein und genoss es hinüber zum hohen Nyatapola Tempel und hinab zu den Musikern, die sich vor dem mächtigen Bhairabnath Tempel platziert hatten, zu blicken. Nach dem Essen stieg ich noch einmal die steilen Stufen zum Nyatapola Tempel empor. Unter mir spielten im Feuerschein die Musiker. Über mir leuchteten die Sterne. Unvergessliche Momente.

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Tag 31 – Nagarkot

Ich schlenderte am frühen Morgen ein letztes Mal durch die schöne Altstadt von Bhaktapur und aß ein gutes Frühstück. Hernach stieg ich in einen Bus, der mich binnen einer Stunde ins weiter nordöstlich gelegene Nagarkot brachte.
Der auf ca. 2200 Metern Höhe gelegene Ort hat vor allem eine Attraktion: seine atemberaubende Aussicht auf beinahe die ganze Himalayakette, vom Dhaulagiri weit im Westen, bis zum Kanchenjunga im Osten. Und einer der vielen Gipfel, die ich von meinem Zimmer aus sehen kann, ist der Everest. Ich muss nur noch herausfinden welcher. Die Charakerisierung von Ed Douglas „Everest ist wie ein hässlicher fetter Mann in einem Raum voll schöner Frauen“ trifft wohl erst aus der Nähe zu.

Ich verbrachte den Tag mit einer schönen Wanderung durch Wälder, Reisfelder und kleine Dörfer rund um Nagarkot. Die Fernsicht ist überwältigend. Hügel. Täler. Flüsse. Der Himalaya. Vor allem der Langtang Lirung scheint zum Greifen nah. Man setzt sich auf einen Felsen hoch über der Welt und bestaunt eine Welt, die noch viel höher ist. Grillen zirpen.

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Tag 32 – Kathmandu IV

Kurz vor fünf Uhr früh verließ ich mein Hotelzimmer und schlich mit Taschenlampe bewaffnet die dunklen Straßen von Nagarkot entlang. Mein Weg führte mich nach Süden zum etwa eine Marschstunde entfernt liegenden Aussichtsturm, der einen wunderbaren Blick auf den Sonnenaufgang versprach. In der allmählich lichter werdenden Nacht passierte ich viele heulende Hunde und am Ortsende das bewachte Tor einer Kaserne der nepalesischen Armee. Es ist ein durchaus seltsamer Anblick, so ein mit Hakenkreuzen verziertes Kasernentor samt Stacheldraht.
Nach einer halben Stunde fand ich auf der Straße zwei nette Israelis, die denselben Weg hatten. Wir tauschten einige interessante Infos aus.
Kurz vor Sonnenaufgang erreichten wir den Turm. Da das unterste Leitersegment fehlte, war die Besteigung etwas kapriziös. Die Aussicht war dafür wunderbar. Leider sah ich nur die halbe Himalayakette, da Wolken im Westen die Sicht versperrten. Die Sonne kam. Mehr Wolken zogen auf. Dennoch: der morgendliche Spaziergang hatte sich gelohnt. Nebel und Sonnenstrahlen sorgten auf dem Rückweg für besonders schönes Ambiente.
Zurück in Nagarkot nahm ich schon bald den Bus nach Kathmandu. Es galt, die Weiterreise nach Janakpur zu organisieren. Außerdem gab es in der Hauptstadt noch einige sehenswerte Attraktionenen.

Nachdem ich alles erledigt hatte, besuchte ich den Königspalast, der heute ein streng bewachtes Museum ist. Kameras und Handys müssen am Eingang abgegeben werden. Überall patrouillieren bewaffnete Wachposten. Der Palast selbst ist sehr sehenswert. Interessant ist vor allem auch der Aspekt, dass er bis in jüngster Vergangenheit noch „in Betrieb“ war. In den prunkvollen Räumen findet man unter anderem viele Fotografien von Staatsbesuchen der jüngsten Vergangenheit. König Birendra schüttelt darauf die Hände vieler einstiger  Staatsoberhäupter. Aus österreichischer Sicht fällt das nette Portrait mit Thomas Klestil auf. Eingehend betrachtete ich auch König Birendras Bücherschrank. Neben dem Gesamtwerk von Joseph Conrad (ach, Lord Jim) findet man hier auch viel Agatha Christie. Auch Victor Hugo, Shakespeare und Dumas sind vertreten. Im Regal gegenüber dem königlichen Schreibtisch (der wohl so ist, wie ihn Birendra 2001verlassen hat) fällt vor allem ein Bildband über die Steiermark auf.
Traurig ist, wie viele Tiger, Krokodile und Nashörner für die Innenausstattung des Palastes ihr Leben lassen mussten. Riesige ausgestopfte Tiger und Tigerteppiche zieren fast jeden Raum. Hinter dem Hauptgebäude weisen Wegweiser mit der Aufschrift „Massacre place “ zum Schiksalsort der nepalesischen Politik. Zehn Menschen ließen hier in der Nacht vom 1. Juni 2001 im Kugelhagel ihr Leben, darunter der König, die Königin und weitere Familienmitglieder. Über den genauen Tathergang kursieren viele Ger
üchte. Die plausibelste Variante sieht den Kronprinzen als Täter. Nach seinem anscheinend alkoholinduzierten Amoklauf soll er die Waffe gegen sich selbst gerichtet haben. Er überlebte die Nacht, fiel ins Koma und starb zwei Tage später. Während er im Koma lag wurde er – trotz seines Zustandes und des Umstands, dass er eben die ganze Königsfamilie niedergemetzelt hatte – noch schnell zum König gekrönt. (Er war ja schließlich der älteste Sohn. )

Nach diesem beeindruckenden Museumsbesuch verbrachte ich den Rest des Tages im grünen Garden of Dreams. Der kleine (mit österreichischen Geldern restaurierte) Park erinnert ein bisschen an Schloss Schönbrunn. Das angrenzende Kaiser Café hat guten Kaffee und eine hervorragende Sachertorte.

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Tag 33 – Everest

Mountain Flight, zweiter Anlauf. Die nächtliche Taxifahrt zum Flughafen und das Warten vor dem Eingangstor des kleinen Domestic Terminals waren eine nette Wiederholung der Erlebnisse vor vier Tagen. Größter Unterschied: der Himmel war klar, kein Donnergrollen, Sichelmond und Orion prangten hell und strahlend am dunklen Himmelszelt. Gänzlich andere Vorzeichen für meinen Flug zu den Bergen.

Gelandet. Die Aussicht war spektakulär. Während die Täler unter einem Wolkenmeer verborgen lagen, sah man von unserem kleinen, sechzehn Passagieren Platz bietenden Flugzeug aus die ganze Himalayakette. Die freundliche Stewardess erklärte einem jeden die eben sichtbaren Gipfel. Abwechselnd durfte man auch kurz ins Cockpit kommen und von dort die Aussicht genießen. Der Mount Everest und die umliegenden Achttausender
waren klar erkennbar. Weiß glitzerte der Schnee in der Morgensonne. Schön waren die so vielen so unterschiedlich geformten Gipfel. Der Gauri Shankar ist der schönste von allen – zumindest von Südosten betrachtet.
Das ist es also, das Dach d
, die höchste Erhebung auf dem Planeten Erde. Der Olympus Mons des Mars mag zwar dreimal höher sein, schöner ist mit Abstand der Himalaya. Der Flug hat sich gelohnt.

Nach der Landung im inzwischen so vertrauten Kathmandu war mir nach einem Spaziergang zumute. Binnen einer Stunde legte ich die (nicht besonders schöne) Strecke vom Flughafen nach Thamel zurück.

Mittag und frühen Nachmittag verbrachte ich ein letztes Mal auf dem zentralen Durbarplatz und in den umliegenden Vierteln. Lange saß ich Schatten verschiedener Tempel und las (einmal sogar bei einem Rama geweihten Tempel) in der Ramayana. Der böse König der Dämonen Ravana hatte eben die schöne (doch recht zickige) Sita entführt und der Affe Hanuman betrat die Bühne des Geschehens.

Und nun sitze ich schon fast zwei Stunden am chaotischen Busbahnhof von Kathmandu und warte. Die Ankunft bzw. Abfahrt meines „Deluxe“ Busses nach Janakpur verschiebt sich stets weiter nach hinten. Die meisten Informationen hier sind in ausschließlich in nepalesischer Schrift gehalten. Die Fahrtzeit des Buses soll zwischen elf und sechzehn Stunden schwanken. Das wird noch eine lange Nacht. So oder so, morgen Vormittag bin ich (hoffentlich) in Janakpur.

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Tag 34 – Janakpur

Die Busfahrt gestaltete sich äußerst kurzweilig und überraschend angenehm. Dank der bequemen Sitze mit weit zurückstellbarer Lehne habe ich wohl mehr geschlafen als nicht geschlafen. Neben mir saß ein freundlicher Nepali namens Depack, der – wie so viele hier- ein paar Jahre lang in Saudi-Arabien gearbeitet hatte. Er war eine große Hilfe. Als einziger Ausländer im Bus war ich oft nicht ganz im Bilde, was vor sich ging und warum der Bus nun schon wieder hielt. Depack erklärte mir, ob es sich nun um eine „urine break“ oder „dinner break“ oder „police control“ oder „gas station “ handelte. Die ersten zwei Stunden der Fahrt lief auf dem Bildschirm vor der ersten Reihe eine nepalesischer Film, dessen Ton penetrant aus dem Lautsprecher neben mir schallte. Ich verstand kein Wort, hatte aber meinen Spaß damit. Der Film (eine Art Gangsterschnulze mit Tanzeinlagen) war teilweise so schlecht, bzw. so anderen Ansprüchen unterliegend wie die mir vertraute Filmkultur, dass ich zu Depacks Verwunderug öfters laut auflachte. Was da an Schnitt und Perspektivenwechsel geboten wurde, war wirklich grandios. Und dann erst die Kampfszenen. Anscheinend gilt es hier als besonders cool (oder sogar sexy), wenn die Heldin der Geschichte (eine Undercover-Polizisten, die sich in einen Gangster verliebt) so richtig rotzig auf den Boden spuckt. Das macht sie jedenfalls ständig und alle Gangster schwelgen in staunender Anerkennung. Nach der ersten Hälfte des Films kehrte sich dessen Effekt auf mich um und ich fand überraschend schnell Schlaf.
Gegen zehn Uhr Abends erreichten wir eine Art Raststätte, an der uns ein köstliches und günstiges Dal Bhat mit reichlich Nachschlag serviert wurde, das beste Dal Bhat, das ich in Nepal bisher hatte (auch wenn ich es immer noch mit Gabel und Löffel anstatt mit den Fingern esse) .
Depack war überrascht, wie viel ich von der Ramayana und Sitas erdige Geburt aus einer Ackerfurche in Janakpur wusste. Ich erklärte ihm, dass ich eben das Buch lese uns dieses durchaus spannend finde.

Viele großteils im Schlaf verlebte Stunden später erreichten wir Janakpur.   Es war kurz vor Sonnenaufgang. Die Fahrt hatte also weniger als elf Stunden gedauert. Ich wimmelte ein paar Rikshas ab, befragte Kompass und Karte und spazierte ins Zentrum.

Schon der erste Blick auf den Janaki Mandir bestätigte mir, dass sich die Reise gelohnt hatte. Ein wunderbares Bauwerk, angeblich auf eben jenem Acker erbaut, in dessen Furche König Janak ein Mädchen fand, es als Tochter annahm und ihr – kreativ war er ja nicht – den Namen Sita (=Ackerfurche) gab. Ein weiterer (im Vergleich eher hässlicher) Tempel markiert die Stelle, an der Jahre später Rama Sita zur Frau nahm.

Hier in Janakpur bin ich der einzige westliche Tourist weit und breit. Es gibt auch kaum englischsprachige Beschilderungen – ganz anders als in Kathmandu oder Pokhara. Die ganze Stadt ist auf den indischen Pilgertourismus ausgerichtet. Hindus aus dem ganzen Subkontinent kommen hierher, um Sita anzubeten. Diese hat scheinbar auch irgendwann den Sprung von der Sterblichen zur Göttin gemacht. (Wichtiges Element der Ramayana ist ja eben, dass sowohl Sita wie auch Rama sterblich sind). Es ist ein bizarres Schauspiel, so viele gläubige Hindus vor den Tempeln und den teils sehr kitschigen Abbildungen und Puppen Sitas und Ramas andächtig beten und auf die Knie fallen zu sehen, bizarr vor allem deshalb, weil ich die Geschichte, auf der all dies fußt, eben lese. Darin ist Sita noch menschlich und klischeehaftes Musterbeispiel weiblicher Unterwürfigkeit gegenüber der Männerwelt. Aber darum geht es gar nicht. Ich lese die Ramayana so, wie ich auch andere Fantasy-Epen lese. Sie ist sehr spannend und poetisch ansprechend. Ich mag dieses Werk. Aber all diese Menschen vor den Puppen der Charaktere auf die Knie fallen zu sehen, kommt mir ebenso absurd vor, als würden wir Tempel zu Ehren von Gandalf, Roland of Gilead oder Harry Potter errichten. (Aber vielleicht ist das nur eine Frage der Zeit. 🙂 )
Schön an Janakpur sind auch die vielen relativ sauberen Wasserbecken, in denen sich Hindus rituell reinigen. Am Nachmittag spazierte ein Stück weit nach Süden in Richtung Grenze. Der hiesige Flughafen ist nicht mehr als Feld und geteerte Landebahn. Kein einziges Gebäude steht hier. Ein verblasstes Schild am Wegesrand trägt den Schriftzug: „Smile, u r in Janakpur, the birthplace of godess Sita!“ Die dominante Volksgruppe in dieser Region sind nicht Newars (die Nepali sprechen) sondern Mithilas. Diese haben auch eine eigene Sprache. Schön war’s durch die staubigen Dörfer zu schlendern. Wasserbüffel baden in Tümpeln. Ein Rikshafahrer transportiert in einer Art Käfig Schulkinder nach Hause. Bunt gekleidete Frauen tragen Körbe auf ihren Köpfen. Ein alter Mithila fragt nach meinem Woher und Wohin.
Morgen steht mir eine etwa sechsstündige Busfahrt bevor, diesmal am Tag. Es geht weit nach Osten. Und dann ein Stück weit nach Norden ins schöne Ilam.

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Tag 35 – Östliches Terai

Auch ein Tag, den man fast gänzlich in vollen Bussen verbringt, kann kurzweilig und unterhaltsam sein.
In Janakpur verließ ich gegen halb sieben mein Hotel. Es galt, einen Bus zu finden, der in Richtung Osten nach Kakarbhitta fuhr. Diesen wollte ich dann etwas früher, in Birtamot, verlassen, um von dort einen Jeep nach Ilam zu erwischen. Direktbus gab es keinen.
Umso überraschter war ich, als ich auf dem Weg zum Bus Park von Janakpur auf eine Schulklasse aus Ghorka stieß, die gerade mit eigenem Bus eine Tour durchs Land machte und deren nächstes  Ziel Ilam war. Die netten Schüler hätten mich am liebsten gleich mitgenommen, doch der Lehrer hatte etwas dagegen. Also zurück zu Plan A.
Am staubigen Buspark herrschte das übliche Chaos. Keine englische Beschilderung, kein Informationsschalter. Und stets, wenn man ratlos vor dem Chaos steht, kommt ein freundlicher Nepali mit gutem Englisch des Weges und hilft einem zum rechten Bus. Schon wenige Minuten später ging es los. Meine lange Fahrt durchs östliche Terai nahm ihren Lauf.

Sieben Stunden waren es bis nach Birtamot. Neben den Impressionen des ländlichen Lebens, die vor meinem Fenster vorüber huschten, unterhielten mich vor allem meine stets gesprächsfreudigen Sitzbachbarn. Zuerst ein Junge aus der Gegend, der fürs nahende Diwalifest zu seinen Eltern aufs Land fuhr, dann ein Lehrer, der Nepali unterrichtet und von der Schönheit seiner Sprache schwärmte. Ich zeigte ihm meine englische Version des Ramayana und er beklagte, dass im Akt der Übersetzung jegliche Poesie verloren ginge. Aus dem epischen Lied wird plumper Prosatext. Ich merkte an, dass dies wohl bei fast allen  Lyrikübersetzungen der Fall sei. Von westlicher Literatur wisse er leider viel zu wenig, klagte der Nepali-Lehrer. Auf der Schule würden davon nur zwei Werke ausführlich behandelt: Ilias und Odyssee. Homer setze er persönlich Audio dieselbe Stufe wie Valmiki. Neben der Literatur drehten sich unsere Gespräche vor allem über Politik und inwiefern ein Mehrparteiensystem durch zuviele Parteien seiner Sinnhaftigkeit beraubt würde. Wir erzählten uns einiges über Nepal und Österreich. Der Nepali-Lehrer beklagte die Unehrlichkeit der hiesigen Politiker und die Leichtgläubigkeit des Volkes.

Mein nächster Sitznachbar war ein Politiker der National Congress Party. Er war jung, engagiert und unterrichtete nebenbei Social Studies an einer Schule. Von ihm lernte ich einiges über die Ohnmacht der nepalesischen Regierung gegenüber den zwei riesigen Nachbarländern China und Indien. Nepal sei unfähig nur irgendetwas zu beschließen, was den zwei Riesen missfiele. Denn diese würden stets mit Importstopps drohen, was Nepal schwer träfe und in Kürze zu Grunde richten würde. Wegen mangelnder Eigenproduktion sei man vom Import vor allem indischer Waren abhängig.
Der Bus überquerte den Staudamm des immens breiten Sapt Kosi, der hier um einiges breiter ist, als der Ganges bei Varanasi. Vor drei Jahren, erklärte mir der Politiker, habe es an den Deichen seitlich des Flusses eine verheerende  Überschwemmung gegeben. Hunderte seien umgekommen. Einst fruchtbares Ackerland war immer noch mit Sand bedeckt. Ich sah es selbst vor meinem Fenster. Angeblich wäre der Dammbruch durch Ablassen von mehr Wasser leicht zu verhindern gewesen. Aber man musste wie in vielen Entscheidungen erst die Inder fragen  und die hätten Nein gesagt. Bei aller Abneigung gegenüber Indien hatte mein Sitznachbar aber enormen Respekt gegenüber Mahendra Modi und lobte diesen in höchsten Tönen. Allerdings werde auch Modi binnen weniger Jahre zusammenbrechen – so die Prognose.

Nach einer kurzen Pause mit günstigem Daal bhat ging die Fahrt weiter. Bald stieg auch der Politiker aus und ich konnte kurz meine Beine ausstrecken. Dann kamen neue Fahrgäste. Nach sieben Stunden erreichten wir endlich Birtamot. Hier erwischte ich schon bald einen Minibus mit Ziel Ilam. Doch die Abfahrt verzögerte sich. Busse fahren hier meist nicht zu bestimmten Zeiten ab, sondern dann, wenn sie voll sind. Durch das offene Fenster wurden mir andauernd Chips, Ananas, Bananen, Wasser, Nüsse und andere Sachen angeboten. Endlich fuhren wir los. Wie schnell sich das Klima änderte, je höher wir in die Hügel der Mahabharrata Kette hinauffuhren. Dichter Nebel hüllte uns ein. Es folgte ein feuerroter Sonnenuntergang. Erst eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit erreichten wir Ilam. Eine freundliche Dame aus dem Minibus half mir zum gesuchten GreenView guesthouse. Schnell kam der Schlaf.

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Tag 36 – Ilam

Ein ruhiger, schöner Tag. Erholt von der langen Fahrt erwachte ich im schönen Ilam und sog die Aussicht vom Hotel auf die wunderebar grünen Hänge mit tausenden Teebäumchen ein. Beim Frühstück verkostete ich ein erstes Mal die lokale Spezialität, den Ilam-Tee.
Steinerne Stufen führen mitten durch die steilen Teehänge hinauf zu einem modernen Aussichtsturm. Im Osten kann man bis zur indischen Grenze sehen. In alle Richtungen erstreckt sich saftig grünes Hügelland. Auf dem Weg zum Turm begegnete mir auch die Schulklasse aus Gorkha wieder, die ich von Janakpur kannte. Freundliche Leute aus Ilam fragten nach meinen Erlebnissen in Nepal und wann ich denn wiederkäme.
Beeindruckend ist auch, dass das ganze Dorf über ein weitreichendes Gratis-WLAN Netz verfügt. Sogar am Aussichtsturm hat man Empfang. Es gibt hier anscheinend auch ein Verbot von Plastiksackerl und viele Mülleimer. Die Leute müssen zwar noch lernen, sie richtig zu benutzen (der Müll liegt meist darum herum), aber immerhin sind sie da. Strom kommt hier zur Gänze aus Wasserkraft.

Der Rest des Tages war schön und unspektakulär. Ich saß lesend in Teehängen und sah den Frauen beim Ernten der Teeblätter zu. Kids aus der Gegend setzten sich gelegentlich zu mir, um Geschichten aus Europa zu hören und ihr wirklich gutes Englisch zu praktizieren.

Einige Zeit lang beschäftigte mich auch die Frage, wie ich denn den Weg nach Mai Pokhari fände. Dieser angeblich wunderschöne See sei in einer vierstündigen Wanderung über die Hügel zu erreichen, so hieß es. Nur hatte ich keine Ahnung, in welcher Richtung dieser See lag. Der kleine Touristeninfostand am Buspark konnte mir nicht wirklich weiterhelfen. Auch im Hotel hatte man keine Karte. Schließlich konnte nur mehr googlemaps weiterhelfen. Dort fand ich alles, was ich brauchte und kopierte mir die Daten gleich aufs Handy. Dies soll morgen mein Abschiedsspaziergang in Nepal werden.

Zu Mittag begab ich mich in eine der schattigen Spelunken der Hauptstraße und aß köstliche Momos. Dazu gab’s ein tongba, so der Name des lokalen Hirsebiers, das mit Bier nicht viel zu tun hat. Das Getränk ist süß, warm und schwach alkoholhaltig. Serviert wird es in einem metallenen Krug, aus dem ein metallener Strohhalm ragt. Während oben auf die Hirse schwimmt, saugt man von unten die Flüssigkeit ab. Mit einer Kanne heißen Wassers kann man einen weiteren Aufguss wagen. Von der Art zu trinken erinnert das Ganze an den südamerikanischen Mate, schmeckt aber völlig anders. Ein Israeli, den ich beim Raften begegnet war, hatte angemerkt, tongba sehe aus wie Durchfall und schmecke auch so. Der Geschmack ist in der Tat gewöhnungsbedürftig, doch nicht unbedingt schlecht. Über eine Stunde langt saugte ich an meinem Hirsebier.

Abends kam das große Planen. Ich stellte fest, dass es höchste Zeit war, die Züge für meine weitere Reise in Indien zu reservieren. Sonst würde ich keinen Platz mehr kriegen. Bis 14. November ist nun alles mehr oder weniger fixiert. Darjeeling, zwei ruhige Wochen in Sikkim, dann Kolkata, Puri und der Sonnentempel von Konark und schließlich Chennai. Dazwischen liegen jeweils Nachtfahrten in indischen Zügen, in denen ich bisher hervorragend geschlafen habe.
Morgen also: der letzte volle Tag in Nepal – ein langer, schöner Wandertag.

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Tag 37 – Mai Pokhari

Die achtstündige Wanderung des heutigen Tages war schön, aber unspektakulär. Ich durchwanderte viele Teegärten und überquerte die nördliche Hügelkette mit Blick auf Bach und Tal. Als ich einmal irr ging, brachten mich die Gesten einer freundlichen alten Dame rasch zurück auf den richtigen Weg. Nach dreieinhalb Stunden erreichte ich den sternförmigen See von Mai Pokhari, der reich an Seerosen und Goldfischen ist. Eine Weile saß ich lesend am Ufer, dann folgte ich dem Uferweg rund um den See. An einigen Stellen sind tibetische Gebetsfahnen übers Wasser gespannt. Am Nordufer findet man einen kleinen buddhistischen Tempel und einen Kräutergarten mit beschrifteten Heilpflanzen.
Auf dem langen Rückweg machte ich öfters Halt um zu lesen.

Das war er also, mein letzter Tag in Nepal, in diesem schönen grünen Land mit seinen freundlichen Menschen.

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Tag 38 – Darjeeling I

Der Tag hatte eine gewisse Symmetrie mit Symmetrieachse Grenze. Von Ilam ging es per Jeep drei Stunden auf kurviger Straße steil nach Süden ins Flachland hinab zu einem staubigen Ort. Von dort brachte mich ein Bus nach Osten zur Grenze. Von der Grenze fuhr ich per Bus weiter nach Osten an einen anderen staubigen Ort. Und dort stieg ich in einen Jeep, der mich binnen drei Stunden auf kurviger Straße steil hinauf ins schön Darjeeling brachte.

So eine Grenzüberquerung ist immer wieder spannend. Irgendwie waren die Beamten beider Länder um einiges grimmiger als vor einem Monat in Sunauli. Vor allem der uniformierte Inder der West Bengal Police blätterte lange recht skeptisch in meinem Reisepass herum und musste erst Rücksprache mit einem Kollegen halten, bevor er mir den nötigen Stempel in den Pass drückte. Keine Ahnung, was ihn so störte. Bengali verstehe ich genausowenig wie Hindi. Jedenfalls wurde ich eingelassen. Spannend war auch das etwa einen Kilometer breite Niemandsland zwischen den Grenzposten. Ich verließ den nepalesischen Grenzposten um 10:16 und erreichte den indischen – obwohl ich für die Durchquerung des Niemandslands eine Viertelstunde benötigte, exakt zur selben Zeit.

Darjeeling liegt auf über zweitausend Metern Höhe und bietet mit seiner schönen Lage auf einem Hügelkamm wunderbare Aussicht in jede Richtung. Schon die Fahrt war spannend. Neben der kurvenreichen Straße, die der Jeep fast zweitausend Höhenmeter emporratterte, sieht man immer wieder die Geleise der teils noch dampfbetriebenen Schmalspurbahn, die eine der Hauptattraktionen hier ist.
Rasch fand ich in Darjeeling ein Hotel nach meinem Geschmack. Der alte Portier ist sehr freundlich und heißes Wasser gibt es auch, wannimmer man will. Die Aussicht vom Dach ist atemberaubend. Man sieht weit nach Norden zum Khangchendzonga, dem dritthöchsten Berg der Welt und weit nach Sikkim hinein, das mit riesigen Statuen nahe Namchi über die Hügel hinweg grüßt.
Nun sitze ich eben in einer noblen Teestube und verkoste schwarzen, grünen und weißen Darjeeling Tee. Serviert wird der heiße Tee in Sektgläsern. Der Kellner lässt beim Servieren am verwendeten Kräutersatz riechen und erwartet zustimmendes  Nicken des Gastes. Die Preise für ein Sektglas Tee schwanken zwischen dreißig Cent und fünf Euro. Dazu gibt’s bekömmliche Bisquits. Aus den Lautsprechern tönen die Beatles in Dauerschleife.
Während ich noch Tee trank wurde es Nacht und vor der Tür begann das funkelnde Treiben des Diwalifestes. Vor allen Häusern werden Teelichter und andere Kerzen aufgestellt. Feuerwerkskörper werden in die Luft geschossen und zieren den Himmel. Auf einer Bühne im Stadtzentrum singen und tanzen lokale Performer. Vom Hügelkamm sieht man das bunte Lichtermeer der Täler, deren Siedlungen wie Sterne in der Nacht funkeln. Dazwischen blitzt und donnert es, da ständig neue Feuerwerkskörper die Nacht erhellen. In der Stadt zieren zusätzlich tausende farbenfrohe Lichterketten die Straßen und Fassaden. Von den Dächern stürzen bengalische Feuer. (Moment mal, ich bin ja hier in Bengalen. Aha-Erlebnis)
Wohin man blickt, es herrscht ausgelassene Stimmung. Die Menschen rufen einander „Happy Diwali“ zu. Kerzen und Feuerwerk. Diwali riecht wie Silvesterabend und Weihnachten zugleich. Ein schönes Fest. Lakshmi sei dank. (Ihr ist der ganze Zauber zu verdanken. Lakshmi = weibliche Hälfte oder Skakti von Vishnu. Beide reiten gerne auf Garuda, aber das ist eine andere Geschichte.) Eben schlägt die Turmuhr zur vollen Stunde die Melodie des Big Ben. Gute Nacht, Welt. Happy Diwali.

Tag 39 – Darjeeling II

Früh morgens schlich ich aus meinem Hotel und wanderte durch leere Straßen. Ich folgte dem Hügelkamm in Richtung Norden zum Observatory Hill. Der Name trügt. Vom Hügel hat man keine Aussicht, wohl aber von der autofreien Straße, die ihn umrundet. Hier gibt es zahlreiche Aussichtspunkte. Hier erlebte ich einen der bisher schönsten Sonnenaufgänge dieser Reise. Hauptattraktion war dabei nicht die Sonne selbst, sondern Khangchendzonga und seine Nachbargipfel, eine hohe, zackige, weiß leuchtende Wand, die scheinbar sehr nahe dem Betrachter in die Höhe ragt. Zum ersten Mal ein Stück Himalaya ganz wolkenfrei und wunderschön. Der dritthöchste Punkt der Erde in voller Pracht.
Längst war ich nicht mehr der einzige an der Straße nördlich des Hügels. Viele Inder joggten an mir vorüber, machten Dehnübungen und andere Varianten des Morgensports. Plötzlich herrschte reges Treiben.
Ich flüchtete auf den Observatory Hill, der rein gar nichts mit Beobachtung zu tun, handelt es sich dabei doch um einen religiösen Ort. Der beschauliche Hügel verfügt über einen Shiva Tempel, eine kleine Höhle mit Schrein, viele Stupas und tausende dicht an dicht gespannte Gebetsfahnen. Hinduisten und Buddhisten ist der Ort heilig. Er ist außerdem Refugium für tausende Affen, die man in allen Richtungen sieht. Schilder warnen davor, sich nicht von ihnen bestehlen zu lassen. Schon so mancher Besucher hat wohl sein Smartphone an einen Affen verloren. Scheu haben die Tiere kaum. Einer drückte mich frech zur Seite, als ich ihm im Wege stand.
Da ich nicht schnell genug floh, fiel ich einem Sadu in die Hände, der mich einmal mehr mit Tika auf der Stirn, sowie mit rotem Band am rechten Handgelenk und zahlreichen Segnungen ausstattete, natürlich im Austausch gegen baksheesh.

Östlich des Hügels führt ein Pfad steil hinab zur Bhutia Busty Gompa, einem schönen tibetischen Tempel vor dem dramatischen Hintergrund Khangchendzongas. Im Inneren gibt es schön Wandmalereien. Unweit des Tempels ist eine von vielen Refugien für tibetische Flüchtlinge, die hier traditionelle Handwerkswaren herstellen (Teppiche, Holzschnitzereien, etc.)

Da ich allmählich hungrig wurde, erklomm ich den Hügelkamm und gönnte mir ein gutes Frühstück in Darjeeling, natürlich mit Tee. Danach schlenderte ich in Richtung Tiergarten. Dieser, anscheinend „one of the finest zoos in India“ ist, wie alle Zoos, ein eher trauriger Ort. Rastlos schreiten Tiger, Nebelleopard, Schakal und schwarzer Panther die Gitterstäbe, die ihre viel zu kleine Welt begrenzen, auf und ab – als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Immerhin, der Zoo brüstet sich damit, erfolgreich seine Schneeleoparden- und rote Pandapopulation vermehrt und teilweise in freie Wildbahn entlassen zu haben. Am beeindruckendsten waren wohl die Tiger, deren schiere Größe staunen lässt.

Um einiges schöner und bewegender als den Zoo, empfand ich das auf dem selben Gelände platzierte Himalayan Mountaineering Institute, das sich in zwei Stockwerken zum Einen der faszinierenden Geographie des Himalaya, zum Anderen der heroischen Geschichte seiner Besteigung widmet. Wirklich gut gemacht. Auf einer großen dreidimensionalen Karte kann man per Lämpchen leicht die einzelnen Gipfel und Gewässer identifizieren. Das tibetische Plateau, die schiere Höhe von Himalaya und Karakorum – alles wird einem viel stärker bewusst. In der Historie der Besteigungen tauchen natürlich auch bekannte Namen wie Reinhold Messner und Hermann Buhl immer wieder auf. Hauptaugenmerk ist allerdings die Erstbesteigung des Mount Everest – nicht zuletzt weil einer der Mitbegründer des Museums kein geringer war als Tenzing Norgay, der viele Jahre lang in Darjeeling lebte. Vor dem Museum zeigt seine Statue den heroischen Moment von 1953. Daneben ist die Plattform, auf der sein Körper verbrannt wurde. Viele Bilder dokumentieren das Leben dieses anscheinend überaus sympathischen Sherpas.

Vom Zoogelände ist es nicht weit bis zum Rangit Valley Ropeway. Diese etwas ineffiziente Seilbahn (nur acht kleine Gondeln zwischen denen je über hunderte Meter Abstand ist ?) führt weit hinab, hoch über schöne Teegärten hinweg, in ein kleines Dorf. Die gewohnte Ausrichtung einer Seilbahn ist hier invertiert. Die Zivilisation ist oben und nicht unten. Jedenfalls war die Aussicht von der Gondel auf die grünen Täler wunderschön. Das Dorf am Fuße der Seilbahn ist winzig. Es gibt eine Kirche und ein paar Häuser, keine richtige Zufahrtsstraße, nichts, was die Existenz der Seilbahn funktional rechtfertigen würde. Fast alle Besucher fahren herab und gleich wieder hinauf. Ich blieb eine Weile, verfolgte einen schwarzen Ziegenbock  durch Teegärten und aß in einem kleinen Restaurant zu Mittag.
Wieder oben angelangt folgte ich der Straße in Richtung Darjeeling. Ich kam an einem riesigen palastartigen Gebäude mit blitzsauberem Swimming Pool vorüber. Die ganze Anlage war menschenleer. Es handelte sich um kein Luxushotel, auch um keine Residenz der Reichen und Mächtigen, sondern um ein renommiertes Jesuitengymnasium. Dieses und bis zu vier weitere katholische Bildungseinrichtungen in der nahen Umgebung sind wohl Mitursache für den relativ hohen Prozentsatz an Christen in der Region. Es gibt zahlreiche Kirchen und sogar Mariendenkmäler am Wegesrand. Unweit daneben findet man dann wieder Shiva und Vishnu. Welch ein Kontrast.

Ich verließ die Straße und stieg einen schönen Tiergarten hinab zum Happy Valley Tea Estate, dessen Produkte zum Teil im Harrod’s in London landen. An anderen Tagen kann man hier auf einer Gratis-Führung die diversen Schritte der Teeproduktion studieren, heute war wegen Diwali geschlossen.

Vom Feiertagstreiben bekam ich auch bei meiner anschließenden Wanderung steil hinauf durch ein eher ärmlicheres Viertel einiges mit. Wie in Nepal beim Dasain Fest vergnügt sich auch hier die ganze Familie am Feiertag beim Glücksspiel, ob mit Karten, beim  Steinchenwerfen, beim Brettspiel oder bei einer Art Gruppen-Sudoku. Irritierend war nur jenes Haus, vor dem nicht gespielt wurde, doch dafür ein Bibelspruch auf dem Vordach verkündete, dass kein anderer Glaube zum Segen führte. Seufz.

Ich beendete das Sight Seeing des Tages mit einem Spaziergang im steilen botanischen Garten. Einige Locals spielten westliche Lieder auf der Gitarre. Abends gab’s gute bengalische Küche in Darjeeling.

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Tag 40 – Darjeeling Himalayan Railway

Ein Tag für Eisenbahnnostalgiker. Der über hundert Jahre Darjeeling Himalayan Railway windet sich von Darjeeling aus talwärts. Zweitausend Höhenmeter liegen zwischen den zwei Termini Siliguri im Tal und Darjeeling in den Bergen. Die abenteuerliche Bahnstrecke, auf der auch noch echte  Dampflokomotiven verkehren, weist nicht nur haarsträubend enge Kurven, sondern auch zahlreiche Z-Passagen (Zug ändert Fahrtrichtung, um weiterzukommen), sowie einige spannende loops auf, in welchen die Geleise eine ansteigende ca. 630  (360+270) Grad Kurve vollziehen und sich dabei per Brücke selber überkreuzen. Nebenbei ist die Bahnstrecke mitsamt ihren alten Lokomotiven UNESCO Weltkulturerbe.

Ein Stück weit bin ich diese historische Strecke gefahren. Die Fahrt begann (wie für Indien üblich) mit einer einstündigen Verspätung. Anscheinend war ein Bindeglied zwischen zwei Waggons defekt. Zehn indische Bahnangestellte widmeten sich dem Problem, kamen aber nicht recht weiter. Schließlich wurde ein ganzer Waggon ausgetauscht. In der Zwischenzeit suchte ich einen nahen Tempel auf und beobachte auch die komplexe Verschiebetätigkeit am urigen Bahnhof von Darjeeling.
Endlich ging es los. Der Reiz der Fahrt wird ein bisschen durch die Straße geschmälert. Fast die ganze Strecke lang bleiben die Schienen in deren Nähe und kreuzen sie gelegentlich. Die Bahn fährt auch sehr dicht an Häusern und Läden vorbei. Man kommt fast in Versuchung nach den frischen Tomaten zu greifen, die nur zehn Zentimeter vor dem offenen Fenster vorbeigleiten.
Die spannendste Stelle der Strecke war der Batastia Loop, besagte 630 Grad Kurve, in deren Mitte sich ein Kriegsdenkmal befindet. Auf dem Rückweg kam ich hier zu Fuß vorüber. Schön ist’s, auf dem Hügel zu stehen und schon von fern die Rauchsäule der nahenden Lokomotive zu sehen und ihre Schnaufen und fröhliches Pfeifen zu hören. Wenn man dann auf der Brücke steht, der Zug unter einem hindurchgleitet, man das Feuer im Kessel lodern sieht und Aschestücke auf einen herabregnen, dann ist dies Eisenbahnromantik pur.
Ich fuhr bis Ghum und besuchte dort das kleine aber schöne Eisenbahnmuseum. Gleich zu Beginn sieht man eine Liste der 1007 UNESCO Welterbestätten. Was für ein lockendes Unterfangen es doch wäre, sie in einem Menschenleben alle zu besuchen…

Von Ghum trat ich zu Fuß den Rückweg nach Darjeeling an und besuchte einige schöne buddhistische Tempel am Wegesrand. Meistens marschierte mitten auf dem Bahngleis. Hier ist man vor den Autos sicher. Die Züge hört man ohnehin schon von weitem. Nahe des Batastia Loops aß ich ein hervorragendes Curry. Am frühen Nachmittag war ich wieder in Darjeeling.

Eine weitere Attraktion des Tages war die japanische World Peace Pagoda, Schwesterstück zu jenen in Lumbini und Pokhara und achtzig anderen weltweit. Ihre Lage am bewaldeten Berghang mit diesen riesigen Bäumen zeichnet das Exemplar von Darjeeling aus. Ein sehr friedlicher Ort. Im buddhistischen Tempel nebenan war gerade eine Art Zeremonie im Gang. Ein Mönch drückte mir eine Art Trommel in die Hand und lud mich ein, mich auf den Boden zu setzen und im Takt  mitzutrommeln. Da saß ich also und trommelte mit Indern und Exiltibetern zu irgendeinem Singsang. Irgendwann wurde mir das ganze dann doch zu eintönig und ich ergriff die Flucht in die Wälder.
Eine Sache, die ich noch erwähnen möchte, ist die relativ starke Unabhängigkeitsbewegung der Region. Der Norden von Westbengalen strebt ev. gemeinsam mit Sikkim die Schaffung eines unabhängigen Gorkhaland an. Auf vielen Gebäuden kann man entsprechende Slogans lesen.

Tag 41 – Kalimpong I

Nach gutem Frühstück machte ich mich auf den Weg ins ehemalige buddhistische Königreich Sikkim. Als Tourist braucht man eine Art Sondererlaubnis, um diese entlegene  Provinz Indiens zu betreten. An sich ist diese leicht zu bekommen. Man braucht lediglich ein Passfoto und eine Kopie seines Visums. Allerdings hatte die zuständige Behörde zeit meines Darjeeling Aufenthalts aufgrund der Feiertage geschlossen. Ich dachte, dies sei nicht weiter problematisch, da es ja auch an der Grenze in Rangpo eine entsprechende Dienststelle gebe. Am Morgen teilte mir der freundliche Fahrer des Jeeps nach Gangtok aber mit, dass diese sonntags ebenfalls geschlossen habe. Es gab also keinerlei Möglichkeit für mich, heute nach Sikkim zu reisen, es sei den illegal im Kofferraum.
Ein weiterer Tag in Darjeeling wäre mir zu langweilig gewesen. Also stieg ich einfach in den nächsten Jeep nach Kalimpong, eine Stadt weiter nordöstlich nahe den Grenzen nach Sikkim und Buthan.
Die zweistündige Fahrt führte tief hinab ins Tal des Teesta Flusses. Ich genoss die angenehme Wärme tieferer Regionen. In Darjeeling hatte ich hin und wieder ein bisschen gefrorenen. Nun war es warm. Unzählige Affen säumten den Straßenrand und sahen den vorbeifahrenden Jeeps zu.

Kalimpong empfing mich freundlich. Problemlos und schnell fand ich ein günstiges Hotel. Viel mehr gab es an diesem Tag nicht zu tun. Eine Wanderung zu den nahen Ruinen, wo vor vier Jahrhunderten die Könige von Lepcha erbittert gegen die Armeen von Buthan gekämpft und verloren hatten, reizte mich, doch dafür war es heute schon zu spät. So las ich Ramayana, ließ mir das Essen schmecken und schrieb Emails. Sikkim lief mir nicht davon.  Morgen würde ich mir Zeit nehmen, um Kalimpong zu erkunden.

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Tag 42 – Kalimpong II

Da ich am Morgen keinen Jeep nach Algarah zu den Ruinen fand, ließ ich mich stattdessen auf den etwa zehn Kilometer weit entfernten Deolo Hügel bringen. Vom grünen, blumenreichen Park am Hügel mit seinen vielen kleinen Pavillons hat man eine fantastische Aussicht zur Himalayakette im Norden. Weit unter sich sieht man den Grenzfluss nach Sikkim und die Brücke, die ich wohl morgen überqueren werde. Die Hügel im Osten markieren die nahe Grenze zum Königreich Buthan. Etwas nördlich davon liegt das Dreiländereck Indien-Buthan-China.
Bei dieser Aussicht saß ich lange am grünen Hügel, sah wie Khangchengdzonga sich hinter Wolken versteckte und wieder sichtbar wurde und las von der großen Schlacht um Lanka im Ramayana Epos. Was für ein unerwartetes Lesevergnügen. Die Dynamik, die diesem Werk innewohnt, erstaunt mich immer noch. Es würde mich sehr wundern, wenn Tolkien für seine Schlacht um Minas Tirith nicht wesentlich von der Ramayana inspiriert worden ist. Dasselbe Spiel von Aussichtslosigkeit und Hoffnung, von bitterer Enttäuschung und unerwarteter Wendung findet man in beiden Werken. Im Unterschied zu Tolkien wird in der Ramayana auch die Seite der Verlierer näher charakterisiert. Ravana, der nach und nach alles um sich sterben sieht und selbst die Schuld daran trägt, erinnert stark an den Macbeth des fünften Akts. Die Schlacht ist geschlagen, Ravana gefallen, Rama und Sita wieder vereint. Es fehlen nur noch ein paar Seiten. Als nächstes werde ich mich wohl dem zweiten großen indischen Epos widmen. Die Mahabharata ist schon auf meinem Kindle.

Vom Hügel aus abwärts schlendernd, lockte mich an der ersten Abzweigung ein Schild, das zu Speis und Trank einlud. Ich erreichte ein kleines, modernes Hotel. Der überaus nette Besitzer hieß mich herzlich willkommen. Obwohl ich nur für etwa drei Euro zu Mittag aß und dabei die herrliche Aussicht von der Dachterrasse genoss, zeigte mir der Mann nach gutem Chowmein  und Vanillepudding stolz sein ganzes Hotel, das erst seit einem Monat geöffnet hatte. Er erklärte mir die Hügel und Täler von Sikkim, zeigte mir die modern eingerichteten Zimmer und ein paar nette Aussichtspunkte in der Umgebung. Zu Österreich fiel ihm zweierlei ein: „The Sound of Music“ (Seufz) und Jörg Haider! (Mit Rechtsextremismus erlangt  man anscheinend bis ins nördliche Westbengalen Bekanntheit.)

Der stolze Hotelbesitzer zeigte mir noch einen weiteren Aussichtspunkt und ließ mich dort lesend zurück. Zuvor versprach ich noch, ein paar lobende Zeilen auf seiner Hotel-Homepage und auf Tripadviser zu schreiben. Dies schien ihm viel Wert zu sein.

Nach einer weiteren Ramayana-Stunde spazierte ich weiter abwärts. Es gab auch die Möglichkeit vom Hügel per Tandem-Paragliding zurück nach Kalimpong zu gelangen, aber heute war mir mehr nach Spaziergang.

Auf einer kleinen Anhöhe am  Wegesrand stieß ich wenig später auf ein großes, christliches Kreuz. Darunter, gegen das Kreuz gelehnt, saßen drei alte Inder (mindestens sechzig) und rauchten vergnügt Marihuana. Ich plauderte ein bisschen mit ihnen und setzte meinen Weg fort.

Bald erreichte ich Dr Graham’s Home, ein über hundert Jahre altes, christliches Internat und Weisenhaus. Gegründet von einem schottischen Missionar, wurde hier ein Stück Schottland geschaffen. Vor allem die gotische Kapelle und die Sauberkeit der ganzen Anlage lassen vergessen, dass man in Indien ist. Umgeben von hunderten meist ballspielenden Schülern in netten Uniformen durchquerte ich den waldreichen  Campus und erreichte bald die steilen Außenviertel von Kalimpong. Hier rastete ich noch eine Weile auf dem grünen Gelände eines buddhistischen Klosters. Abends gab’s gutes Paneer in Kalimpong.

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Tag 43 – Gangtok

Nach gutem Frühstück in Kalimpong suchte ich mir einen Jeep nach Rangpo an der Grenze zu Sikkim. Die Fahrt führte tief hinab ins Tal des grünen Teestaflusses und folgte diesem stromaufwärts. In Rangpo erhielt ich nach kurzem Warten von freundlichen Beamten mein Sikkim permit (ein unhandlicher Zettel, größer als A4 und einen Stempel in den Pass. In jedem Hotel sei hier beides vorzuweisen.) Durch enge, grüne Täler, die sehr an  Tirol erinnern, erreichte ich mit dem nächsten Jeep Gangtok, die dreißig tausend Einwohner große Hauptstadt Sikkims.

Es ist verblüffend. Hier in diesem entlegenen Winkel Indiens, diesem vom Westen historisch nahezu unberührten Bergland, eingezwängt zwischen Nepal, Tibet und Buthan, finde ich den europäischsten Fleck Indiens, den ich bisher gesehen habe.
Mit seiner breiten, gepflasterten  Fußgängerzone (auf der sogar Rauchverbot herrscht), seinen modernen Läden und Restaurants, seiner Straßenbeleuchtung, seinen Brunnen und den aufwändigen
Fußgängerübergängen erinnert Gangtok stark an Europa. Man ist Jahrhunderte entfernt vom Chaos Delhis. Die nebligen grünen Täler ringsum tragen das ihrige dazu bei, dass ich mich hier ein bisschen heimisch fühle.

Nach köstlichen Momos im Tibet House blieb noch ein bisschen Zeit für Erkundungen. Ich stieg hinab zum Namgyal Institut für Tibetologie. Dieses tempelartige Museum zeigt bis zu eintausend Jahre alte Schätze des tibetischen Vajrayana Buddhismus. Vor allem die Schriftrollen, sowie die aus menschlichem Schädel gefertigten Trinkgefäße sind sehenswert. Die meisten anderen Museumsbesucher trugen buddhistische Mönchsgewänder. Nach dem Besuch einer anbeiliegenden Chorten, begab ich mich zur nahen Seilbahn, die in zwei großen Gondeln Besucher hinauf auf die Hügelkante nahe Gangtoks Zentrum führt. An der Kassa stellte ich fest, dass der Sinn der Seilbahn nicht im Transport von A nach B, sondern allein  im Genuss der Aussicht besteht. Es gibt nämlich kein one-way ticket. Man fährt hinauf und gleich wieder herunter. Der Mann an der Kassa war nicht sehr diskussionsfreudig. Also zahlte ich eben mein return-Ticket, stieg oben als einziger aus und war binnen weniger Minuten wieder in der Altstadt. Erwähnenswert ist natürlich auch die schöne Aussicht von der Gondel auf das in die steile Hügelflanke gebaute Gangtok und die nebligen Täler.
Es wurde kälter. Regen kam. Ich flüchtete mich zu Kaffee und apple crumble und verbrachte noch einen
angenehmen Abend.

Nach südindischen Abendessen studierte ich noch die zahlreichen Poster, die am Eingang der Fußgängerzone anlässlich der „sanitation and zero waste awareness week “ auf die vielen Möglichkeiten, Indien sauberer zu machen, hinweisen. Wie es scheint, wird in Sikkim schon viel getan. Einige Gemeinden sind plastikfrei geworden. Restaurants ist der Gebrauch von Wegwerftellern und -besteck verboten. Sehr vorbildlich

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Tag 44 – Rumtek

Obwohl es schon um halb sechs hell ist, muss man bis halb neun Uhr warten, bis man in Gangtok irgendwo frühstücken kann. Dies tat ich dann ausgiebig.
Als ziel des Tages wählte ich mir das Kloster von Rumtek, Exilheimat der buddhistischen Schwarzhut-Sekte. Zuvor erkundigte ich mich noch, inwiefern es möglich war, für den nächsten Tag eine Tour zum Tsomgo See, einem schönen Gebirgssee nahe der chinesischen Grenze, zu organisieren. Es war gar nicht möglich, stellte sich rasch heraus. Für die Gegend östlich von Gangtok braucht man eine zusätzliche Sondergenehmigung und diese werde nur an Gruppen mit maximal vier Personen vergeben. Da ich bisher nur einen anderen westlichen Touristen in Gangtok gesehen hatte, waren die Chancen eine Gruppe zusammenzukriegen äußerst gering. Auch für Nordsikkim herrschen ähnliche Bestimmungen. Wovor haben die Leute denn Angst? Dass ich einen Grenzkonflikt mit den Chinesen anzettle? Die Grenze ist übrigens ziemlich dicht. Niemand darf von Indien über Land nach China einreisen. Touristen dürfen nicht einmal in die Nähe der Grenze. Nur indische Händler dürfen queren, sofern sie am selben Tag wieder zurückkommen.

Das hiesige Transportprinzip, unter welchem Jeeps und Busse erst abfahren, wenn sie zum Bersten voll sind, erwies sich heute als äußerst nachteilig. Über eine Stunde saß ich im Jeep nach Rumtek und wartete auf die Abfahrt. Endlich ging es los. Obwohl man von Gangtok freie Sicht hinüber nach Rumtek auf der anderen Talseite hat, dauert die Fahrt ganze eineinhalb Stunden. Schließlich stand ich vor den Toren des schwer bewachten Klosters.

Es herrscht anscheinend eine gefährliche Kontroverse innerhalb der Schwarhutsekte. Als ihr letzter Führer, der Karnapa (das ist der, der den schwarzen Hut tragen darf), 1993 starb, entstand ein bis heute ungelöster Konflikt um seine Nachfolge. Zwei Kandidaten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Seit ein paar Mönche der einen Fraktion das Kloster gewaltsam erstürmen wollten, wird es von schwer bewaffneten Paramilitärs bewacht.

Es war interessant durch das beachtliche Bauwerk zu schlendern. Auf dem Vorplatz mit seiner Säule, die eine alte Inschrift trägt, veranstalten die Mönche zweimal jährlich einen wilden Maskentanz, bei dem die Fratzen zahlreicher Dämonen lebendig werden. Ein Höhepunkt des Besuchs war der ornamentverzierte Raum der goldenen Stupa zu sehen, welche die Asche des letzten legitimen Karnapa enthält. Ein Foto zeigt ihn strengen Blicks mit seinem schwarzen Hut, welcher, da aus den Flügeln göttlicher Wesen gefertigt, einfach davon fliegen würde, hielte man ihn nicht fest. Jaja.

Nach ein paar guten Momos trat ich die etwas umständliche Rückfahrt nach Gangtok an und gönnte mir dort Kuchen und Tee aus Sikkim.

Am Nachmittag stieg ich noch auf die Hügelkante oberhalb Gangtoks hinauf. Diese ist schön begrünt und weist neben einem großen Springbrunnen auch Aussicht nach West und Ost auf, leider wolkenverhangen. Eine Straße führt weiter hinauf zur Enchey Gompa. Hier stieß ich auf eine deutsche Reisegruppe und lauschte eine Weile lang den Ausführungen der Reiseleiterin zum Buddhaschrein und den anbei stehenden Bodhisatwas. Zufrieden damit, dass ich fast alles schon wusste, lauschte ich noch den Mönchenbei ihrem lauten Gebet, das wahrlich ein akkustisches Erlebnis ist.
Zurück in der Gandhi Marg (der Fußgängerzone) gönnte ich mir exzellentes Paneer Butter Masala mit schräger, chinesischen Lifemusik und hernach im Hotel eine hervorragende Al Jazeera Reportage über Mädchenschulen im heutigen Afghanistan.

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Tag 45 – Ravangla

Man schläft schlecht, wenn unmittelbar vor dem Fenster ständig Knaller und Feuerwerkskörper explodieren. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was eigentlich gefeiert wurde. Diwali war doch schon vor sechs Tagen. Seltsam war auch der Zeitrahmen des Festes. Am Abend war es in Gangtok ruhig gewesen. Kaum Leute auf den Straßen. Ich denke, bis ca. drei Uhr früh recht gut geschlafen zu haben. Dann ging das Knallen los, dann die Musik. Als ich dann gegen ca. vier Uhr morgens leicht benommen aus meinem Fenster blickte, waren die Straßen voll mit Menschen. Familien mit kleinen Kindern, alt und jung, zogen in Festtagstracht umher, eine Band spielte irgendwo traditionelle Lieder und überall krachten die Feuerwerkskörper. Schließlich regneten sogar vom Dach über mir farbige Funken hernieder. Mit Sonnenaufgang war der Spuk vorbei und Ruhe kehrte ein. Hinter den Hügeln sah ich Khangchengdzonga leuchten.
Gegen acht schlenderte ich durch die leere, aber mit Spuren des Festes bestreute, Fußgängerzone. Man sagte mir, dass der nächste Jeep nach Ravangla erst um zwölf Uhr abfahren würde. Ich genoss also einen ruhigen mit Tee, tibetischem Essen und den ersten paar Kapiteln der Mahabharata. O Arjuna, Yudhisthira, ihr wart mir immer schob sympathisch.

Die drei Stunden Fahrt nach Ravangla waren abenteuerlich. Sikkim ist sehr vertikal. Schmale Straßen krallen sich in steile Hänge und winden sich mühsam die Täler hinauf. Ringsum sind saftig grüne Wälder, Felsen und Bäche, manchmal Wasserfälle. Stellenweise lösen sich die Straßen ganz auf und der Jeep muss ein Stück weit einem steinigen Bachbett folgen. Sikkim macht wirklich Lust aufs Autofahren. Nicht selten fühlte ich mich an meine zweiwöchige Tour durch den Westen der USA erinnert, vor allem an die schöne Strecke zwischen Silver City und den Höhlenhäusern von Geela und an die einsame Schotterstraße durch die Steppe New Mexicos südlich des VLA. Wär schon schön hier in Sikkim mit eigenem Fahrzeug unterwegs zu sein. Bequemer wäre es bestimmt.

Wir erreichten Ravangla unter wolkenverhangenem Himmel. Da ich mich wieder über zweitausend Meter befand, war es merklich kühler. Ich nutze den Rest des Tages um die nahe Gompa auf einem Hügel nördlich des Dorfes zu besuchen. Ein atmosphärisches, einsames Klostergebäude grüßte mich im Nebel. Das tiefe Murmeln buddhistischer Mantras erscholl hinter den Mauern. Schön.

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Tag 46 – Namchi

Mein bisher schönster Tag in Sikkim begann früh. Nach ungestörter Nachtruhe im stillen Dorf verließ ich meine Unterkunft noch vor Sonnenaufgang und erklomm abermals die Stufen hinauf zur buddhistischen Gompa, die ich schon von gestern kannte. Doch nun war alles anders. Wolken und Nebel waren fort und ich genoss wunderbare Sicht auf das Khangchengdzongamassiv. So nah war ich den schneebedeckten Gipfeln noch nie. Nach und wurden die weißen Spitzen vom Licht der Sonne berührt. Atmosphärisch untermalt wurde diese monumentale Naturkulisse vom Singsang der Mönche in der nahen Gompa. Nun erst sah ich die zweiundvierzig Meter hohe Buddhastatue des nahen, brandneuen Sakyamuni Komplexes. Am Vortag hatte der Nebel sie verborgen. Das Tor war noch geschlossen, die Statue noch im Schatten. Ich würde den Hügel wohl heute noch einmal erklimmen. Zuvor galt es aber, noch andere Riesenstatuen zu besuchen.

Nach gutem Frühstück in Ravangla, nahm ich mir einen Jeep ins nahe Namchi. Schon auf der Fahrt sah ich den Riesenshiva von Char Dham auf seinem Hügel. Zuerst aber ließ ich mich von einem freundlichen Taxifahrer nach Samdruptse bringen. Hier, auf dem Gipfel eines bewaldeten Hügels, blickt die 45 Meter hohe Statue des buddhistischen Gurus Padmasanbhava strengen Blickes nach Süden. Beieindruckend. Man kann die Statue betreten und bis zu ihren im Schneidersitz verschränkten Beinen emporklettern. Hinzu kommt wunderbare Aussicht in tiefe grüne Täler. Irgendwo auf einem Hügel im Süden vermutete ich Darjeeling. Schon von dort hatte ich diese riesenhafte Statue am Horizont gesehen.
Bevor wir weiter zum hinduistischen Tempelkomplex von Char Dham fuhren, lud mich mein Taxifahrer auf eine Tasse Tee ein. Wir plauderten ein bisschen über Sikkim. Sein Heimatdorf lag im Norden. Ich beklagte, dass es als alleinreisender Tourist unmöglich war, dort hinzukommen. „It’s near border, you know. Very sensitive.“

Char Dham liegt auf der anderen Seite von Namchi und zieht hinduistische Pilger aus ganz Indien an. Hier befindet sich nicht nur eine imposante, dreiunddreißig Meter hohe Shiva Statue. Vor Shivas finsterem Blick erstreckt sich eine ganze Tempellandschaft mit Nachbildungen der wichtigsten hinduistischen Tempel des Subkontinents. Beeindruckend und farbenfroh. Am Schönsten fand ich die kunstvollen Reliefs im Innern der Shivastatue. Sie zeigen Szenen aus verschiedenen Legenden rund um den Zerstörergott, der hier klar mächtiger gesehen wird als Brahma und Vishnu. Man sieht Szenen seiner Hochzeit mit Parvati, einer Begegnung mit Rama, Shiva beim Niederbrennen ganzer Städte und – ein Highlight – „Shiva and Vishnu doing water sports“, ein riesiges Relief, das beide Götter beim fröhlichen Spiel im Wasser zeigt.

Zurück in Namchi aß ich ein paar Momos und trat dann die einstündige Jeepfahrt zurück nach Ravangla an. Hier stand ich wenig später wieder bei der nun schon sehr vertrauten Gompa. Immer noch sangen die Mönche. Ich schritt durchs Tor der weitläufigen Sakyamuni Anlage mit ihrem riesenhaften Buddha, der klar beindruckendsten der drei Riesenstatuen des heutigen Tages, vor allem wegen ihrem architektonisch reizvollen Innenleben. Schmale Gänge winden sich hinauf, während schöne, künstlerisch hochwertige Wandmalereien vom Leben des Sakyamuni berichten. Allen Sehenswürdigkeiten des heutige Tages ist übrigens gemein, dass keine älter als zehn Jahre ist. Angesichts des Elends in anderen Teilen Indiens eine riesige Geldverschwendung. Sikkim kann es sich leisten. Und das Geld für die buddhistischen Bauten kommt wohl sowieso nicht aus Indien. Immerhin: der Reisende verharrt staunend. 

Ich verbrachte den Spätnachmittag lesend auf dem grünen Gelände zwischen Buddhas Füßen und einem großen Springbrunnen. Eben betrat Krishna das Geschehen. Die Mahabharata ist wahrlich ein Lesevergnügen.

Abends besuchte ich noch das einzige Internetcafé des Ortes und erfuhr, dass meine Inszenierung der Antigone den Tiroler Volkdbühnenpreis gewonnen hat. Was will man mehr? Ein schöner Tag ging zu Ende.

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Tag 47 – Pelling

Nach einem Frühstück mit tibetischem Brot in Ravangla verbrachte ich den Vormittag großteils in Jeeps. In drei Etappen gelangte ich durch wunderschöne Landschaft nach Pelling. Wie üblich galt es jedes Mal zu warten, bis der Jeep voll wahr. Mitsant dem Fahrer quetscht man stets elf Erwachsene und ev. noch ein paar Kinder in so ein Fahrzeug. An der Ausschmückung des Jeeps lässt sich immer gleich die Religion des Fahrers ablesen. Buddhistische Jeeps haben ein Mantra auf der Windschutzscheibe. Davor steht dann meist eine kleine Buddhaskulptur flankiert von einer Mini-Gebetsmühle und einem vielarmigen Bodhisatwa. Auf christlichen Jeeps stehen meist lustige Sachen wie „Lovely Jesus“ oder „Jesus love you“ (Ich glaube, da fehlt ein „s“). Hinter der Windschutzscheibe baumelt ein Kreuz. Mein gestriger Taxifahrer war Hindu. Eine kleine Ganeshaskulptur verriet ihn. Der geruhsame elefantenhäuptige Gott scheint bei Autofahrern recht beliebt zu sein. Sähe  ich seinen Vater Shiva hinter der Windschutzscheibe, würde ich mir das Einsteigen wohl noch einmal überlegen. Ein Zerstörer- und Todesgott hinter der Windschutzscheibe sagt nichts Gutes über die Mentalität des Fahrers aus.

Mit dem ersten Jeep des Tages gelangte ich von Ravangla nach Legship. Während ich noch über die traurige Selbstverständlichkeit nachdachte, mit der ein Mädchen neben mir, ihre leere Kekspackung hinaus auf die Straße warf, platzte ein Reifen. Wir stürzen nicht in den Abgrund, nur fast. Der Reifen war schnell ausgewechselt und die Fahrt ging weiter. Während wir in Legship auf die Abfahrt des nächsten Jeeps warteten, lud mich ein netter Typ aus der Gegend auf eine Tasse Tee ein. Wir plauderten über die Berge. Er kam ursprünglich aus Nepal. Und weiter ging die Fahrt nach Geyzing. Von dort brachte mich ein dritter Jeep nach  Pelling. Diese letzte Etappe verbrachte ich eher am Jeep dranhängend als drinsitzend. Hat Spaß gemacht.
Schnell war ein nettes Hotel gefunden und ich begann die Gegend zu erkunden.

Unweit von Pelling, auf etwa 2100 Meter, liegt das abgeschiedene Kloster von Pemayangste. Viele Mönche leben hier. Eben waren einige Umbauarbeiten im Gange. Buddhistische Mönchsroben und Bauwerkzeuge sind eine seltsame Kombination. Die ersten zwei Stockwerke des Klostergebäudes waren nicht weiter aufregend. Buddhas, Bodhisatwas, das übliche. Doch dann, im hölzernen Dachgeschoss, stieß auf etwas Außergewöhnliches. Fotografieren war nicht erlaubt und mir fehlt das rechte Vokabular dieses Ding zu beschreiben. Jedenfalls meine ich, nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass es eines der schönsten von einem einzelnen Künstler geschaffen Werke ist, das ich je betrachtet habe. Noch in keinem Museum habe ich vergleichbares gesehen. Fast sein ganzes Leben lang arbeitete ein 1980 verstorbener Mönch an diesem vier Meter hohen Ding, schnitze und bemalte es in tausendfältigem Detailreichtum. Man kann es tagelang umkreisen und immer noch Neues entdecken. Halb Berg, halb Wagen, mit hunderten Höhlen, Türmen und Kammern mit tausenden Figuren aus buddhistischer Sagenwelt hat mich dieses Kunstwerk restlos begeistert. Fast eine Stunde verbrachte ich allein in diesem Raum. Die metaphysische Komponente interessiert mich nicht. Ich spreche hier von der reinen Ästhetik der Farben, der Formen, und der Geschichten. Um es noch einmal zu sagen: Das Pema Thaway Shimkhang von Serdup Dungzin Jigme Wangchuk Rinpoche in der Pemayangste Gompa nahe Pelling ist eines der schönsten von Menschenhand geschaffen Werke der bildenden Künste, das ich in meinem bisherigen Leben sehen durfte (und ich habe schon einiges gesehen). Kommt nach Sikkim, Leute, sonst ist es zu spät. Es braucht nur einen Blitz, der in das Kloster einschlägt, und alles ist verbrannt.

Unterhalb des Klosters führt ein beschaulicher Waldweg mit amüsanter Beschilderung der Archeological Survey of India zu den Ruinen von Rabendtse, der alten Hauptstadt Sikkims. Diese war 1814 in einem nepalesischen Überraschungsangriff dem Erdboden gleichgemacht worden. Viel ist tatsächlich nicht übrig. Nadelbäume wachsen auf atmosphärischen Ruinen aus Stein. Das schönste an Rabendtse ist die Aussicht. Man blickt weit über die grünen Hügel und tiefen Täler im Norden, Osten und Süden. Ravangla scheint angesichts der langen Jeepfahrt des Vormittags unverschämt nah. Im Südosten kann man die große Shiva Statue von Namchi erkennen. Im Norden sah ich das kleine Tashiding, das ich in ein paar Tagen von Yuksom erwandern würde. Die löchrige Wolkendecke erzeugte ein sonderbares Spiel von Licht über der Landschaft.

Durch kühlen Nadelwald stieg ich zurück hinauf nach Pelling. Auf dem Weg machte ich in der kleinen Lotosbäckerei am Straßenrand halt und genoss Tee und Kuchen. Die Einkünfte der Bäckerei gehen direkt an ein Waisenhaus.

Der Abend im kleinen, charmanten Pelling schenkte mir noch ein schönes Naturschauspiel. Die Wolkendecke lichtete sich und ich sah alle Gipfel des Khangchengdzongamassivs. Schnee und Felsen färbten sich orange und rot im Licht des Sonnenuntergangs.

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Tag 48 – Fireflies

Über den lichten Teil des Tages lässt sich nicht viel sagen. Der Sonnenaufgang war der Wolken wegen äußerst unspektakulär, die Zeit hernach geprägt vom langen Warten auf den rechten Jeep und die lange Fahrt nach zum See von Khecheopalri.

Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten als ich dort ankam. Froh, die nächsten drei Tage keinen Jeep mehr betreten zu müssen, stieg ich aus. Nur wenige Häuser stehen am Ufer. Ein Schild zeigte mir den Waldweg. Zwanzig Minuten aufwärts durch steiles Gelände und ich würde bei der gewählten Unterkunft sein. Ich benötigte aber vierzig Minuten. Nicht weil es steil oder anstrengend war, sondern weil es so schön war. Oft blieb ich stehen.

Man geht viel zu selten nachts im Wald spazieren. Man vergisst, wie schön es ist. Vor allem hier, wo hunderte Gluhwürmchen elfenhaft durch die Dunkelheit schweben und den nächtlichen Wald mit hellgrünen Sternschnuppen schmücken. Ewig hab ich nicht mehr so viele Glühwürmchen gesehen, vielleicht noch nie. Dazu die Geräusche des Waldes. Ein Knistern und Rascheln im Geäst. Etwas Großes kreuzt unweit den Pfad. Der Mond erscheint. Weit unterhalb leuchtet der See.

Schließlich erreichte ich ein kleines Plateau mit einer Handvoll kleiner Häuser der hiesigen Bauern. Der Strom war eben ausgefallen. Nur Kerzen erleuchteten die Häuser. Schnell fand ich Sonam’s Homestay. Sonam und seine Familie begrüßten mich freundlich, vor allem die Kinder. Eine winzige, von Kerzen erleuchtete Welt. Man zeigte mir ein Zimmer, das ich mit Kerze erkundete. Einfach, doch gemütlich. Nach einer guten Tasse Tee mit Sonam und seinen Kindern, aß ich bald ein reichliches Thali mit den drei anderen Gästen.

Ein französisch-marrokanisches Pärchen ist schon dreiundzwanzig Tage lang hier, ein Deutscher zum vierten Mal in fünf Jahren. Dies sind neben mir die einzigen Gäste. Für sechs Euro am Tag gibt es bei Sonam Unterkunft, Tee und Wasser soviel man will und drei reichliche Mahlzeiten. Die Umgebung ist ein abgeschiedenes Wunderland mit Höhlen, Wäldern, Gompas, Aussicht auf die Achttausender und einem See. Viel davon hab ich noch nicht gesehen, erst Schimmer im Schein von Mond und Glühwürmchen.

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Tag 49 – Khecheopalri

Ich erwachte, als kurz vor Sonnenaufgang die Hähne krähten. Der Tag begann mit zwei guten Tassen Tee, einer Stunde Mahabarata-Lektüre in der Hängematte, wunderbarer Sicht auf Pandim und andere Gipfel des Khangchengdzongamassivs, sowie gutem Frühstück. Gegen acht Uhr brach ich auf, die nahe Höhle zu erklimmen. Der Weg führte mich vorbei an beschaulichen Bauernhäusern, an Ziegen und Zäunen, Kühen und Gebetsfahnen. Schließlich ging es eine Stunde lang steil hinauf. Obwohl ich den falschen Weg wählte und teilweise durch dichten Wald aufwärts kletterte, erreichte ich die Höhle früh genug, um rechtzeitig zum Mittagessen wieder bei Sonam zu sein.
Rund um die Höhle steht ein Wald aus Gebetsfahnen. In einer kleinen Hütte oberhalb der Höhle haust ein Einsiedler. Die Höhle selbst ist winzig, weist aber sehr alte Figuren im Stein auf. Das schönste an diesem Ort ist die Aussicht. Man sieht weit über die Hügel hinweg nach Pelling und Yuksam. Weit unterhalb glitzert der See von Khecheopalri mit dem kleinen Dorf darüber, wo Sonams Hütte liegt.
Mittags war ich wieder dort, las in der Hängematte und wurde gelegentlich von den Kindern entertaint bzw. gestört. Ein Riesen-Marienkäfer setze sich auf meine Hand und flog nach kurzer Rast davon. Nur etwa vierzig Gehsekunden von Sonams Hütte entfernt stößt man übrigens an eine Stupa mit angrenzender Gompa. Ein paar Mönche verkehren dort. Die Stupa erinnert ein bisschen an Swayambhunath.

Am späteren Nachmittag stieg ich hinab zum See, welcher aus der Nähe betrachtet erstaunlich unspektakulär aber dafür sehr „heilig“ ist. Ein kleiner hölzerner Steg führt flankiert von Gebetsmühlen ein Stück ins Wasser hinaus. Als wäre der Steg ein Tempel, muss man sich die Schuhe ausziehen, um ihn betreten zu dürfen.

Abends, nach neuerlichem Aufstieg durch den Glühwürmchenwald, fand ich bei Sonam drei neue Gäste vor. Ein Israeli, eine Britin und eine Oberösterreicherin hatten sich vor ein paar Tagen in Darjeeling getroffen und waren seitdem gemeinsam unterwegs. Wir verbrachten den Abend bei einem sehr kurzweiligen Kartenspiel namens Mao Tsetung, das ich in guter Erinnerung behalten werde. You never ever talk about the rules.

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Tag 50 – Yuksam

Nach ruhiger, schlafreicher Nacht, Tee, Lektüre in der Hängematte und Frühstück hieß es Abschied nehmen. Leider. Gerne wäre ich länger bei Sonam geblieben, doch die Zugtickets in den Süden waren schon gebucht. Khecheopalri ist einer dieser Orte, zu denen man sich sagt, man könnte eines Tages Wiederkehr. Für 180 Euro im Monat kann man hier bequem wohnen und exzellent speisen. Dazu Ruhe und Abgeschiedenheit in wunderschöner Natur. Der Ort lädt ein, einen Monat zu bleiben, vielleicht zwei, zwanzig Bücher zu lesen, vielleicht eins zu schreiben, in die Sterne zu schauen, ein paar Reisende kommen und gehen zu sehen und Glühwürmchen zu zählen. Vielleicht in zehn Jahren … Wer weiß.

Wie dem auch sei, ich verließ den schönen Ort und erwanderte in vierstündiger Wanderung Yuksam. Der Weg war anstrengend doch wunderschön. Abwechslungsreich führte er mich durch winzige Dörfer, verlassene Wälder, steile Täler und über rauschende Wildbäche. In der Wildnis hielt ich ab und zu inne und hielt nach roten Pandas Ausschau. Leider sah ich keinen. Vielleicht war daran mein Begleiter schuld. Kurz nach Khecheopalri hatte sich ein fröhlicher, kleiner, schwarzbrauner Hund an meine Fersen geheftet. Er folgte mir drei Stunden lang, lief mal vor mir, mal hinter mir und immer, wenn ich glaubte ihn verloren zu habe, war er plötzlich wieder da und sah mich fröhlich an. Hin und wieder schien es gar so, als wollte er mir bei einer Abzweigung den richtigen Weg weisen.  Nach drei Stunden begegnete ich zwei Wanderen aus Frankreich und Australien, die von Yuksam kamen und nach Khecheopalri gingen. Ich empfahl ihnen Sonam’s Homestay und sagte ihnen, dass es noch eineinhalb Stunden bis dorthin wären. Die Armen. Sie waren schon weg, als ich auf die Uhr blickte und sah, dass ich in Wahrheit schon doppelt solang unterwegs war. Mein vierbeiniger Begleiter verabschiedete sich jedenfalls von mir und folgte den anderen Wanderern zurück nach Khecheopalri. Ich rastete noch eine Weile auf der Brücke über dem reißenden Fluss, der vom Khangchengdzongamassiv her kommt und begann dann den steilen Aufstieg nach Yuksam, das ich gegen halb eins  erreichte.

Ein günstiges Hotel war schnell gefunden. Theoretisch gab es sogar heißes Wasser. Dazu war aber Strom von Nöten. Und dieser würde bis eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit ausbleiben. Egal. So eine kalte Dusche kann ungeheuer erfrischend sein. Sollte man öfter wagen.
Nach gutem Mittagsmahl im einzigen Restaurant des Ortes und einem kühlen Bier, begann ich den Ort zu erkunden. Yuksam ist aufgrund seiner Lage mit einem regelmäßigen Touristenstrom gesegnet. Das kleine Dorf ist Ausgangspunkt des spektakulären Khangchengdzonga-Treks, der in etwa acht Tagen nach Goecha La auf fast fünftausend Meter Höhe direkt unterhalb des dritthöchsten Berges der Erde führt. Hätte mich gereizt. Doch Trekking ist kompliziert und teuer. Man braucht einige Sondergenehmigungen, eine Gruppe von vier Personen und ein Führer ist ebenfalls obligatorisch. Pro Tag kostet das ganze bis zu fünfzig Dollar.
Trotz dieser Komplikationen traf ich in Yuksam einige Trekker, die auf ihre Genehmigungen warteten. Deutsche, Franzosen, Schweizer, alles da.

Auch historisch hat Yuksam ein bisschen was zu bieten, war es doch die erste Hauptstadt oder der Geburtsort von Sikkim. Der Name Yuksam bedeutet soviel wie „Treffpunkt der drei Lamas „. Und tatsächlich trafen sich hier anno 1641 drei Lamas und beschlossen die Gründung Sikkims. Nahe dem Ortskern kann man eine Art steinernes Podium besichtigen, auf dem sich dieser stastsgründende Akt abgespielt haben soll. Der riesige Nadelbaum gleich dahinter hat es vielleicht miterlebt. Auch sonst hat Yuksam ein paar eindrucksvolle Gompas vorzuweisen. Ein Gebäude ist voll mit riesigen Gebetsmühlen. Man muss schon seine ganze Kraft aufwenden, um eine davon in Bewegung zu setzen. Während ich im Dunkeln scharfes Chili Paneer aß, kam plötzlich der Strom und alle Lichter gingen an. Ich beendete den Tag mit Mahabharata-Lektüre in meinem gemütlichen Bett und freute mich auf den morgigen Wandertag.

Tag 51 – Hongri

Nach gutem Frühstück mit hervorragendem Tee war ich gegen acht Uhr morgens schon auf dem Wanderpfad. Dieser führte mich als erstes steil hinauf zur Dubdi Gompa, die – obwohl nur knapp über dreihundert Jahre alt – Sikkims ältestes Kloster ist. Ein paar junge Mönche spielten im Gras. Zurück in Richtung Yuksam sah ich die weißen Schneespitzen über die grünen Hügel lugen. Das Innenleben der Gompa sieht neuer aus, als es ist. Mich estaunten vor allem die Bierflaschen samt Etikett einer hiesigen Brauerei, die direkt vor dem Buddhaschrein als Blumenvasen dienten. Oder will man damit gar ausdrücken, dass Buddha nach seiner Erleuchtung auch Bier gemocht hätte?

Von der Gompa führt ein schmaler Pfad in ein kleines Seitental. Nach Überquerung des Baches auf abenteuerlicher Holzbrücke erreichte ich das Dorf Tsong, von wo ein steiler Pfad durch saftig grüne Kardamonfelder hinauf zu einer Hügelkuppe und weiter durch Viehweiden hinauf zur Hongri Gompa führt. (Auf einem Hinweisschild steht tatsächlich „Hungry Gompa“.) Die Gompa ist nichts besonderes, die Aussicht aber gewaltig. Man sieht hinab auf den imposanten Hügel von Tashiding, hinüber nach Ravangla und Pelling, sowie weit hinaus ins Tal des Great Rangeet River. Laut Lokalfolklore wurde die Hongri Gompa von einer höheren Position hierher verlegt, da am ursprünglichen Standort die Mönche von einem Yeti heimgesucht wurden.

Obwohl Tashiding per Luftlinie schon nahe war, galt es dem Verlauf eines weiten Talkessels zu folgen, bevor man dem Ort endlich näher kam. Hoch über Tashiding erreichte ich schließlich die dreihundert Jahre alte Sinon Gompa, wo ich im Schatten eines Chorten rastete und die herrliche Aussicht hinab nach Tashiding und die zwei Täler, die es umschließen, genoss.

Nach steilem Abstieg war ich dort. Der Marsch hatte sieben Stunden gedauert. Ein nettes, blaues Hotel war schnell gefunden. Die Chefin machte mich darauf aufmerksam, dass ich auf manche Stellen des Holzbodens besser nicht treten sollte. Man breche leicht ein. Es gab sogar heißes Wasser, allerdings nur aus einem hüfthohen Wasserhahn. Mit einem kleinen Plastikeimer lässt es sich aber auch so wunderbar duschen. Bald saß ich bei einem kühlen Bier auf dem kleinen Balkon, blickte hinüber auf den  aufgehenden, fast vollen Mond und die Täler in der Dämmerung und genoss es ausgiebig, mich nicht zu bewegen.

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Tag 52 – Tashiding

Nach erholsamem Schlaf stand ich mit der Sonne auf und verließ ohne in den Boden einzubrechen meine Herberge. Mein Ziel war die Gompa von Tashiding. Der Weg dorthin führte mich dreißig Minuten den Hügel empor, vorbei an hunderten bunten Gebetsfahnen, an großen mit Om mani padme hum Schriftzug bemalten Steinen und durch die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen. Desto höher ich kam, umso weiter wuchsen auch die Berge hinter den Hügeln empor. Ich sah sie heute nicht zum letzten Mal, nur zum vorletzten Mal.

Gegen halb sieben Uhr erreichte das buddhistische Kloster. Einige alte Frauen setzten eben die Gebetsmühlen in Bewegung. Es gibt hier fünf monastische Bauten, ein Areal mit dutzenden Chorten (eine goldfarben, die übrigen weiß, manche mit Augen), sowie hunderte mit Mantras verzierte Steine. Es heißt, dass man beim Anblick eines bestimmten Chorten (nicht des goldenen) all seiner Sünden enthoben wird. (Mit irgendetwas muss man die Gläubigen locken. Der historische Sakyamuni würde angesichts all dessen wohl ein neues Mudra kreieren – das Facepalm-Mudra.)
Das Hauptgebäude der Gompa hat übrigens vor einigen Jahren sogar der Dalai Lama zur zweitägigen Mediation genutzt. Die Sicht auf die Berge ist von dort auch nicht schlecht.

Zurück im Straßendorf Tashiding gönnte ich mir erst einmal ein gutes Frühstück und dachte dann über meine Weiterreise nach. Viel hatte ich heute nicht mehr vor. Es galt lediglich an einen Ort zu gelangen, von wo ich morgen rechtzeitig nach Siliguri weiterreisen könnte, um dort meinen Zug, den Testa Torsa Express,
nach Kolkata zu erwischen. In Frage kamen unter anderem Namchi und Jorethang, beide nahe der Grenze nach Westbengalen. Ersteres hatte ich schon gesehen, letzteres war mir als heiß und unansehnlich beschrieben worden.  Wieso also nicht meine letzte Nacht in Sikkim an einem  Ort verbringen, der mir nicht nur herrliche Bergsicht, sondern ein gemütliches Hotel und obendrein funktionierended WLAN bot. Ich fuhr ein zweites Mal nach Pelling. Hier kannte ich mich aus, hier gab es – obwohl die Grenze drei Stunden weit weg war – einen Morgenbus nach Siliguri, der mich hoffentlich rechtzeitig zum Bahnhof bringen würde. Der Abend kam. Ich genoss die Sicht auf die Berge im Abendrot, gute Momos, Tee und Chowmein und die Vorzüge des Internets.

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Tag 53 – Testa Torsa Express

Der Morgen schenkte mir einen letzten Blick auf das majestätisch Khangchengdzongamassiv bei Sonnenaufgang. Über vierzig Tage lang war ich in und nahe den Bergen des Himalaya gereist. Diese Zeit war nun vorbei. Ich verabschiedete mich von Bergen und Buddhismus, aß noch schnell banana poridge und begab mich auf die Reise ins heiße, hinduistische Flachland. Die Chefin hing mir beim Verlassen des Hotels noch einen zerfransten, weißen Schal um, „for good luck“. Das Ding hat sich inzwischen im Reißverschluss meines Rucksacks verfangen und blockiert diesen. Bad luck.

Die lange Fahrt über zweitausend Höhenmeter weit hinab in die Ebene war lang und mühselig. Der Bus des Sikkim National Transport hatte zu kämpfen, um sich auf der größtenteils nicht asphaltierten Straße zu halten. An manchen Baustellen gab es lange Wartezeiten. Durch die Fenster weht der Staub der Straße herein. Überholende und entgegenkommende Fahrzeuge hinterlassen erstaunlich sichtbare Rußspuren. Ich hatte die meiste Zeit meinen Ellbogen aus dem Fenster gelehnt. Man konnte dabei zusehen, wie er schwarz und schwärzer wurde.
Dem Wasser folgend erreichten wir Jorethang und fuhren von dort den Rangeet Fluss entlang bis zu dessen Mündung in den Teesta Fluss. Hier verließen wir Sikkim über die Brücke nach Westbengalen. Die Straßen wurden etwas besser. An einer Stelle hatte es einen Unfall gegeben. Ein Jeep war in den Fluss gestürzt und offenbar darin verschwunden. Ein Kran suchte danach. Erst nach einer halben Stunde konnten wir passieren. Obwohl mein Zug nicht „The Darjeeling Limited“ hieß (und auch nicht „Darjeeling Mail „, welcher tatsächlich auf der Strecke Siliguri-Kolkata verkehrt) begann ich mich allmählich wie Bill Murray im Vorspann von Wes Andersons gleichnamigen  Film zu fühlen.

Wir erreichten Siliguri mit zweieinhalb Stunden Verspätung. Das war in Ordnung. Ich hatte damit gerechnet. Doch noch war ich nicht am Bahnhof.  Um Schmutz und Ruß nicht zu vermehren, nahm ich mir vom Busstopp eine Fahrradriksha zur NJP railway station. Das von einem alten, doch rüstigen Fahrer manövrierte Gefährt brachte mich binnen dreißig Minuten auf Nebenstraßen und mitten durch Gemüsemärkte zum Bahnhof. Einmal mehr fühlte ich mich wie Bill Murray in „The Darjeeling Limited „, doch im Unterschied zu ihm erwischte ich meinen Zug.

Der Testa Torsa Express verließ New Jalpaiguri fast pünktlich und begann seine Reise südwärts entlang des sehr schmalen Westbengalens, eingezwängt zwischen Bihar und Bangladesch. Teilweise verläuft die Bahnlinie fast direkt entlang der Grenze.  In der Abendämmerung konnte ich auf die weiten Felder der armen Nachbarnation im Osten hinüberblicken.

Nach ein bisschen Konversation mit den netten, jungen Leuten aus Malda und einer Tasse Tee kletterte ich schon bald in meine Schlafkoje und schlief mit kurzen Pausen bis in den Morgen hinein.

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Tag 54 – Kolkata I

Als ich in meiner Koje zu mir kam, ging eben die Sonne auf. Der Zug fuhr noch. Da die Planankunft halb fünf Uhr morgens gewesen wäre, hieß dies, dass wir Verspätung hatten. Inzwischen war der Waggon halbleer geworden. Ich genoss es einmal mehr, zähneputzend in der offenen Zugtür zu stehen und die Landschaft vorbeiflitzen zu sehen. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Wir fuhren immer noch nach Süden. Plötzlich war unter mir ein breiter Fluss. Den Ganges hatten wir schon viel weiter im Norden überquert, in tiefer Nacht. Der war auf diesen Breiten längst in Bangladesch. Dies musste der Hooghly sein. Kolkata war wohl nicht mehr weit.
Die Landschaft wurde allmählich urbaner. Immer wieder hielt der Zug. Es war interessant auf diese Weise, aus dem halbleeren Waggon, das Vorortleben zu studieren.  Erst kurz nach acht Uhr morgens erreichten wir Sealdah, einen der drei großen Bahnhöfe der Stadt. Der Testa Torsa Express hatte nach sechzehnstündiger Fahrt also gerade einmal dreieinhalb Stunden Verspätung. Dies störte mich nicht im Geringsten, war acht Uhr doch eine weitaus bequemere Ankunftszeit als vier Uhr dreißig.
Nach sieben Stunden im Bus und sechzehn Stunden im Zug hatte ich Lust auf ein bisschen Bewegung. Ich ließ alle Taxi- und Rikshafahrer links liegen und bahnte mir mit Kompass und Karte selbst meinen Weg durch das chaotische Treiben der morgendlichen Gassen zum Hotel meiner Wahl. Nach einer halben Stunde war ich da.

Schon bald zog es mich wieder hinaus. Es galt eine Millionenstadt, die zweitgrößte Indiens, zu erkunden. Zu den ersten Beobachtungen gehörten, dass hier alle Taxis gelb sind und dass es hier noch viele klassische Rikshas gibt, bei denen der Lenker nicht in die Pedale tritt, sondern auf Schusters Rappen läuft und zieht. In Delhi oder Varanasi sah ich diese Variante nicht. Mit seinen Bürgersteigen und Fußgängerampeln wirkt Kolkata dabei um einiges urbaner als Dehli.

Mein Weg führte mich bald auf den Maidan, eine riesige Grasfläche zwischen Zentrum und Hooghly, einst und teils immer noch militärische Sperrzone. Der Maidan ist eine Art Freizeitzone für die Bevölkerung von Kolkata – und doch kommt kein Park-Feeling auf. Im Schatten der Bäume am Rand eines Wasserreservoirs ruhten Menschen im Elend. Die Leute baden im Becken, in dem wenige Meter daneben andere ihre Notdurft verrichten. Sterbende Hunde und hungernde Menschen säumen den Weg. Weiter im Innern des Maidan nutzen zahlreiche Hirten den Park als Weidefläche für ihre Ziegenherden. Gleich neben den Ziegen (und ihnen irgendwie ähnlich) exerzieren Soldaten in Reih und Glied. Pferde traben reiterlos über das Feld. Im Westen sieht die hohen Pfeiler der Vidyasagar Setu-brücke hinter den Bäumen. Und im Süden erhebt sich in monumentaler Manier das Victoria Memorial, dem ich Schritt für Schritt näher kam. Lonely Planet beschreibt den Bau treffend als Hybrid von US-Congress und Taj Mahal. Der ganze Stolz und Prunk des britischen Imperiums steckt in diesem Gebäude, dem Denkmal der Jahrhundertkönigin Victoria. Ein Vierteljahrhundert nach Fertigstellung stand es in einem Land, das mit Britannien nichts mehr zu tun hatte. Irgendwie amüsant. Im Unterschied zu manch anderen Bauten der Briten wurde das Memorial aber nicht dem Verfall überlassen. Dazu ist es einfach zu schön, zu monumental. Gehegt und gepflegt in brunnenreicher Parkanlage erstrahlt das Bauwerk wie zu britischen Zeiten und erinnert an die sittenstrenge Monarchin. Die Deckenfresken in der Kuppel zeigen Stationen ihres Lebens, Statuen lassen sie streng in alle Richtungen blicken. Zahlreiche große Wasserbecken erlauben das Memorial samt Spiegelung zu sehen, ähnlich wie beim Taj.

Auch von Innen ist der Bau sehr sehenswert. Mehrere Ausstellungen zeigen Interessantes, etwa die frühen naturalistischen Darstellungen indischer Gegenden, Tempel und Burgen von britischen Landschaftsmalern, die im achtzehnten Jahrhundert den ganzen Subkontinent bereisten und seine Schätze portraitierten. Auch die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, gegründet 1690 von Job Charnock, Händler der East India Company, ist sehr sehenswert. Vor den Briten waren übrigens schon die Portugiesen, die Holländer und die Armenier (!) in der Gegend gewesen und hatten Handelsniederlassungen gegründet, keine so erfolgreich wie Kolkata.  Die Ausstellung legt viel Gewicht auf das geistige Leben der Stadt. In der Tat scheint die bengalische Sprache sehr literaturaffin zu sein und hat mit der Zeit einige große Dichter und Denker zum Schreiben verleitet, allen voran Kolkatas berühmtesten Sohn Rabindranath Tagore. Aber auch schon im neunzehnten Jahrhundert gab es hier eine ganze Generation von bengalischen Humanisten und Aufklärern, die Ost mit West verbanden, Bildung verbreiten, Witwenverbrennungen bekämpften und vor allem die Keimzelle der starken bengalischen Unabhängigkeitsbewegung waren. Mit Freude erfuhr ich, dass hierbei auch das Theater in bengalischer Sprache eine Rolle gespielt hat. Doch eben die lang ersehnte Unabhängigkeit und die daraus resultierende bedauernswerte Teilung des Landes versetzte Kolkata einen Dolchstoß, von dem es sich bis heute nicht erholt hat. Wenn man einer Millionenstadt von einem Tag zum anderen fast ihr ganzes Hinterland wegnimmt (das heutige Bangladesch) und dabei zusätzlich ihre Einwohnerzahl beinahe verdoppelt, dann ist das Elend vorprogrammiert.

Eine dritte Ausstellung im Victoria Memorial widmet sich dem Leben von Exilindern in den USA. Ich erfuhr, dass es dort Indern und anderen nicht weißen Einwanderern bis in die späten dreißiger Jahre nicht möglich war, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Als ein Punjabi Sikh und Kriegsveteran in den Zwanzigern klagte und das Argument brachte, dass er als Nordinder sehrwohl indogermanischen Ursprungs sei und daher unter die Kategorie „caucasian“ falle, verengte der Supreme Court den Gesetzestext auf „white“.

Gleich neben dem Memorial steht die imposante St. Paul ’s Cathedral. Der auffallendste Unterschied zu europäischen Kirchen sind die vielen Deckenventilatoren.

Kurz nach Mittag besuchte ich dann das nahe Birla Planetarium und dachte dabei an meinen letzten Planetariumsbesuch vor neun Monaten in der wunderbaren Academy of Sciences in San Francisco. Die Show in Kolkata war etwa hundertmal schlechter. Statt den großen Rätseln des Kosmos gab’s Kindergartenastronomie. Der Sprecher hatte dabei derart starken Akzent, dass sein Englisch kaum verstehbar war. Am liebsten hätte ich ihm das Mikro aus der Hand gerissen und es selber gemacht.  Erfreulich war aber der große Andrang indischer Besucher. Die sieben täglichen Vorführungen, abwechselnd in Bengali, Hindi und Englisch, scheinen allesamt gut besucht. 

Nach einem kurzen Abstecher in den eher unspektakulären Aurobindo Bhawan erreichte den wunderbaren South Park Street Cemetery, einen der beschaulichsten Friedhöfe, die ich je gesehen habe. Die Gräber sind hauptsächlich aus der Zeit Mitte achtzehntes bis Mitte neunzehntes Jahrhundert und bergen die Überreste der britische Oberschicht jener Jahre. Interessant ist das weitgehende Fehlen christlicher Symbolik. Die Gräber sind hauptsächlich hohe Obelisken, steinerne Pavillons, riesige Sarkophage auf steinernen Plattformen und betretbare Mausoleen. Schlichte englische Aufschriften erinnern an die Verstorbenen. Mit seinen wuchernden Bäumen und hunderten Nebelkrähen, deren Rufe beständig über den Friedhof schallen, ist es der perfekte Ort, um einen schaurigschönen Film zu drehen. Gleichzeitig scheint der alte britische Friedhof auch beliebter Treffpunkt indischer Pärchen zu sein, da man sich hier ungestört küssen kann.

Ein Stück weiter nördlich fand ich schließlich das Gebäude, in dem Mutter Teresa lebte, wirkte und starb. Ihre Ordensschwestern hausen immer noch hier. Ein kleines Museum mit vielen fragwürdigen Zitaten beleuchtet das Leben der glühenden Katholikin aus Skopje. Es ist klar, dass durch das Wirken der Friedensnobelpreisträgerin Zehntausenden Menschen in Kolkata geholfen wurde und das sie Inspiration, Trost und Stütze für noch viel mehr Menschen war. Dennoch darf man nicht zu unkritisch sein. Oft scheint die Konversion zum Katholizismus Bedingung für Hilfeleistung gewesen zu sein. Außerdem scheint das Ideal der Armut im Werken Teresas derart idealisiert worden zu sein, dass mancher Weg zur Lebenserleichterung vieler absichtlich nicht gewählt wurde. Neben dem Museum sieht man das kleine Zimmer, in dem Schwester Teresa viele Jahre lang lebte und starb. Ihr Grab ist auch hier. Viele christliche Pilger besuchten eben den Ort. Einer schien großen Wert darauf zu legen, auszusehen wie Jesus. Ein paar Ordensschwestern beteten Rosenkränze am Grab. Letztlich ist einer der Hauptpunkte, der mich an diesem Ort störte, jener, dass an allen Wänden und Schildern und in jedem Zitat Teresas suggeriert wird, dass nur der Glaube dazu fähig mache, anderen Menschen Mitgefühl, Beistand und  Hilfe zu zollen. Dagegen sträube ich mich zutiefst. Moralität ist (wie Dawkins, Pinker oder Schmidt-Salomon nicht müde werden, zu schreiben) nun einmal nicht an Religion gebunden, sondern besteht auch ohne.
Vorbei am Fleischmarkt (Ich sah ein Hirn voller Fliegen) erreichte ich mein Hotel. Abends gönnte ich mir ruhi kalia und doi begun mit Reis, gefolgt von süßem mishti dhoi und rasgulla, allesamt Spezialitäten der bengalischen Küche. Was für ein Tag!

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Tag 55 – Kolkata II

Früh auf die Straßen hinaustretend passierte ich den alten Uhrturm von New Market und erreichte kurz darauf eines von vielen verbliebenen Prunkgebäuden aus britischer Zeit, das beeindruckende Metropolitan Building, das im Kontrast mit dem halbverfallenen Bau gleich daneben noch imposanter wirkt. Nahebei ist die Tippu Sultan Moschee mit ihren vielen kleinen Türmen. Vorbei an einem Lenin- Denkmal und einem 48 Meter hohen Turm, der an den Sieg der Briten über Nepal von 1814 erinnert, erreichte ich den Regierungssitz von Raj Bhavan, der wie das Weiße Haus in Washington aussieht. Kontrastreicher kann ein Morgenspaziergang kaum sein.

Ich rastete im grünen Hof der kleinen Johanneskirche, auf deren Gelände auch das Mausoleum von Job Charnock, dem Gründer Kolkatas, zu finden ist. Gleich daneben erinnert das Black Hole Memorial an die Tragödie von 1756, als ein Moghulensultan die noch kleine Stadt eroberte und britische Aristokraten zuhauf in eine luftarme Zelle sperren ließ, sodass über Nacht an die vierzig von ihnen erstickten.

Vorbei am imposanten Gebäude des High Court erreichte ich das Ufer des Hooghly und nahm mir eine Fähre ans andere Ufer zum großen Bahnhof von Howrah, von wo ich morgen Abend abreisen würde. Die Fährfahrt bot freie Sicht auf die imposante, über siebenhundert Meter lange Howrah Brücke. Der Hooghly selbst ist extrem verdreckt. Der Müll sammelt sich in kleinen Inseln, die träge an mir vorbei in Richtung Ozean trieben. Dennoch sah ich hunderte Inder an beiden Ufern im Fluss baden.

Am großen Bahnhof von Howrah gönnte ich mir ein Frühstück mit gutem Ananaslassi und nahm dann eine weitere Fähre weiter stromaufwärts nach Bagbazar. Von hier wollte ich zu Fuß zurück ins Zentrum gelangen. Ich passierte das Viertel von Kumartuli, in dem dutzende Handwerksläden dicht an dicht an denselben Produkten arbeiten: den Abbildern und Skulpturen verschiedener Figuren der hinduistischen Götterwelt. Man kann dabei zusehen, wie auf die teils lebensgroßen Figuren auf Pappbasis Lehm aufgetragen wird, auf den später Farbe kommt. Überall liegen Torsos, Arme und Köpfe herum. Nach den vielen Skulpturen von Shiva, Vishnu, Parvati und Co herrscht große Nachfrage, ist es doch essentiell für viele Familien diese zu religiösen Festen in den Hooghly zu tauchen.
Unheimlich wirkte die Müllhalde missglückter Figuren. Arme und Gesichter ragen aus dem Schutt heraus.

Ein kurzer Spaziergang nach Süden brachte mich zu einem Highlight des heutigen Tages, dem Haus von Rabindranath Tagore, Literat, Humanist, Maler, Stückeschreiber, Schauspieler, etc. Zu Beginn meiner Reise hatte ich mit Begeisterung sein Gitanjali gelesen. Dazu liest man auf einer Tafel im Museum: „1911 übersetzte Rabindranath ein paar seiner Gedichte ins Englische. Die Europäer waren davon so gerührt, dass sie ihm ein Jahr später den Nobelpreis für Literatur gaben.“ Man muss Bengali lernen, um das umfangreiche Werk Tagores nur annähernd erfassen zu können. Vielleicht sollte ich einmal eines seiner Theaterstücke inszenieren. Im Museum sah ich viele Fotos, die Rabindranath gemeinsam mit Intellektuellen aller Welt zeigen, unter anderen auch mit Albert Einstein oder Gandhi. Mit seinem langen weißen Haar und Rauschebart war Rabindranath auch rein optisch eine imposante Erscheinung. Wunderschöne Zitate aus seinem Werk zieren die Wände des Raums, in dem er 1951starb. „And my parting word shall be: In this playhouse of infinite forms, I had my play.“

Unweit südlich stößt man in einer Seitenstraße auf den „Marmorpalast“, ein imposanter Prunkbau eines einstigen Rajas. Das Gebäude ist extrem schwer zu besichtigen, benötigt man dazu doch die schriftliche Erlaubnis des Tourismusbüros, die zwei Tage im Vorhinein zu besorgen ist. Da Palast und Büro aber auch an manchen Tagen geschlossen haben, klappt dies logistisch nur, wenn man (Vorraussetzung drei Tage Aufenthalt)  an Dienstagen oder Donnerstagen in Kolkata ankommt. Auch ein Foto von außerhalb des Tores war nicht möglich, da der alte Wächter mit seinem Speer etwas dagegen hatte.

Ich schritt weiter nach Süden, passierte die beachtliche Nakhoda Moschee und tauchte ein ins arme Viertel, das einstmals Chinatown war. Chinesen gibt es hier kaum mehr. Die flohen allesamt während des sino-indischen Kriegs von 1962. Das Viertel ist heute klar in muslimischer Hand. Nur die Architektur erinnert teils noch an China. In den engen Gassen sieht man viele Muslime beim Verkauf aller möglichen Dinge. Holz, abgehackte Tierhufe, Ziegenköpfe, Fisch. Erstaunlich, dass man den Menschen hier ihre Religion  auf den ersten Blick ansieht. Kaum ein Muslim ohne Vollbart und Haube, kein Sikh ohne Turban. Vor allem hier in Chinatown fiel mir dies einmal mehr auf. Ich ging weiter. Ein einstmals in den zwanziger Jahren berühmtes chinesisches Restaurant, das Nangking, ist heute Ruine und Müllhalde. Arme Kinder und Hunde durchsuchen die Müllhaufen nach Essensresten. Ein trauriger Anblick. Nur ein paar Meter weiter steht man wieder vor britischem Kolonialprunk.

Ein solcher Prunkbau ist das heutige Indian Museum. Mehr als die Hälfte aller Ausstellungungsräume war zur Zeit meines Besuches geschlossen. Dennoch gab es viel zu sehen. Der  Archäologieflügel glänzt mit vielen schönen Statuen aus der langen Geschichte Indiens, ist aber bei weitem nicht so gut strukturiert und informativ wie das Nationalmuseum in Delhi. Der Zoologieflügel zeigt hunderte Tiere, meist ausgestopft. Aber auch das Skelette eines Wales, riesige Elefantenschädel und missgebildete Embryonen sind vorhanden. Die Ziege mit einem Kopf und acht Körpern ist bizarr, jene mit zwei Köpfen ebenso. Der mit Abstand modernste Sektor des Museums – sehr gut gemacht und absolut state of the art – ist erfreulicherweise jener, in dem die Evolutionstheorie erklärt und beleuchtet wird.

Nach dem Museumsbesuch gönnte ich mir ein wenig Nachmittagsruhe in meim Hotel und verließ es erst wieder in der Abenddämmerung. Mein Weg führte mich abermals über den Maidan, der mich aufs Neue überraschte. In der abendlichen Kühle hatten sich hier tausende Menschen versammelt, vor allem zum Sport. Ringsum spielte man Fußball, Cricket oder andere seltsame Sachen mit Ball. Die Cricketschläger krachten, die Bälle flogen mir um die Ohren … gelegentlich wird hier sicher jemand davon erschlagen. Besonders atmosphärisch: viele junge Leute ließen Drachen steigen. Hundert und mehr flogen hoch über dem Maidan. Vorbei am Victoria Memorial erreichte ich die Academy of Fine Arts. Die Ausstellungsräume im ersten Stock, wo auch Werke von Rabindranath Tagore hängen, waren leider geschlossen. Dafür gab es im Erdgeschoss einige hervorragende Werke zeitgenössischer Künstler zu sehen. Frappierend gut, die meisten säkular, andere mit Elementen der Götterwelt spielend.
Wenig später besuchte ich die Sound und Light Show auf dem Gelände des Victoria Memorials. Inzwischen war es Nacht geworden. Während das Memorial im Licht bunter Scheinwerfer passend erstrahlte, erzählte eine tiefe Stiefe von der Geschichte der Stadt. Auch die Stimmen historischer Personen kamen zu Wort, manchmal sehr zum Schmunzeln anregend. Charnock: „Oh, what a fine place to build a city.“ Die Show war gut, besser als in Delhi, aber doch ein bisschen selbstherrlich. „Und Kolkata ruft hinaus in die Welt: Kommt zu mir und ich gebe euch Leben! “ Letztlich war es einfach schön, das Memorial (und sein Spiegelbild im Teich) bei Nacht zu sehen.

Auf dem Heimweg gönnte ich mir noch eine kulinarische Spezialität. Bei einem kleinen (lonely planet empfohlen Straßenstand) kaufte ich mir köstliches, gemüsegefülltes fried roti.
Der Weg zum Hotel war ein bisschen traurig. Man muss auf den Bürgersteigen stets aufpassen, wohin man trifft. Überall liegen Menschen.

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Tag 56 – Kolkata III

Ich begann den Tag mit einer Fahrt in Kolkatas einziger Metrolinie, welche sehr sauber, schön und übersichtlich gestaltet ist. An einer zweiten und dritten Linie wird eifrig gebaut. Das tägliche Verkehrschaos der Stadt wird dadurch in Zukunft wohl wesentlich entschärft werden.

Ich fuhr nach Süden und fand im Gassengewirr östlich dem Kanal von Tolly’s Nullah schon bald den Tempel von Kalighat, dem wichtigsten Ort für Hindus in ganz Kolkata. Wie der Name schon sagt, wird hier die Göttin Kali verehrt. Zehntausende kommen täglich hierher, drängen sich vor das eiserne Gitter, hinter dem ein kleines dreiäugiges Kaliabbild steht und streuen Rosenblüten darüber. Aber Kali will auch Blut sehen. Ein paar Ziegen werden täglich geopfert. Aber Kali (oder viel mehr die Hindupriester) wollen auch Geld sehen. Sonst holt einen Kali.

Überraschend war, wie ähnlich das ganze Prozedere eines Besuchs in Kalighat dem im Hazrat Nizam-ud-din Daragh von Dehli ist. Dasselbe Gedränge, dasselbe Rosenopfer. Dabei ist das eine Heiligtum doch muslimisch, dies hier hinduistisch.

Ein kurzer Spaziergang nach Süden führte mich in ganz andere Gefilde, nämlich ans ruhige Ufer eines schönen Sees inmitten eines grünen Parks mit dem klingenden Namen, Rabindra Sarovar. Hier saß ich lang im Schatten, las und bestaunte die mächtigen Bäume des Parks.

Es wurde Mittag. Eine weitere Metrofahrt brachte mich wieder ins Zentrum. Hier aß ich fürstlich auf der Dachterasse eines noblen Hotels und genoss fast dreihundertsechzig Grad Rundumsicht auf Kolkata. Direkt unter mir lag der überdachte New Market. In der Ferne sah ich Howrah Bridge und das Victoria Memorial.

Nach dem Essen wurde ich Zeuge einer politischen Kundgebung. Auf einer Bühne zappelte ein Mann mit Mikrophon herum und hielt recht aufgebracht und ein bisschen heißer in sein Mikro brüllend eine Rede. Eine große Menschenmenge jubelte ihm zu. Viele schwangen große Fahnen mit den Farben der indischen Flagge und einer Handfläche in der Mitte. Ich bin mir nicht sicher, welche Partei dies wahr. Das einzige Wort des Redners, das ich verstand, war Kolkata. Dies sagte er recht oft. Die Szene erinnerte mich gleich an Chaplins „Der große Diktator“. Dann sah ich das Schild mit dem Namen der Straße, in welcher sich all dies abspielte. Herrliche Parodie des Zufalls. Ich befand mich doch tatsächlich in Kolkatas Charly Chaplin Street.

Ich ging an vielen politischen agitierten Menschen vorüber und erreichte die nächste Attraktion. Im weißen, imposanten Gebäude der Town Hall besuchte ich das etwas kitschige Kolkata Panorama Museum. Mechanisch bewegte Puppen stellen historische Ereignisse dar. Abstruses Highlight: eine lebensgroße Puppe Rabindranath Tagores, die den Kopf wiegt, die Arme hebt und den Mund bewegt, während eine Originaltonaufzeichnung des auf Bengalische singenden Poeten erklingt. Einige bengalische Museumsbesucher stimmten mit ein.

Von der Town Hall schritt ich weiter nach Norden zum großen Wasserreservoir von BBD Bagh. Es wird von einigen imposanten Kolinialgebäuden gesäumt, etwa dem Writers‘ Building und der St Andrews Church. Im chaotischen Vierte nördlich von hier, stößt man auf einige alte Synagogen. Einst hatte Kolkata eine jüdische Gemeinde von bis zu dreißig tausend Gläubigen. Heute sind es nur mehr etwa vierzig und die Synagogen verfallen zunehmend. Auch eine alte armenische Kirche findet man hier, angeblich das älteste christliche Gebäude der Stadt.

Nahe der Howrah Bridge querte ich ein Bahngeleis und erreichte den Blumenmarkt von Mullik Ghat. Hunderte Händler sitzen hier auf dem Boden und haben vor sich ein farbenfrohes Blumenmeer ausgebreitet. Im Unterschied zu Europa fehlen die Stiele. Für die hat man hier keine Verwendung. Der Markt ist ein schöner Ort, einer der wenigen, in denen Duft Gestank dominiert.

Am Mullik Ghat selbst hatte ich schöne Sicht auf Howrah Bridge und den Sonnenuntergang am anderen Ufer. Lange saßen ich auf den Stufen und sah einigen Indern beim Baden zu. Ein Mann hatte Mühe, sich die herangetriebenen Plastikflaschen vom Leibe zu halten. Wie heilig kann sich ein Gewässer noch anfühlen, wenn es dich ständig mit Müll umspült? Der Sonnenuntergang war schön. Morgen, bei Sonnenaufgang, würde ich schon viel weiter im Süden sein, in einer Gegend, wo man nicht mehr Bengali, sondern Odia spricht.

Bevor ich Richtung Bahnhof aufbrach, musste ich noch zurück ins Hotel, um meinen Rucksack zu holen. Dazu wollte ich die Straßenbahn ausprobieren, doch schon nach wenigen Blocks gab ich auf. Das Ding kam im dichten Abendverkehr kaum vom Fleck. Auch alle anderen Fahrzeuge steckten im Stau. Obwohl schon müden Schritts bahnte ich mir also zu Fuß meinen Weg. Nach kurzer WLAN Pause im Hotel erreichte ich per Taxi und Fähre schnell und mühelos den riesigen Bahnhof von Howrah. Dort speiste ich zu Abend, stieg in meinen Zug, trank dort einen Tee, sah nach Abfahrt noch den Mond durchs Fenster scheinen und schlief ein. Trotz Licht und Lärm und harten Betten schlafe ich in indischen Zügen immer noch hervorragend.

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Tag 57 – Puri

Ich erwachte, als wir den Bahnhof von Bhubanesvar verließen. Von hier waren es noch etwa zwei Stunden bis nach Puri. Allmählich wurde es hell. Ich sah Palmen im Morgennebel. Dahinter ging die Sonne auf.

Ich bahnte mir meinen Weg aus dem Bahnhof von Puri und wies per Kopfschütteln und „No, I’m walking.“ Varianten etwa hundert Angebote von Rikshafahrern ab. Schon bald erreichte mein freundliches Hotel und gönnte mir eine erholsame Dusche in bltzsauberem Bad. Dann ging ich ans Meer.

Mit weitem, sauberem Sandstrand und dem einladenden Grollen beachtlicher Brandung grüßte mich der Golf von Bengalen. Das letzte Mal am Meer stand ich Ende Februar, als ich an einem nebeligen Morgen dem Pazifik den Rücken kehrte und meinen Chevy in Richtung Death Valley lenkte. Und nun war ich hier und sah sie hohen Wellen der indischen Ostküste. Sie luden dazu ein, sich hineinzustürzen. Zuvor schlenderte ich eine Weile den Strand entlang, dessen Sauberkeit erstaunt. Ein paar Kids sprangen durch die Wellen, andere spielten Cricket.

Am Weg zurück ins Hotel sah ich neben der Straße zahlreiche Jagannath Tempel. Jagannath ist eine Gottheit, eigentlich eine Inkarnation des Vishnu, die hier in Puri in nahezu monotheistischem Eifer verehrt wird. „Welcome to the land of Jagannath, Lord of the Universe“ steht am Ortseingang von Puri. Das Skurrile dabei ist Jagannaths Aussehen, das nicht sehr antropomorph ist. Mit seinen riesigen runden Kulleraugen wirkt er wie einem Kindercartoon entsprungen. Das seltsame Männchen, das das Universum beherrscht, steht als Glücksbringer auch hinter mancher Windschutzscheibe.

Schließlich sprang ich selber eine Weile durch die warmen Wellen des Golfs von Bengalen. An mir vorbei, am Strand entlang,  zog indes ein Pilgerstrom tausender, teils „Hare Rama, hare Krishna“ singender und mit Trommeln bewaffneter Hindus. Zu Mittag gönnte ich mir frischen Fisch, sehr scharf zubereitet.

Nach einigen geruhsamen Stunden ließ ich mich von einem Rikshafahrer zum großen Haupttempel der Stadt bringen, dem Jagannath Mandir. Von der Riksha aus sah ich viele schöne Rinder, welche großteils unbewegt und seelenruhig im dichtesten Verkehr herum stehen. Sie wissen, dass die meisten Leute hier wohl eher gegen eine Wand fahren würden, als es zu wagen, die Ruhe eines heiligen Rinds zu stören. Mit ihren mächtigen Hörnern und ihren Höckern sind die vielfarbigen Rinder Odishas besonders imposante Erscheinungen. Fast wie in einer Parallelwelt geistern unberührt von menschlichem Treiben umher.

Den mehr als achthundert Jahre alten Jagannath Mandir dürfen nur Hindus betreten. Vom Dach der nahen Bücherei hat man allerdings hervorragende Sicht auf das Treiben am Tempelgelände. Der freundliche Bibliothekar, dessen Englisch schwer zu verstehen ist, zeigte mir ein Buch, in welchem sich alle Besucher des letzten Jahrzehnts mit Namen und Herkunft verewigt hatten. Auch Hindus aus der Gegend waren dabei. Diese dürfen den Tempel zwar betreten, aber drinnen keine Fotos machen. Wir blätterten eine Weile im Buch, bis wir einen Besucher aus Österreich fanden. Die Aussicht vom Bücherturm ist wirklich hervorragend. Der Jagannath Tempel mit seiner Umwallung, dem achtundfünfzig Meter hohen Turm, auf dem Vishnus Flagge weht und seinem steinlöwenbewachten Eingangstor (samt Polizei und Metalldetektor) ist ein erstaunliches Bauwerk voller Leben. Der gesamte Pilgerbetrieb beschäftigt in Tempel und Umfeld an die zwanzig tausend Menschen. Und das alles für den kleinen, schwarzen Kauz mit seinen weißen Kulleraugen.

Zum Abschied warnte mich der Bibliothekar noch, ich solle niemanden auf der Straße Geld geben, der sich als Spendensammler für die Bücherei oder sonst etwas ausgab. Als ich bei meinem etwas stürmischen Verlassen des Gebäudes mit einem Händler kollidierte, sodass ein paar seiner Süßkrapfen zu Boden fielen, wollte ich ihm natürlich eine Entschädigung zahlen. Beim Zücken meiner Geldbörse zeigte der Mann jedoch ablehnende Gesten und auch die übrigen Händler riefen „No Sir. No money.“ Das soll noch einer verstehen. Die Menschen sind hier wirklich anders als in Delhi oder Uttar Pradesh.

Nach einem Sonnenuntergangsbesuch am Strand beendete ich den Tag mit hervorragenden Garnelen in scharfer Masala Sauce und Reis, dazu ein kühles (und wirklich gutes) Haywards 5000.

Später half mir ein Hotelangestellter noch beim Montieren eines großen Moskitonetzes über meinem Bett. Darauf sollte man hier keinesfalls verzichten. Odisha ist ein Hochrisikogebiet für Malaria und Dengue Fieber. Ich rüste mich, so gut es geht. Schon vor zwei Tagen habe ich mit der Einnahme der Malaria Prophylaxe Pillen begonnen, bisher ohne spürbare Nebenwirkungen. Dazu kommt das mehrmals tägliche Einsprühen mit giftigen 50% DEET Spray. Bin gespannt, ob all dies etwas nützt. In zwei Tagen bin ich zum Glück wieder in malariafreien Gefilden. Da dürfen die Moskitos wieder kosten.

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Tag 58 – Konark

An diesem Tag besuchte ich die wichtigsten historischen Stätten und Sehenswürdigkeiten der Umgebung von Puri im Rahmen einer ganztägigen Bustour der Odisha Tourism Development Corporation. Ein Minibus mit nettem Guide chauffierte uns für etwa fünf Euro den ganzen Tag durch die Gegend. Wiewohl der Bus voller Touristen war, war ich der einzige nichtindische Tourist an Bord. Wohlhabende Inder gönnen sich gerne Urlaub im eigenen Land. So plauderte ich mit einigen Odisha-Touristen aus Kerala und Kolkata.

Nach zwei kurzen, eher unspektakulären Stopps an einem kleinen Tempel und einem schönen Strand erreichten wir um acht Uhr morgens schon das Highlight des Tages, UNESCO Welterbe und – wie Lonely Planet schreibt – raison d’être Odishas: Wir erreichten den Sonnentempel von Konark.

Dieser stammt wie Jagannath Mandir aus dem dreizehnten Jahrhundert, ist aber im Unterschied zu letzterem nicht mehr in Betrieb. Ein Grund dafür ist der Einsturz des Hauptturmes Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Doch auch der Rest ist monumental genug. Eigentlicher Schatz sind dabei die in faszinierender Detailgenauigkeit in den Stein geschnitzten Figuren und Geschichten, die alle Wände ausfüllen. Ich nahm mir einen Guide und ließ mir binnen einer Stunde viel erklären. Einiges lässt staunen.

Den Eingang des Komplexes bewachen zwei Löwen, die unter sich zwei Elefanten zerdrücken, welche wiederum zwei Menschen in ihren Rüsseln erwürgen. Elefanten und Löwen symbolisieren einerseits Reichtum und Macht, die beide vermögen, den Menschen zu beugen. Anderseits kann das Besiegen des Elefanten durch den Löwen auch auf die wiedergewonnene Dominanz des Hinduismus gegenüber dem Buddhismus anspielen. Das erste Gebäude des Tempels, die dancing hall, zeigt dreihundert oder mehr detailierte Gravuren von Frauen, die die dreihundert oder mehr Tanzfiguren der damaligen Zeit zeigen. Tanz war hier im dreizehnten Jahrhundert so richtig in.
Noch viel imposanter ist das teils leider eingestürzte Hauptgebäude, das als ganzes einen von sieben Pferden gezogenen auf vierundzwanzig Rädern fahrenden himmlischen Wagen darstellt. Die Sieben steht für die Tage der Woche oder auch, wie mein Guide sagte, für die sieben Farben der Sonne. Die Pferde sind leider nur mehr teilweise erhalten, die mächtigen Räder sind noch fast alle da. Einige von ihnen dienen als sehr präzise Sonnenuhr mit Minutenskala. Erstaunlich genau. Dann gibt es noch drei schöne Granitstatuen der Sonnengöttin Surya, die Morgen, Mittag und Abend symbolisieren. Wahres Highlight sind aber die tausenden Gravuren im Stein. Viele davon zeigen Alltagsszenen aus dem dreizehnten Jahrhundert. Von vielen kann man über jene Zeit lernen. Die Geschichten im Stein erzählen von Frauen, die damals schon prunkvollen Ohrschmuck und sogar Stöckelschuhe trugen. Sie freuen sich, wenn der Mann von der Jagd nach Hause kommt, machen sich Sorgen, wenn er fern bleibt und schneidem ihm wutentbrannt die Haare ab, wenn sie ihm mit einer anderen erwischen. Von den Bildern im Stein weiß man auch, dass man damals schon Moskitonetze benutzte und Handel mit Afrika trieb. Auf einem Bild wird nämlich eine Giraffe eingekauft. Auch gezeigt wird, wie sich eine Frau nach ihrer Niederkunft zur Desinfektion über das offene Feuer stellt, in wilden Südwesten Odishas und in Indiens Nordostprovinzen bis heute mangels Krankenhäusern gängige Praxis, so sagte mein Guide.

Die tausenden Abbildungen am Sonnentempel sollen das ganze Leben darstellen, zum Großteil aber (mehr als 50%) zeigen sie vor allem eins: Sex. Die Künstler des dreizehnten Jahrhunderts waren äußerst kreativ. Ob homo oder hetero, ob Zweier, Dreier, Vierer, Fünfer, ob mit Ziege, Hund und Katz, die Wände des Sonnentempels sind ein einziger Porno, Apotheose der Ausschweifungen. Sehr erheiternd waren die lakonischen Umschreibungen meines guides. „Here you see woman enjoying with dog. Here one woman, three men. She looking very happy. And here, this position only possible when woman is pregnant.“ Es war ein sehr interessanter Tempelbesuch.

Der nächste Stopp zeigte mir nichts Neues. Nach jenen von Lumbini, Pokhara und Darjeeling besuchte in Dhauli die nun schon vierte japanische Weltfriedenspagode dieser Reise. Hernach gab’s zur Stärkung ein gutes Thali.

Wir näherten uns Bhubanesvar, der Hauptstadt Odishas. Haupattraktion ist hier der riesige Lingaraj Mandir. Anders als in Puri wird hier nicht Jagannath oder sonst irgendeine Vishnuinkarnation verehrt. In Bhubanesvar dreht sich alles um Shiva, waren dem Zerstörergott hier in dieser zweitausend Jahre alten Stadt doch einst mehr als siebentausend Tempel geweiht. Der vierundfünfzig Meter hohe Lingaraj Mandir und die vielen kleineren Bauten, die ihn umgeben, sind immer noch in Verwendung. Nur Hindus dürfen hinein. Als einziger Nicht-Hindu in unserer Gruppe musste ich also draußen bleiben, konnte aber von einer Viewing platform über die Mauer spähen. Ein Hindu-Priester zeigte mir den Weg. Natürlich wollte er dafür eine Spende haben. Stolz erklärte er mir, dass nicht einmal die früheren Premierminister Indira Gandhi und Manmohan Singh in den Tempel durften. Letzterer war Sikh, erstere war zwar Hindu, aber in Italien geboren. Das geht anscheinend auch nicht. Jedenfalls hatte ich wunderbaren Blick auf den Tempel.

Hernach besuchten wir noch den nahen Mukteswar Tempel, welchen sogar ich betreten durfte. Einmal mehr sah ich schöne Figuren im Stein. Die Nagakönigin sieht aus wie eine Meerjungfrau.

Eine weitere spannende Attraktion nahe Bhubanesvar sind die Höhlen von Udayagiri und Khandagiri. Die beiden Hügel bergen dutzende Höhlen mit schönen Einkerbungen, manche aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Damals gruben jainistische Asketen die Höhlen in den Stein um hier Askese zu betreiben. Manche tun das auch heute noch. Ich kletterte auf beiden Hügel herum und bestaunte zum Einen Höhlen, Inschriften, tigerkopfförmige Höhleneingange und schöne Aussicht, zum Anderen die possierlichen schwarzgesichtigen Affen, die hier überall herumturnen und sich kaum von den vielen Menschen stören lassen. Ein Affe saß bananeessend auf der Mauer. Ich setzte mich direkt neben ihn. Er reagierte nicht einmal. Ich gab ihm ein Kokoskeks. Er sah mich prüfend an und nahm es. Eine indische Schulklasse kam des Weges. Die Kinder zückten ihre Kameras. Der Affe murrte und verschwand im Baum. Die Schüler kamen näher. Der Affe war ihnen egal. Sie wollten ein Foto mit mir. Als ich sagte, sie sollten doch besser die Höhlen fotografieren, kam der Lehrer auf mich zu. „Please sir, it is very strong desire for them to take group picture with you.“ Ich gab nach und ließ mich umrundet von Schülern fotografieren. Einer wollte hernach noch ein Autogramm auf seine Hand geschrieben. Bin ich hier so ein Kuriosum?

Auf dem Gipfel des Khandagirihügels steht ein jainistischer Tempel neuerer Zeit. Man muss alle Ledergegenstände ablegen, um hinein zu dürfen. Als ich festgestellte, dass dies auch meine Geldbörse betraf, wurde mir das Ganze zu umständlich und ich floh vor Affen, Jainisten und Schulkindern zurück in den Bus.

Der letzte Halt des Tages war der Zoo von Nandankanan. Traurig blickt der alte, einsame, einzige Orang Utan Indiens vor sich hin. Tiger und Löwen haben es besser. Ihre Gehege sind riesig. Man steht nicht am Rand, sondern fährt mit einem vergitterten Bus mitten hindurch. Interessant waren auch die kleinen, neugeborenen Krokodile.

Gegen sieben, lange nach Einbruch der Dunkelheit, war ich zurück in Puri und genoss köstliches Mushroom Butter Masala mit reichlich Roti.

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Tag 59 – BBV Chennai Super Fast Express

So ein Tag im Zug kann faszinierend sein, vor allem in Indien.
Morgens verließ ich das beschauliche Puri und nahm, da es von hier aus keine Direktverbindung nach Chennai gab, einen Bus nach Bhubanesvar. Hier, am bisher saubersten und übersichtlichsten Bahnhof dieser Reise, bestieg ich den BBV-Chennai Superfast Express, der in nur zwanzig Stunden die 1223 Kilometer bis nach Chennai zurücklegt, großteils entlang der Küste.

Die ersten vier Stunden der Fahrt verbrachte am Fenster sitzend und betrachte sowohl die vorüberziehende Landschaft, wie auch die bunte Folge von Menschen, die sich ihren Weg durch den Waggon bahnten. Im Minutentakt kommen Händler vorbei und rufen ihre Waren aus. Ob Tee, Kaffee, Pani/Water, kalte Softdrinks, Snacks, warme Speisen in Aluverpackung – alles ist jederzeit zu haben. Manche verkaufen auch Schlösser zum Sichern des Gepäcks, manche Spielzeug, andere reparieren Reißverschlüsse. Ein ständiger Strom von Angeboten. Der Tee ist wirklich sehr gut, das Essen ebenso. Neben den Händlern und den Zuggästen selbst gibt es auch viele Bettler, eine Schar beklagenswerter Gestalten, die den Korridor entlang humpeln. Vielen fehlen Beine oder Hände. Traurig, dass diese Menschen darauf angewiesen sind, bettelnd durch volle Züge zu traben. Was es aber mit den Männern in Frauenkleidern auf sich hat, die sich vor einen hinstellen, in die Hände klatschen und aus irgendwelchen Gründen Geld wollen, ist mir schleierhaft.

Doch auch draußen gab es viel zu sehen. Südlich von Bhubanesvar passierten wir den großen Süßwassersee Chilika, ein etwa eintausend Quadratkilometer großes Refugium und Winterziel vieler Zugvögel aus ganz Asien. Bald erreichten wir die Grenze in der riesigen Provinz von Andhra Pradesh. Diese würde ich nur vom Zug aus sehen. Ich sah weite, grüne Felder, Palmenwälder, Hügel in der Ferne. So leer an Siedlungen und Menschen habe ich Indien bisher nirgendwo gesehen. Erfrischende leere, grüne Welt. Wir verließen eben die Stadt Vizianagaram, als das letzte Tageslicht verschwand. Ich kletterte in meine Koje und schlief ein.

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Tag 60 – Chennai I

Mit nur einer Stunde Verspätung fuhr der Zug nach einundzwanzig Stunden Fahrt im schönen Bahnhofsgebäude Chennai Central ein. Zuvor erlebte ich noch schöne Sicht auf in der Sonne blitzende Felder und Wasserreservois, sowie ein paar kurze heftige Regenschauer im Morgengrauen. Zum ersten Mal auf meiner Reise fand ich das Hotel meiner Wahl bereits voll belegt vor. In nächster Nähe gab es aber auch andere Optionen, die Platz für mich hatten. Zu Mittag speiste ich im Hotel Saravana Bhavan. Dies ist kein Hotel, sondern eine vegetarische Restaurantkette mit gutem, günstigem südindischen Essen. In ganz Chennai gibt es etwa zwanzig Filialen. Diese dosas, idlis und vadas … Und erst das rasam … Einfach hervorragend. Man würde sich eine Filiale in der Heimat wünschen.

Per Stadtbus gelangte ich schnell und unumständlich in den südlichen Stadtteil Mylapore. Dieser ist bedeutend älter als das übrige Chennai. Hier an diesem dafür so unwahrscheinlichen Ort stößt man auf das angebliche Grab des Apostel Thomas (jener, der so vorbildhaft an der Himmelfahrt l zweifelte), welcher hier 72 nach Christus den Märtyrertod gestorben sein soll, erstochen mit einer Lanze. Selbige und auch ein Knochen des Thomas  (die übrigen sind im Lauf der Jahrhunderte irgendwie nach Italien gelangt) kann man in einer Kapelle unterhalb der strahlend weißen, neogotischen St. Thome Kathedrale bestaunen. Diese (von den Portugiesen 1523 erbaut, dann niedergerissen und in der jetzigen Form 1890 von den Briten errichtet) brüstet sich stolz, mit der Kathedrale von Santiago di Compostella und dem Petersdom eine  von drei Kirchen weltweit zu sein, die auf einem Apostelgrab steht.

Wie man sich denken kann, sind die historischen Belege hierfür äußert dürftig. Dass Thomas, falls es ihn wirklich gab, vierzehn Jahrhunderte vor Vasco da Gama, den Weg nach Indien gefunden haben soll, mag sehr weit hergeholt klingen. Ganz so unwahrscheinlich ist es aber doch nicht. Mylapore ist sehr alt und trieb erwiesenermaßen Handel mit dem antiken Griechenland und Rom. Ptolemäus erwähnt den Ort in seinen Schriften und in Mylapore fand man römische Keramik. Und auf den Wegen, wo Keramik wandert, kann auch ein Mensch weit kommen. Viel unwahrscheinlicher, als dass es einen frühen Missionar hierher verschlagen hat, finde ich den Umstand, dass Lanze und Knochen nach fünfzehn Jahrhunderten ohne Christentum noch auffindbar waren. Eine DNA Analyse wäre hier spannend.

Unweit von St. Thome befindet sich ein religiöses Bauwerk ganz anderer Art. Der hinduistische Tempel Kapaleeshwarar zeigt, dass hier im Süden ganz andere architektonische und künstlerische Traditionen vorherrschen. Bunter geht es nicht. Der hohe Torturm allein mit seinen Hundertschaften an farbenfrohen Figuren ist ein Augenschmaus. In die innere Säulenhalle dürfen nur Hindus, doch eine Umrundung lohnt sich sehr. Hinter dem Tempel findet man schließlich einen großes, schön verziertes Wasse
rbecken, Parvati gewidmet.

Wieder ein paar Straßen weiter betrat ich die ruhigen, grünen Gefilde des Sri Ramakrishna Math. Hier haust und wirkt ein Mönchsorden, der sich auf den Guru Ramakrishna aus dem neunzehnten Jahrhundert beruft. Einige Cartoons an den Wänden lehren recht fragwürdige Lektionen des Gurus, welcher sich selbst für eine Inkarnation hielt, dem Namen nach wahrscheinlich von Vishnu. Die Mönche sind sehr freundlich, die Bauten eindrucksvoll. Einer der Mönche kam mir sogar nachgelaufen, als er sah, dass ich mich nicht in die hinteren Räume der Haupthalle gewagt hatte. Es war ihm wichtig, dass ich alles sah, auch die seltsame Puppe des Gurus.

Per Riksha ließ ich mich an Chennais  breiten Sandstrand bringen. Kaum jemand badet hier. Dafür ist

die Strömung zu gefährlich und der Strand zu verdreckt. Dennoch ist der Ort voller Leben. Es herrscht Jahrmarktsatmosphäre. Händler verkaufen Popcorn und andere Snacks. Es gibt improvisierte Schießbuden, wo man mit Darts oder Luftdruckgewehr auf Luftballons zielt und sogar ein kleines Karussell mit hölzernen Pferden. Menschen spielen Cricket und Fußball. Andere lassen Drachen steigen. An manchen Stellen spielen Musiker ihr Lied. Und all dies wird untermalt vom ständigen Grollen der Brandung.

Während ich dort durch das bunte Treiben spazierte ging über dem Land die Sonne unter. Vorbei an der Baustelle des Super Multi Specialized Hospital (die Indern stehen auf solch Übertreibung) erreichte ich bald meine Bleibe, aß einmal mehr im Hotel Saravana Bhavan und setzte dem Tag ein Ende.

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Tag 61 – Chennai II

Der Tag begann mit dem Besuch des Government Museums, dem bisher besten dieser Reise. Man findet viel darin. Zoologie, Astronomie, Anthropologie, Archäologie, klassische Kunst, zeitgenössische Kunst, etc. Auch architektonisch geben die Museumsgebäude einiges her. Man kann hier Stunden verbringen. Und das hab ich auch getan. Der Kugelsternhaufen mit der Beschriftung „Big Bang“ tat ein bisschen weh. Dafür waren die vielen Tierskelette famos, vor allem die Riesenpython oder die Gegenüberstellung eines menschlichen Skeletts und dem eines riesigen, sich aufbäumenden Pferdes. Beide sind so montiert, als wollte der Mensch das Tier eben bändigen und seinen Rücken erklimmen. Erstaunlich anzusehen. Interessant waren auch die vielen Relikte der frühen dravidischen Kultur.

Ein kurzer geschichtlicher Ausflug: Laut der gängigsten Theorie (nicht unumstritten) wurde die Geschichte Indiens stark von der arischen Invasion etwa 1500 vor Christus geprägt. Die Arier, ein indoeuropäisches Volk aus der Gegend von Afghanistan und Zentralasien (nicht blond und blauäugig) brachten Hinduismus und Kastensystem nach Indien und vermischten sich mit der früher vorherrschenden Bevölkerung. Allein der Süden Indiens (vor allem Tamil Nadu, Kerala, Karnataka und Andhra Pradesh) blieben von der arischen Invasion unberührt. Die hier gesprochenen Sprachen (das Tamil, das Malayalam, das Kannada und das Teluga)  sind auch nicht mit dem indoeuropäischen Hindi verwandt. Traditionell ist man hier im Süden auch immer schon gegen das Kastensystem gewesen, da dieses die arisch beinflusste, eher hellhäutigere Bevölkerung im Norden bevorzugt. Vor allem hier in Tamil Nadu ist man stolz auf die dravidische Herkunft und meint das ursprüngliche Indien zu repräsentieren. Immer wieder gab und gibt es Abspaltungsbewegungen. Vom Norden übernommen wurde der Hinduismus. Kaum irgendwo in Indien findet man so glühende Shivaverehrer wie hier in Tamil Nadu.

Im Museum sah ich nun viele Relikte dravidischer Kultur.  Ausgestellt sind aber auch römische Keramiken, die es auf Handelswegen hierher geschafft haben.

Ein besonderes Highlight war die dreistöckige Bronzegalerie, nicht nur wegen der schönen Skulpturen, sondern auch wegen der sehr übersichtlichen Erklärung und Gliederung. So galt ein Stockwerk dem Shivakult, eines dem Vishnukult. Schautafeln bringen Licht ins Gewirr der vielen Namen, die beide Götter je nach Körperhaltung, Stimmung und Begleitung haben können. Mir ging so manch ein Licht auf. Interessant ist, dass es in Indien nie namhafte Konflikte zwischen Shaiviten und Vaishnaviten gab. Immerhin glaubt eine jede Gruppe, dass ihr Gott der mächtigere ist.

Besonders in der Astronomieabteilung fiel mir einmal mehr die Verwendung der eigentümlichen numerischen Einheit des Lakh auf, welche nicht nur in Indien sondern auch in manch umliegenden Kulturen verbreitet ist. Die Million wird kaum verwendet, denn eine Million sind zehn Lakh. Die Erde ist nicht vier Milliarden Jahre sondern vierzigtausendtausend Lakh Jahre alt. Der Durchmesser der Milchstraße sind ein Lakh Lichtjahre.

Ich floh vor der Mittagshitze zurück ins Hotel und ließ mich Stunden später von einer Riksha zum Fort St. George bringen. Da hier auch mehrere Regierungsgebäude und eine Kaserne untergebracht sind, ist das alte Fort der Briten schwer bewacht. Besucher dürfen sich nur auf einem sehr kleinen Areal bewegen und Museum und Kirche besuchen. Beide sind nicht besonders aufregend. Die Gemäldegalerie mit ihren Darstellungen britischen Monarchen war jedoch beeindruckend genug, sodass der Besuch sich lohnte.

Vom Fort spazierte ich noch zum wahrscheinlich schönsten Gebäude der Stadt, dem 1892 vollendeten High Court mit seinem roten „indo-sarazenischen“, hochaufragenden Türmen und Gewölben. Wirklich beeindruckend schön – auch wenn man leider nicht hinein darf.

Per Stadtbus fuhr ich im Sonnenuntergang zurück zum Hotel.

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Tag 62 – Mamallapuram I

Der Tag begann etwas holprig. Zuerst musste ich im Hotel noch warten, bis man mir meine Wäsche, die eigentlich schon gestern hätte fertig sein sollen, brachte. Erst dann konnte ich fliehen. Da es mir per Stadtbus nicht gelang, ließ ich mich schließlich per Autoriksha zum T Nagar Busbahnhof bringen. Dieser ist ein logistischer Albtraum. Niemand vermochte mir zu sagen, wann und wo genau der nächste Bus nach Mamallapuram abfahren würde. Ich wusste nur, dass es die Nummer 599 war und diese etwa einmal stündlich fahren würde. So drehte ich am Busbahnhof meine Runden, sah alle möglichen Nummern (vor allem viele 591 und 597), nirgends aber 599. Endlich, nach über einer Stunde Warten, kam die 599. Ich verbrachte zwei Stunden mit meinem Rucksack am Schoß im hinteren Eck des Buses, während dieser nach Süden fuhr.

Und dann: Mamallapuram – was für eine Wohltat. Frischer, kühlender Seewind, ein günstiges Zimmer nur Meter entfernt von den brechenden Wellen mit Balkon und herrlichem Blick auf das Meer und die nahen Türme des Küstentempels aus dem siebten Jahrhundert. Dazu köstliche Meeresfrüchte, gratis WLAN, freundliche Menschen und alles, was der Backpacker braucht. Schon nach Minuten war mir klar, dass ich hier länger bleiben würde. Ich verschob die Besichtigung der UNESCO Welterbestätten auf morgen, stürzte mich in die Brandung, ließ mir das Haupthaar abrasieren und genoss Sonne, Wind, Meer, Strand, Ananassaft  und andere schöne Dinge. Die meiste Zeit saß ich auf meinem Balkon und beobachtete das Geschehen am Strand. Fischer fuhren aufs Meer hinaus. Eine Kuh und ihr Kalb schritten den Strand entlang. Nebelkrähen kämpften gegen den Wind.  Interessanterweise gibt es hier nirgendwo Möwen.  Nachts sah ich die Sterne und das ständige Rauschen des Meeres.

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Tag 63 – Mamallapuram II

Von meinem Balkon aus sah ich der Sonne über dem Meer beim Aufgehen zu. Dann brach ich auf, um die Weltkulturerbestätten des Ortes zu erkunden. Allesamt stammen aus der Zeit des Königreichs von Pallava, das hier im heutigen 17,000 Einwohner Dorf seinen wichtigsten Hafen hatte. Die Bauten zeugen von der einstigen Macht dieses Reiches aus dem siebten Jahrhundert. Die beiden Türme des Küstentempels, dem ich zuerst besuchte, sind nur ein erster Vorgeschmack. Leuchtturmartig auf einer felsigen Halbinsel gelegen ist der Küstentempel dem Seewind schutzlos ausgeliefert. Die stark verwitterten Skulpturen von Nandi, Shiva und anderen zeigen sehr anschaulich, was Wind und Wetter binnen dreizehn Jahrhunderten anrichten können. Die Konturen sind nur mehr verschwommen erkennbar. Nur im Innern der Tempel sind Shiva und auch Vishnu noch scharf zu sehen.

Nach gutem Frühstück erkundete ich den Hügel von Mamallapuram, welcher mit bizarren Gesteinsformationen überrascht, in welche die Künstler von einst faszinierende Figuren und Höhlungen gemeißelt haben, allen voran „Arjunas Buße“, einem etwa sieben Meter hohen, fünfzehn Meter breiten Ensemble in Stein gehauener  Figuren (an die hundert an der Zahl). Neben Nagas, die aus einer Felsspalte schweben, Elefanten, einer Katze, die vor Mäusen ihre Taten büßt und anderen Figuren sieht man einen Mann, der auf einem Bein steht. Dieser wird als Arjuna, dem Helden der Mahabharata, identifiziert. Das Stehen auf einem Bein symbolisiert die mühseligen Entbehrungen, denen er sich unterwirft, um von Shiva die mächtige Pasupata Waffe zu erlangen. (Die nützt ihm allerdings recht wenig, da man damit nur Götter umbringen kann, Arjunas Feinde, die Kauravas, aber menschlich sind.) Shiva mit himmlischem Gefolge und Waffe ist ebenfalls in den Stein gemeißelt. Da ich das entsprechende Kapitel in der Mahabharata erst vor ein paar Tagen gelesen hatte (Was für ein Timing!), kam mir die Szene sehr bekannt vor. Man kann hier lange stehen und staunen (und wird dabei leider ständig von Leuten abgelenkt, die einem irgendwelchen Ramsch verkaufen möchten). Jedenfalls gilt „Arjunas Buße“ als eines der größten Kunstwerke des antiken Indiens.

In den hohen Felsen und kleinen Schluchten, die sich dahinter erstrecken, kletterte ich mehr als eine Stunde lang umher und fand weitere in Stein gehauene Tempel und Figuren. Eine Wand zeigt Pfaue und Elefanten, eine andere Brahma, Shiva und Vishnu, die Dreifaltigkeit an der Spitze der hinduistischen Götterwelt. Besonders imposant ist Krishnas Butterball, ein etwa fünf Meter hoher, fast kugelrunder, freistehender Felsen, der so aussieht, als würde er jederzeit den Hügel hinabrollen. Ein paar Bauten, sowie ein ein weiteres Figurenensemble ähnlich groß wie „Arjunas Buße“ wurden nie fertiggestellt und zeugen vielleicht vom plötzlichen Niedergang des Pallava-Königreichs. Als einziges modernes Gebäude inmitten von steinernen Zeugen der Vergangenenheit findet man Mamallapurams beschaulichen Leuchtturm.

Ein kleines Stück südlich der Stadt erreichte ich die fünf Rathas. Es sind dies fünf kleinere (bis zu zehn Meter hohe) steinerne Strukturen, die wie Tempel aussehen und unterschiedlichen Göttern gewidmet sind. Das Beeindruckende daran ist, dass alle fünf nicht „gebaut“, sondern jeweils aus einem einzelnen Felsen gehauen wurden. Über tausend Jahre lang lagen sie im Sand begraben. Erst vor zwei Jahrhunderten brachten die Briten sie wieder ans Licht. Seltsamer Gedanke. Was wohl noch so alles im Sand schlummert? Im Jahre 2004 mussten die fünf Rathas teilweise erneut ausgegraben werden, da der Tsunami (der auch hier Verheerung brachte) sie wieder zugedeckt hatte.
Benannt sind die fünf Rathas nach den fünf Pandava Brüdern und ihrer gemeinsamen Gattin Draupadi, die mir aus meiner Lektüre inzwischen sehr vertraut sind. Draupadis Ratha ist der Göttin Durga gewidmet. Ein riesiger, steinerner Löwe bewacht den Eingang. Arjunas Tempel gehört Shiva. Ein freundlicher Nandi Stier aus Stein sonnt sich hinter dem Tempel. (Ich orte hier starke Shiva-Voreingenommenheit der Namensgeber. Jeder, der die Mahabharata kennt, weiß doch, dass Vishnu Arjuna viel näher steht. Wenn man aber glaubt, dass Shiva der mächtigste Gott ist, muss man wohl auch seinen Tempel nach dem mächtigsten Pandava benennen.) Der unvollendete Tempel des starken, aber einfältigen Bhima ist Vishnu geweiht. (Passt gar nicht.) Yudhisthiras Tempel scheint keine klare Haupgottheit zu haben, zeigt aber an der Außenwand einen eigenartigen Shiva-Parvati Hybriden. Der schöne Tempel der Zwillinge Nakula und Sahadeva ist Indra gewidmet. (Das passt genau.) Der kunstvolle, lebensgroße  Steinelefant davor ist wirklich famos. Die Proportionen stimmen. Indra ist übrigens eine sehr interessante Gottheit. Alte Schriften wie das Ramayana bezeichnen ihn noch als König der Götter, während er später nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Man geht davon aus, dass Indra einer viel älteren Götterwelt entstammt, die nach und nach vom Vishnu-Shiva-Brahma Kult verdrängt und doch teils auch in diesen integriert wurde. Über Indra sinnierend schritt ich den Strand entlang zurück zu meinem Hotel.

Mittag, Nachmittag und Abend galten reiner Erholung. Ich schwamm im Meer, sprang durch die Wellen, las Mahabharata, aß Fisch und Pizza und schlenderte durch das Fischerdorf. Erwähnt werden sollte noch, dass einige Restaurants sehr eigenartige Namen und Slogans haben. So heißt ein Lokal „Freshly ’n‘ hot“, was grammatikalisch überhaupt keinen Sinn macht. Ein anderes schreibt groß „Pizza is our new Yes!“. Aha. Your words are aenigmatical.

Interessant ist auch, dass die meisten Lokale hier zwar Bier haben, sich aber davor scheuen dies in der Karte oder sonst wo zu erwähnen. Dazu sind die nahen hinduistischen Stätten wohl doch zu heilig und die Worte der Mahabharata zu gegenwärtig: „Jene aber, die der Schlacht den Rücken kehren, jene, die verschlagen sind, jene, die den Göttern nicht geopfert, die nicht auf Alkohol und Fleisch verzichtet, die nicht in heiligen Flüssen gebadet haben, jene werden die himmlischen Gärten von Nandana niemals erreichen.“ Das mit dem Fleisch lass ich ja noch gelten und verschlagen bin ich auch nicht. Aber der Rest … Hypothetische Gärten können mir gestohlen bleiben. Die Gärten der Wirklichkeit sind schön genug. Zum Wohl. 

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Tag 64 – Pondicherry

Der Tag begann mit einem weiteren Sonnenaufgang über dem Meer, den ich von meinem Balkon genießen konnte. Der Besitzer des „Freshly ’n‘ hot“ hat es  begriffen, dass er ein sehr gutes Geschäf macht, wenn er Frühstück schon ab sieben und nicht erst wie hier  üblich ab neun anbietet. Als ich  dort auf netter Terrasse inmitten anderer Reisender speiste, vernahm ich, dass man am Nebentisch zur Kommunikation eine dem Innschbruckerisch nahestehende Sprache nutzte. Ich outete mich jedoch nicht.

Per Bus gelangte ich binnen zwei Stunden problemlos nach Pondicherry, wichtigste Stadt des einstmals französischen Teiles von Indien. Bis 1957 war man hier Teil der Grande Nation. Viel geblieben ist nicht. Frankreichs Spuren sind stark verwischt und verwittert.

Ein paar kleine Ärgernisse erwarteten mich gleich bei meiner Ankunft. So haderte ich mit halsabschneiderischen Tuktuk Fahrern und dem in einigen Hotels vorherrschenden Verbot, sein Gepäck dort nach Checkout noch ein paar Stunden zu lagern. Unverständlich. Schließlich fand ich aber im Kailash Guesthouse alles, was der Backpacker braucht, sogar Gratis WLAN. Das erste Buch, das ich in der beschaulich eingerichtet Lobby auf einem der Tische liegen sah, war „Silentium“ von Wolf Haas. Österreich verfolgte mich heute. Dieser Brenner, wo sich der überall herumtreibt. Sogar in Pondicherry treibt er schon sein Unwesen.

Zum Mittagessen wurde mir im Restaurant Suguru das bisher beste und bunteste Thali dieser Reise serviert. Neun kleine Schalen voller Köstlichkeiten. Dazu reichlich Reis und Roti.

Es war ein ruhiger Nachmittag. Die meisten der wenigen Sehenswürdigkeiten Pondicherrys waren schnell besucht. Im Musée sah ich weitere Römerkeramik. Schautafeln geben an, dass es anscheinend tatsächlich Hinweise gibt, dass römische Schiffe nahe Pondicherry anlegten und Olivenöl und Wein ins frühe Indien brachten. Das römische Reich überrascht mich immer wieder. Im Obergeschoss des Museums werden schöne Möbel aus der Kolonialzeit, manche davon Eigentum des französischen Gouverneurs Dupleix, gezeigt. Auch die Karosserien mehrerer Kutschen stehen hier.

Nahe dem Museum findet man als Kontrastprogramm einen Ganesh geweihten Hindutempel mit vielen hingebungsvollen Gläubigen. Ein Stück weiter südlich gegenüber dem kanonenflankierten Eingang der neoklassischen Gouverneursresidenz, erstreckt sich die symphatische Parkanlage Barathi. Schattige Bänke und grüne Bäume laden zum Verweilen ein.
Östlich des Parks steht ein alter Leuchtturm. Gleich dahintererreichte ich beim großen, beachtlichen Gandhi Denkmal mit seinen vielen Säulen und der Statue des Vaters der Nation die Küste. Pondicherry hat keinen Strand, sondern eine breite Uferpromenade, die morgens und abends zur Fußgängerzone wird. Schwarze Felsblöcke, auf denen es sich bequem sitzen lässt, begrenzen die Promenade zum Meer hin. Das Baden ist wegen gefährlicher Brandung verboten. Immer wieder sterben hier Leute, die von den Wellen gegen die Felsen geschleudert werden. An sich wäre die Uferpromenade von Pondicherry ein recht pittoresker Ort, wäre da nicht der viele Müll, der überall zwischen den Felsen herumliegt. Ständig kann man beobachten wie Inder hier Papier, Essensreste und Plastikflaschen in vollster Selbstverständlichkeit zwischen die Steine werfen. Traurig.
Nahe dem Gandhi Denkmal und einem kaum minder imposanten französischen Weltkriegsdenkmal (Nummer 1) findet man direkt am Ufer einen weiteren Hinweis auf das verschwundene Frankreich. Im „Le Café“ gibt es hervorragenden Kaffee, Croissants, Frühstück, Eisbecher und mehr. Die Brandung lässt einen hin und wieder die Nähe des Meeres spüren, während man dort einen Hauch von Europa genießt.

Als ich später vorbei an Kunstatteliers und einem kleinen Theater durch die beschaulichen, verkehrsarmen Straßen der Rue Dumas, Rue Romain Rolland und Rue St. Laurent schlenderte, wurde ich plötzlich  und ganz spontan als Statist für den Dreh eines Films (oder Werbespots ?) engagiert. Auf der Straße spielten Kinder und ein Mann Fußball, während im Hintergrund ein paar Fahrradrikshas mit Touristen passierten. Mein gemütlicher Statistenjob bestand darin, in der Riksha zu sitzen und den Jungs beim Ballspiel zuzusehen. Da der Ball ständig in falsche Richtungen rollte, brauchten wir für diese paar Sekunden Film sicher zwanzig Takes. Es dauerte eine Weile. Endlich zeigte sich das große Filmteam zufrieden.

Nach dem Dreh besuchte ich noch die Kirche Notre Dame des Anges, eines von drei großen
Gotteshäusern, die die Franzosen der Stadt hinterlassen haben. Auf einer freien Fläche gegenüber der Kirche sah ich ältere Inder beim Pétanque-Spiel, untrügliches Zeichen französischer Vergangenheit. Ältere Herren beim Pétanque – das sieht man außerhalb Frankreichs auch in Laos und im übrigen Indochina. In Indien gibt es das wohl nur in Pondicherry.
Ich verbrachte einen gemütlichen Abend im Hotel.

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Tag 65 – Auroville

Am Morgen widmete ich mich nach gutem Frühstück im Le Café jener Einrichtung, die heutzutage wohl die meisten Besucher nach Pondicherry lockt, dem Sri Aurobindo Ashram.

Ein Ashram ist eine Art Sektenhort, wie es in Indien viele gibt. Eben an diesem Tag berichteten Medien von einem Ashram in Haryana, nordwestlich von Delhi, der von der Polizei gestürmt werden musste, da sich der Guru wohl über dem Gesetz wähnte und in einige Morde verwickelt war. Schließlich kam es zur Auseinandersetzung, ja fast schon Schlacht, zwischen 15000 Sektenmitgliedern und den Sicherheitskräften.

Die Sri Aurobindo Sekte, die auch in Europa schon ihre Ableger hat, ist noch frei von derlei Eskalation. Ihre Gurus, Sri Aurobindo und seine in Frankreich geborene Nachfolgerin, „die Mutter“, sind beide schon tot (They left their physical form), wenngleich in Pondicherry in Zitaten und auf Plakaten allgegenwärtig. Sogar die Tankstelle an der Ecke wirbt mit den lobenden Worten, mit denen „Mutter“ dort in Siebzigern ihr Tankerlebnis kommentierte.

Man hört, dass Sri Aurobindos Lehre sehr humanistisch und weltoffen sein soll. Überdies wird sie in mancher Beschreibung trotz allem Geschwafel von Yoga und supramentalem Bewusstsein als nicht-religiös bezeichnet. Ich zügelte also meine natürliche Abneigung gegenüber Sekten ein wenig und betrat in recht aufgeschlossener Stimmung den Ashram. In einem Blumengarten findet man dort die mit Blüten geschmückte Plattform, auf der Mutter und Sri Aurobindo verbrannt wurden. Menschen kommen zuhauf hierher, verbeugen sich, berühren die Blüten und meditieren am steinernen Boden. Eine Weile lang setzte ich mich dazu und beobachtete das Geschehen.

An einer Wand entdeckte ich dann eine Art Hinweisbrett, das den etwa tausend hier lebenden Sektenmitgliedern galt. Neben ein paar Rüffeln, wie etwa dem, dass manche zur falschen Zeit, die falschen Hemden getragen hätten und entsprechend bestraft werden würden, fand sich dort auch eine Art Grundsatzerklärung der derzeitigen Sektenleitung. Diese hat es in sich. Ich war schockiert und angewidert. Das Dokument bestätigte mir alle meine vermeintlichen Vorurteile.

Ein kleiner Auszug: „Mit absoluter Gewissweit wissen wir, wie glücklich wir uns schätzen können, im selben Zeitalter zu leben wie Mutter und Sri Aurobindo … ihr gewaltiges Geschenk an die Menschheit … Nur jene, die nach den Wünschen von Mutter und Sri Aurobindo handeln, nur jene, die alles dafür geben, die Träume von Mutter und Sri Aurobindo zu verwirklichen, nur jene dürfen sich Menschen nennen. Alle anderen sind Tiere.“

Da dreht es einem doch den Magen um. Die Behauptung, absolute Gewissheit über etwas zu haben, das damit verbundene Verbot jeglicher interner Kritik, die Entmenschlichung aller Andersdenkender – das ist reinster Totalitarismus. Auch wenn die Sektengründer vielleicht anders gesinnt waren, das jetzige Credo scheint gemeingefährliches Potential zu haben. Hinzu kommen Zitate der Mutter, die von der neuen Menschenrasse sprechen, die aus ihren Anhängern hervorgehen werde.  Das humanistische Antlitz, das sanfte Lächeln der Mutter, das Geschwafel von Superseinszuständen, Yoga und Meditation und noch viele andere Facetten dieser Sekte, deren Lockruf auch viele Europäer erfasst – all das ist nur Tarnung und Täuschung für eine  totalitäre Ideologie der Kontrolle. Und diesen Leuten, die mir mein Menschsein absprechen, soll man beim Besuch ihrer Brutstätte auch noch Respekt zollen. Widerwärtig.

Vor dem Verlassen des Ashrams kommt man noch durch den Bookshop. Dieser macht Angst. Die schiere Anzahl der Bücher von und über Sri Aurobindo und Mutter ist erstaunlich, auch die Anzahl der hier erhältlichen Übersetzungen. Ich fand ein ganzes Regal deutschsprachiger (natürlich unkritischer) Literatur zur Sekte. Zum Fürchten.
Ebenso unheimlich sind die vielen esoterisch angehauchten Neohippies westlichen Ursprungs, die hier sinnsuchend durch die Straßen laufen und mich nach dem Weg zum Haus der Mutter fragen. Nur zu Leute, verabschiedet euch vom kritischen Denken, schwelgt in Yoga und Sinnsuch-Meditation, lasst euch von Mutters pseudophilosophischem Geschwafel einlullen, spendet dem Ashram Zeit und Besitz und wähnt euch ach so überlegen den übrigen Menschen. In Wahrheit seid ihr nur Orwell’sche Sklaven eines totalitären Systems.

Auroville ist eine andere Geschichte, der ich durchaus etwas abgewinnen kann. Der Ort, etwa zwanzig Minuten außerhalb von Pondicherry, wurde zwar auf Bestrebungen der Mutter in den Sechzigern gegründet (die Position so gewählt, dass er jener entsprach, die Mutter mit geschlossenen Augen, doch „spirituellem Sinn“ auf einer Landkarte anzeigte), doch im weiteren Verlauf nahm Auroville eine von der Aurobindo Sekte recht unabhängige Entwicklung.
Die etwa zweitausend Einwohner (der Großteil aus dem Westen) versuchen hier den Traum einer internationalen Gemeinschaft zu leben. Unabhängig  von Nationalität und Herkunft, ohne Religion, ohne Geld und Privatbesitz versucht man sich hier im Leben eines Ideals, das wie die Lyrics von John Lennon’s „Imagine“ klingt. Gleichzeitig setzt  man auf Wissenschaft und Ökologie. Sonne und Wind bringen den Strom. Man entwickelt neue Wege um mit der richtigen Bepflanzung tote Erde in wertvollen Humus zu verwandeln. Gleichzeitig integriert man die Bevölkerung der umliegenden Dörfer, schafft ein Bewusstsein für Gleichberechtigung und Umweltschutz. Auroville scheint zu funktionieren. Ein bisschen Nörgeln muss ich aber doch: Leute von Auroville, es macht einfach keinen sich nicht-religiös zu nennen und dabei gleichzeitig ein der „Mutter“ gewidmetes Tempelbauwerk im Ortszentrum zu haben. Vor allem dann nicht, wenn ihr in den Infobroschüren von Dingen faselt wie den „vier
göttlichen Aspekten der heiligen Mutter“, denen die vier Eingänge entsprechen. Seufz.

Die Rede ist vom Matrimandir, einem beachtlichen Bauwerk, das architektonisch beeindruckt. Es sieht leicht außerirdisch aus. Man könnte es auch als riesigen, goldenen, abgeflachten Fußball beschreiben. Betreten dürfen den Matrimandir nur Bewohner von Auroville oder Gäste, die sich ein paar Tage vorher schon angemeldet haben. Der Raum im Inneren, der mit dem Sonnenlicht, das durch eine kleine Öffnung fällt, geschickt zu spielen weiß, dient der hier viel erwähnten „concentration“. Was auch immer damit gemeint sein mag.

Zurück in Pondicherry war nicht mehr zu tun, als ein bisschen Zeit totzuschlagen. Ich las auf den Felsen am Meer und im Barathi Park, saß lang bei Kuchen und Kaffee im Café des Artistes und besuchte die Herz-Jesu Basilika, eine sehr schöne Kirche, deren Modernität in Europa ihres Gleichen sucht. So sind auf jeder zweiten Säule beidseitig des Hauptschiffes 60 Zoll Flatscreen TVs montiert, damit wohl niemandem die Mimik des Priesters entgeht. Manch Heiligenbild an den Wänden ist von bunt blinkenden Lichterketten umrahmt.

Nach dem Abendessen holte ich problemlos meinen Rucksack im Guesthouses ab, plauderte mit dem freundlichen Besitzer und schritt dann durch die nächtlichen Straßen bis zum Busbahnhof, wo ich gegen zehn Uhr Abends endlich im meinen leicht verspäteten Bus nach Madurai steigen konnte.

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Tag 66 – Madurai

Bahnreisen sind in Indien viel angenehmer als Busreisen. Mit dieser Erkenntnis erreichte ich nach recht schlafloser Fahrt um 3:30 morgens den großen Busbahnhof von Madurai. Dort wartete ich, bis der Tag etwas näher rückte. Da es hier einen Cloakroom gab, konnte ich mich meines Rucksacks entledigen und leichten Schritts in den Stadtbus springen, welcher mich zum großen Meenakshi Amman Tempel brachte.

Dieser einzigartige Tempel ist die Hauptattraktion von Madurai. Verehrt wird hier Meenakshi, eine dreibrüstige Version von Parvati, der der Legende nach ihre dritte Brust abfiel, als sie ihrem künftigen Gatten Shiva begegnete. Der Tempel besticht vor allem durch seine vier riesigen Tortürme, die alle eine farbenfrohe Götterwelt zeigen. Im sechs Hektar großen Tempelareal kann man lange umherstreifen und entdeckt immer wieder Neues. Manche Bereiche sind nur für Hindus zugänglich. In seiner jetzigen Form wurde der Tempel im 17. Jahrhundert errichtet, seine Ursprünge gehen aber auf vorchristliche Jahrhunderte zurück. Interessant sind die Kleidervorschriften. Während Frauen Knie und Schultern verdecken müssen, können Männer oberkörperfrei durch den Tempel wandern. Die Kniee müssen aber bedeckt sein.

Zwei Stunden lang streifte ich im Morgengrauen durch den im Licht stets bunter werdenden Tempel. Dabei begegnete ich neben heiligen Kühen auch einem riesigen Elefantenbullen. Gläubige verbeugen sich vor dem Tier, als wäre es Ganesha selbst. Die Menschen geben dem Elefanten einen Geldschein. Dieser nimmt das Geld mit seinem Rüssel, reicht es diskret seinem Mahut und tätschelt dann anerkennend dem Spender per Rüssel den Kopf. Erstaunlich anzusehen.

Nach gutem, südindischem Frühstück (sambar und idlis), besuchte ich das zweite wichtige Bauwerk Madurais, den Palast von Tirumalai Nayak. Dieser Fürst lebte Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, als nach jahrzehntelanger Herrschaft muslimischer Könige wieder Hindus an die Macht kamen. Obwohl nur teilweise erhalten, zeugt der Bau von beachtlichen Ambitionen und immensen Reichtum des Herrschergrschlechts der Nayaks. Die riesige, 25 Meter hohe Säulenhalle ist beeindruckend. Selbst ohne Meenakshi Amman Tempel (übrigens auch von Tirumalai Nayak erbaut) wäre Madurai dank des Palastes einen Besuch wert gewesen.

Zurück am Busbahnhof nahm ich die letzten vier Stunden meiner langen Reise nach Süden in Angriff. Das Kap war nicht mehr weit. Die Fahrt hatte einige schöne Aussichten zu bieten, rückt man doch in die unmittelbare nähe der Westlichen Ghats, eines südindischen Gebirges, das Höhen bis zu zweitausend Meter erreicht. Die Hügel am Straßenrand erinnerten mich ein bisschen an die Gegend von Sedona, Arizona.

Am späten Nachmittag erreichte ich schließlich Kanyakumari. Kaum war ich da, brach ein Sturm herein und brachte reichlich Regen. Ich suchte mir ein günstiges Hotel und schritt dann Wind und Nässe trotzend die letzten paar Meter nach Süden. Eine orangefarbene Flagge ragt aus der Brandung und markiert den südlichsten Punkt des indischen Subkontinents. Der sturmumwitterte indische Ozean sprühte mir seine Gischt ins Gesicht. Schön war es, nach solch langer Reise in den Süden den südlichsten Punkt dieser Reise zu erreichen. Der östlichste Punkt war Gangtok gewesen. Westlichster und nordlichster Punkt standen mir noch bevor.
Trotz des Wetters war ich nicht der einzige am Kap. Zahlreiche hinduistische Pilger, die eben den nahen Kumari Amman Tempel besucht hatten, nahmen das rituelle Bad in den Wellen. Am meisten ins Auge stechen wohl die beiden kleinen Inseln östlich des Kaps. Auf einer von beiden steht die über vierzig Meter hohe Statue des tamilischen Poeten Thiruvalluvar. Beeindruckend, vor allem im Sturm. Nahebei ist auch das Gandhi Denkmal, ein kleiner rosafarbener Palast. Bald flüchtete ich den Regen und verbrachte eine schlafreiche Nacht im Hotel.

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Tag 67 – Kanyakumari

Auch am nächsten Morgen regnete es noch. Nach einem zweiten nassen Ausflug zum Kap besuchte ich das nahe Gandhi Memorial. Der schrullige, alte Museumswärter führte mich durch das Gebäude und erzählte voller Stolz von Gandhi, dem Vater der Nation. Das palastartige Memorial ist ein kurioser Mix verschiedener Stile, soll es doch eine harmonische Hybridversion von Moschee, Hindutempel und Kirche darstellen. Die Maße des Baus sind dabei im Verhältnis zu Gandhis Körpermaßen gewählt. In der Mitte der Haupthalle steht eine kleine schwarze Plattform. Zwei Tage nach Gandhis Tod wurde ein Teil seiner Asche hierher gebracht. Einmal im Jahr, an Gandhis Geburtstag, fällt das Sonnenlicht durch ein Loch in der Decke genau auf die Plattform. Bei diesem Gebäude hat man das Gefühl, dass die Gandhi-Verehrung fast religiöse Züge annimmt. Der Tsunami von 2004 hat auch hier einiges zerstört, etwa auch alle Fenster des Memorials. An der ganzen Küste gab es tausende Todesopfer.

Ich schleuste mich zum Frühstück in eines der teureren Hotels ein und tat mich am reichlichen Buffet gütlich. Hernach mischte ich mich unter den Pilgerstrom zum Kumari Amman Tempel. Die Göttin Kumari (anscheinend dieselbe, die in Kathmandu am Durbar Square wohnt) hat in grauer Vorzeit ein ganzes Dämonenheer besiegt. An die tausend und mehr Pilger kommen täglich hierher, um ihr dafür zu danken. Die Kleidungsvorschriften für den Tempelbesuch sind ähnlich wie in Madurai, mit dem Unterschied, dass Oberkörper-frei bei Männern nicht optional sondern obligatorisch ist. anscheinend mögen die weiblichen Gottheiten das so.

Trotz Regen und langer Wartezeit war es einer der schönsten Tempelbesuche dieser Reise, wohl vor allem deshalb, weil ich nicht als Tourist abseits stand, sondern mittendrin im Geschehen war und  genau denselben Hokuspokus mitmachte, wie jeder hinduistische Besucher auch. Außerdem fehlte das sonst übliche Spendengeheische.
Fast eine Stunde lang hieß es im strömenden Regen Schlange stehen. Ich plauderte mit ein paar Jungs aus Maharashtra, die den weiten Weg hierher gemacht hatten. Nett war es auch unisono mit allen anderen in wütendes Protestgeheul auszubrechen, wenn sich wieder jemand vordrängeln wollte. Das Innere des Tempels war sehr dunkel und nur mit Kerzen erleuchtet. Leichte Geisterbahnatmosphäre. Gleich allen andern zog ich mit mein T-shirt aus. Im Dunkeln tauchen hinduistische Priester auf und malen einem eine Tika auf die Stirn. Man bekommt ein Fläschchen Ingwer-Öl und ein Säckchen roten Kumkuma-Pulvers in die Hand gedrückt. Das Öl ist an einer gewissen Stelle nahe dem Hauptschrein ins Feuer zu gießen. Was ich mit dem Kumkuma anfangen sollte, habe ich nicht recht begriffen. Ich behalte ihn mal als Souvenir. Nachdem man den Hauptschrein der Kumari passiert hat, gelangt man wieder ins Freie und erfreut sich wiedergewonnener Bewegungsfreiheit.

Auf die Fährfahrt zur Vivekananda und der Thiruvalluvar Insel mit ihrer riesenhaften musste ich ob der schlechten Witterung leider verzichten. Nach dem langen Stehen im Regen gönnte ich mir lieber eine trockene Stunde im Zimmer.

Etwas später besuchte ich noch Kanyakumaris Wachsfigurenmuseum, anscheinend das erste und einzige in ganz Indien. Es beherbergt ganze neun Wachsfiguren, darunter Gandhi, Einstein, Chaplin, Mutter Theresa, Papst Benedikt XVI und einen Obama, der überhaupt nicht nach Obama aussieht.

Am frühen Nachmittag, eben als der Regen plötzlich aufhörte, stieg ich in den Bus, der mich binnen drei Stunden in Keralas unaussprechliche Hauptstadt Thiruvananthapuram bringen sollte. Von dort fuhr ich mit dem Zug nach Varkala, das ich gegen acht Uhr Abends erreichte. Hier wurde ich, schon so kurz nach meiner Ankunft, von der Freundlichkeit der Menschen von Kerala überrascht. Ein netter Typ, mit dem im Zug ins Gespräch kam und welcher in Thiruvananthapuram arbeitet, bot gleich an, mich das kurze Stücke zum Strand per Auto mitzunehmen. Sehr freundlich. Im Auto saß sein Bruder, welcher hier ein Resort hat. Anders als man aber meinen könnte, machten die beiden keinerlei Anstalten mich für das Hotel zu gewinnen, sondern brachten mich direkt zur Unterkunft meiner Wahl. Und hier war ich schon auf der schönen Steilküste und hörte das Rauschen der Arabian Sea. Schön anzukommen.

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Tag 68 – Varkala I

Varkala ist traumhaft. Ein schöner, sauberer Sandstrand erstreckt sich unterhalb eines etwa dreißig Meter hohen Kliffs, über dem eine palmengesäumte Fußgängerpromenade verläuft, an welcher gute Restaurants und Handarbeitsshops ihre Waren und Köstlichkeiten anbieten. Die Menschen hier sind wunderbar freundlich und hilfsbereit. Abends gibt’s traditionelle  Life Musik und Trance Remix. Kurzum: Varkala und andere Orte in Kerala eignen sich zum perfekten  Strandurlaub. Günstig, wunderschön und nicht überfüllt. Die Strände sind fast leer.

Nach gutem Frühstück stürzte ich mich sogleich in die Wellen des Arabischen Meeres. Dieses ist ein bisschen kühler als der Golf von Bengalen. Die Brandung hier in Varkala ist unberechenbar. Man steht minutenlang im hüfthohen Wasser und nichts passiert. Dann kommt die nächste Dreimeter-Welle dahergerauscht, sodass man die Wahl hat sie zu untertauchen oder sich im wilden Strudel in alle Richtungen schleudern zu lassen und danach Mühe hat, festzustellen, wo oben und wo unten ist. Beides ist schön. Über eine Stunde lang ließ ich mich umherwirbeln. Imponierend waren auch die beiden rüstigen Damen aus Britannien (sicher über sechzig), denen das Ganze genau so viel Spaß zu machen schien, wie mir. Sie hielten länger durch.

Nach gutem Mittagessen und einem weiteren Besuch in den Wellen, begann ich mich unwohl zu fühlen. Es ging rasant bergab mit mir: Schüttelfrost, Schweißausbrüche und Fieber plagten mich. Da die Symptome auf Malaria hindeuteten, ging ich kein Risiko ein und ließ mich gleich ins nahe Krankenhaus bringen. Dort erging es mir dann wirklich mies. Ich konnte nur mehr liegen, mir wurde schwarz vor Augen, wenn ich nur die Arme hob. Die Blutuntersuchung ergab jedoch: weder Malaria noch Dengue Fieber. Vieler eher waren es die Kalamari. Da ich zu schwach war, um das Krankenhaus zu verlassen, gab man mir ein paar  nährstoffreiche Infusionen, die das Fieber rasch senkten. Gegen ein Uhr früh kam Jackson, der wunderbar freundliche Chef meines Hotels, vorbei um nach mir zu sehen, und brachte mich zurück zu meinem Zimmer am Meer. Zuvor bekam ich noch ein buntes Sortiment an Pillen mit auf den Weg.
Fazit: Das Mission Hospital von Varkala hat kompetentes, freundliches Personal. Und: Fish can be dangerous.

Seit dem dem Verlassen des Krankenhauses bin ich auf dem steilen Weg der Besserung, fürchte mich aber vor den Früchten des Meeres.

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Tag 69 – Varkala II

Ein stiller Tag der Rekonvaleszenz. Nachdem ich so spät wie noch nie auf dieser Reise (Es war schon halb zehn!) erwachte, begann ich den Tag vorsichtig mit Snickers und Sprite. Es folgten angenehme Stunden auf schattiger Terrasse mit Blick auf das Meer. Ich nahm meine Medizin, nutze das WLAN, las Mahabharata, plante den weiteren Verlauf meiner Reise, buchte Züge und Nationalparks und erfreute mich allmählich wiederkehrender Kraft und wachsenden Appetits. (Interessanterweise muss man beim Buchen einer Besuchsbefugnis für die Nationalparks von Madhya Pradesh den Vornamen des Vaters angeben.)

Schön ist es, stundenlang aufs Meer hinaus zu blicken, dies Wechselspiel von Licht und Farbe zu betrachten, an dem man sich nie sattsehen kann. Unweigerlich kamen mir Ramon Sampedros wunderbar traurige Worte „Mar Adentro, mar adentro“ in den Sinn, welche auf Deutsch die folgenden sind.

Ins Meer hinein, ins Meer,
in seine schwerelose Tiefe,
wo die Träume sich erfüllen,
und Zwei in einem Willen sich vereinen,
um zu stillen eine große Sehnsucht.

Ein Kuss entflammt das Leben
mit einem Blitz und einem Donner,
und sich verwandelnd
ist mein Körper nicht mehr Körper,
als Dräng ich vor zum Mittelpunkt
des Universums.

Die kindlichste Umarmung
und der reinste aller Küsse,
bis wir beide nicht mehr sind
als nur noch eine große Sehnsucht.

Dein Blick und mein Blick
wortlos hin und her geworfen,
wie ein Echo wiederholend: tiefer, tiefer,
bis weit jenseits allen Seins,
aus Fleisch und Blut und Knochen.

Doch immer wach ich auf
und immer wär ich lieber tot,
um endlos mich mit meinem Mund
in deinen Haaren zu verfangen.

Inspirierend. Es ist zu lange her, dass ich selber Gedichte geschrieben habe. Fast sieben Jahre lang gab’s nur Theaterstücke und Romane. Wieso eigentlich? Keine Ahnung. Die rechten Funken fehlten. Was hat sie ausgelöscht? Gammastrahlen?
Ich blicke hinaus aufs Arabische Meer und denke: Es ist wieder Zeit, Gedichte zu schreiben. So wie früher. So wie …

Gleich wie der Wind sich ewig bewegen
Niemals ein Stein, den die Erde verschlingt
Mit eisigen Bächen die Zeit zu durchfließen
Niemals erstarren. Immer im Wald.

Gleich wie der Wind, zu fliegen, zu fliegen
Niemals zu landen um Nester zu bauen
Dem Neuen entgegen sich lachend bewegen
Im Winde zu leben und ungezähmt sein.

Niemals zu warten, kein Felsen zu werden
Steine sind Staub, wenn die Zeit sie zerfrisst
Ewig zu werden, kein Sein zu erreichen
Dem Wasser zu folgen und zu vergehen.

Zu fließen, zu fliegen, zu atmen, zu singen
Auf neuen Wegen, die unbekannt sind
Auf alten Pfaden, die Sonne zu jagen
Die Sterne zu sehen und Lieder zu hörn.

Niemals sich binden, an irdische Ketten
Niemals sich legen in giftigen Staub
Lieber ins Gras, wo der Tau mich verzaubert
Lieber am Strand nah dem lachenden Meer.

Sich ewig zu wandeln und immer zu werden
Sich nie zu vollenden und nie ganz zu sein
Sich ewig bewegen, stets weiter zu schweben
Zu fließen, zu fliegen. Zu sein wie der Wind.

Und schließlich zu sterben, den Fluss zu verlassen
Doch nicht zu erstarren im Stein grauer Gräber
Lieber verdampfen, dem Nichts mich ergeben
Werdend vergehen und nimmermehr sein.

Vielleicht sollte man öfter krank sein,
(wie Nietzsche es war)
Öfter aufs Meer hinaus blicken,
(Lost on a painted sky)
Öfter zur Tatenlosigkeit genötigt werden.
Man besinnt sich dabei auf das Wesentliche
Auf die Lyrik des Lebens

Hm.
Also doch wieder Kalamari zum Abendessen.
(Gelächter im Publikum. Der Narr verlässt die Bühne. Vorhang.)

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Tag 70 – Varkala III

Ein weiterer erholsamer Tag im Urlaubsdomizil von Varkala.
Nach gutem Frühstück bei exzellentem Kaffee besuchte ich aber jenen Ort, der mit dem mit Strand und seinen Shops und Restaurants rein gar nichts zu tun hat: den Janardhana Tempel, welcher auf einem Hügel nahe dem Meer neben den Urlaubern auch einige Pilger nach Varkala lockt.

Viel imposanter als der Tempel selbst ist der riesenhafte Banyanbaum mit seinem Stamm von etwa sechs Metern Durchmesser, seiner ernormen Krone und seinen aus großer Höhe herabhängenden Luftwurzeln – der vielleicht faszinierendste Baum, den ich je gesehen habe. Alle andern in Indien heiligen Banyan-Bäume (Banyan-Feige) und Bodhi-Bäume (Pappelfeigen) dieser Reise reichen nicht mal annähernd an dieses wunderschöne Monstrum von einem Baum heran.
Doch auch der Tempel war sehenswert, insbesondere die bizarren Figuren und Fratzen auf den bunten Giebeln und Dächern. Was es wohl mit dem kleineren Baum auf sich hat, an den Tempelbesucherinnen hunderte hässliche Plastikpuppen genagelt haben und in meiner Gegenwart noch weitere hinzu nagelten? Sieht unheimlich aus.

Zurück auf dem Kliff gönnte ich ein radikales Kontrastprogramm. Ich schlürfte fruchtige Mocktails in einem von sympathischen Briten geführten Lokal, aus dessen Lautsprechern Nick Cave und Leonard Cohen dringt. Dazu Meeresrauschen und Nebelkrähengesang. Ein Sturm zog auf. Warmer Regen fiel um mich her. Wolken zogen übers Meer. Die Sonne kehrte wieder. Alles glitzerte.

Der Nachmittag nahm seinen Lauf. Lockend rauschten die Wellen und ich stellte fest, dass ich wieder kräftig und gesund genug war, um mich hineinzustürzen. Nach eineinhalb herrlichen Stunden im Strudel mich hoch überragender Wellen fühlte ich mich so richtig gut. Im Wasser stehend sah ich vor mir die grüne Küste und die braunen Felsen. Paradiesisch.

Mahabharata lesend saß ich noch lange am Strand. Nach etwa einem Drittel des Buches, nimmt die Geschichte wieder so richtig Fahrt auf. Das dreizehnte Jahr der Verbannung der Pandavas ist eben angebrochen. Inkognito mussten sie es mit Draupadi am Hofe König Viratas verbringen. Bhima als Koch – herrlich. Niemand darf sie erkennen. Doch des Königs Schwager hat es auf Draupadi abgesehen. Manche Szenen erinnern stark an ein Lied von Eis und Feuer. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, wie alt dieses Werk ist – und wie lebendig zugleich – zumindest in Indien.

Abends schritt ich „Eppur si muove“ in den Ohren noch einmal den Strand entlang und ließ mir die Füße umspülen. Stimmung: Euphorisch.

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Tag 71 – Alleppey

Ich begann den Tag mit einem letzten Bad in den Wellen von Varkala am leeren Strand des frühen Morgens.
Danach gab’s Frühstück im Coffee Temple, wo ich mir zum zweiten Mal in diesem Jahr köstliche Huevos Rancheros gönnte. Schmeckte genauso gut wie in Alamogordo, New Mexico.

Am Bahnhof kam ich mit Craig, einem kultigen Australier Anfang sechzig ins Gespräch, Beruf Reibigungskraft. Es folgte eine wunderbar erfrischende Konversation, die vom besten Biriyani in Cochin bis zur Unvereinbarkeit von Evolution und Genesis reichte. Gemeinsam nahmen wir den Zug nach Alleppey, wo sich unsere Wege wieder trennten.

In meinem Hotel „Nanni Beach Resort“
fand ich das bisher geräumigste,
schönste und preiswerteste Zimmer dieser Reise vor. Der junge
Hotelbesitzer und sein etwas konfuser Gehilfe waren überaus freundlich. Die
Dachterasse ist auch nicht schlecht.

Alleppey selbst ist mit Abstand der verschlafenste, ruhigste Ort dieser Reise. Wäre es nicht Ausgangspunkt für die beliebten Backwater Touren, gäbe es hier rein gar nichts zu sehen. Aber eben dies macht Alleppey mit seinen grünen, baumgesäumten  Kanälen, so erholsam. Die Straßen sind leer. Kaum ein Hupen ist hörbar.

Der Strand ist gänzlich anders als in Varkala. Kein Kliff, kaum Wellengang, breit und leer. Ein paar einsame Eisverkäufer stehen wie verloren im hellen Sand. Ein total verrosteter, längst nicht mehr begehbarer Rest eines Steges ragt weit ins Meer hinaus. Nebelkrähen sitzen auf den rostroten Pfeilern, die fast wie ein modernes Kunstwerk wirken.

Lange saß ich hier, an diesem melancholischen Strand in der Nähe der Brandung. Ich hörte Musik und sah den Sandkrabben zu, die unermüdlich kleine Sandkügelchen aus ihren Höhlen rollten und sich bei der geringsten Erschütterungen gleich wieder im Seitwärtsschritt im Sand verflüchtigten. Vereinzelt schlenderten indische Pärchen den Strand entlang, Hand in Hand wie man es in Indien selten sieht.  Welch schöner, stiller Ort.

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Tag 72 – Kerala Backwaters

Dies war sicherlich einer der entspannendsten Tage meiner Reise. Stundenlang in einem kleinen Boot zu liegen, so wie auf einem Sofa, und sich durch die stillen, grünen „backwaters“ von Kerala rudern zu lassen, ist ein schöner Zeitvertreib. Dazu gutes, einheimisches Essen, serviert auf Bananenblättern, Spaziergänge durch die Dörfer und ein fröhlicher Guide, der alles erklärt, hiesige Lieder trällert und unermüdlich danach fragt, ob man auch wirklich „happy“ ist. Man erfuhr Name und Verwendung verschiedener Pflanzen am Wegesrand, kostete Chilly, Tapioka und mehr und sah auch sehr viel Fauna: schöne Eidechsen, Kingfisher bird, Enten und natürlich die allgegenwärtigen Nebelkrähen. In den Dörfern am Ufer sah man das Leben. Alte Frauen fischen mit primitiven Angeln im Wasser, Mädchen weiden Enten aus und hacken Holz, Kinder kommen von der Schule heim und rufen uns ein „Hello“ zu. Beachtlich waren auch die vielen schönen Hausboote, die leise durch das Wasser glitten. Erstaunlich sind auch die vielen kommunistischen Fahnen und Denkmäler, die man hier sogar in den kleinen Dörfern sieht. In der Tat kam in Kerala 1957 durch freie Wahlen eine kommunistische Regierung an die Macht, ein bis dahin weltweit einzigartiges Ereignis. Mit kleinen Unterbrechungen blieb Kerala bis dato in kommunistischer Hand und steht wirtschaftlich im Vergleich zum restlichen Indien sehr gut da, vor allem was Gesundheit und Bildung betrifft.

Was dieser Tag ebenfalls brachte, war viel Konversation mit anderen Reisenden ganz unterschiedlicher Art. Da war zum Einen das britische Pärchen, das ebenfalls auf der backwater tour war. Seufz. Der Akzent ihrer Sprache war schön, doch der Inhalt der Worte dieser auf Elite-Colleges „business“ studierenden high-society snobs, die nach einem Monat in Indien tatsächlich Fragen stellen wie „What is a Vishnu?“ und denen man erklären muss, wo der Äquator ist (Yes, it’s in the middle.), war doch sehr bedenklich. Als der Guide erklärte, dass es in diesen Gewässern früher auch Krokodile gab, kam doch tatsächlich der Satz „I wonder where they went. Where did those crocodiles go?“ Seufz.
Haarsträubend waren die Geschichten der beiden über ihre bisherige Reise. Wie kann man sich nur so ausnehmen lassen? Ja, natürlich glauben wir dem netten Taxifahrer am Flughafen in Delhi, dass wegen Gandhis Geburtstag alle Hotels geschlossen haben und lassen uns stattdessen in ein dubioses Reisebüro bringen, wo man uns für 600 Pfund pro Person (!!!) eine zweiwöchige Tour durch Rajasthan exklusive Verpflegung andreht, ein für indische Verhältnisse horrender Preis. Den beiden schien es recht egal zu sein.

Wie anders waren die abendlichen Gespräche mit den beiden Franzosen, weltoffen, weitgereist und kunstbeflissen, ihres Zeichens web design artists und graphical designer, die es verstehen mit wenig Geld so viel aus ihrer Zeit herauszuholen. So hörte ich abends beim Bier spannende Erfahrungen und gute Tipps für meine Weiterreise mit herrlichem französischen Akzent. Savoir vivre und Savoir voyager liegen eng beieinander.

(Ich möchte natürlich keinesfalls nahelegen, dass besagte Reisende repräsentative Vertreter ihrers Herkunftslands sind. Umgekehrt wäre es ebenso möglich, nur vielleicht ein bisschen unwahrscheinlicher.)

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Tag 73 – Fort Cochin I

Beim Frühstück auf der Dachterasse in Alleppey traf ich einen älteren Mann aus dem östlichen Ungarn, der recht passabel Deutsch sprach. Als ich ihm von Varkala erzählte, erkundigte er sich vorsichtig, ob es dort nicht viele Russen gäbe. Er habe schon ein großen Bogen um Goa gemacht wegen den vielen Russen dort. Ich versicherte ihm, dass ich in Varkala nicht einen einzigen Russen gesehen hatte und er war erleichtert, nun doch dorthin fahren zu können. Seltsam. Auch wenn mir die Politik einer Nation noch so zuwider ist, der Gedanke deshalb in Drittländern die Urlauber von dort zu meiden, liegt mir fern.

Ich ließ mich zum Bahnhof bringen, hüpfte schon fünf Minuten später in den nächsten Zug und erreichte  Ernakulam (Fahrzeit 1h30m, Preis etwa 20 Cent). Wieder einmal alle Tuktuk Fahrer ignorierend marschierte ich binnen zwanzig Minuten zur Fährstation und ließ mich nach Fort Cochin übersetzen, wo ich mir eine Unterkunft suchen wollte.
Schon auf der Fähre sprach mich ein etwas wortkarger, älterer Inder an. Er vermiete ein paar Zimmer. Da Preis (~€3,–) und Lage stimmten und er zusätzlich anbot, mich in seinem Auto vom Fährhafen ins Zentrum zu bringen, sagte ich nicht Nein. Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass seine Tochter mit einem Österreicher verheiratet ist und in Feldkirch lebt. Er selbst sei schon dreimal dort gewesen und erzählte begeistert vom schönen Lindau am Bodensee. Klein ist die Welt. Mein Zimmer befindet sich in einem etwa dreihundert Jahre altem Haus, das von den Holländern erbaut wurde.

Fort Cochin ist ein ungemein atmosphärischer Ort, reich an Geschichte. Portugiesen, Holländer, Chinesen, Briten, Juden, Christen und Muslime – alle haben hier ihre Spuren hinterlassen. Vierhundert Jahre alte Synagogen und fünfhundert Jahre alte Kirchen stehen neben holländischen Herrenhäusern und britischen Palästen nebst riesigen Fischernetzen aus China. Und im Hintergrund hört man den Muezzin singen. Bunt und schön ist es hier.

Als erstes besuchte ich die Franziskuskirche. Von den Portugiesen im Jahre 1503 erbaut, ist sie wahrscheinlich die älteste von Europäern errichtete Kirche auf dem indischen Subkontinent. Vasco da Gama, der hier in Fort Cochin verstarb, lag vierzehn Jahre lang in dieser Kirche begraben. Die schlichte Grabplatte im Boden ist kaum mehr lesbar. 1538 brachte man die Überreste dieses großen Seefahrers, der vollbrachte, was Cristobal Colón (zu deutsch Kolumbus)  eigentlich vollbringen wollte, zurück nach Portugal. Dort liegt er heute im wunderschönen Monasteiro dos Jerónimos von Belém. Erst in dem Moment, da ich die Kirche verließ, fiel mir ein, dass es noch nicht einmal sechs Monate her ist, dass ich dort war und vor da Gamas neuer Ruhestätte stand. Ich bin dieses Jahr so viel herum gekommen, dass ich selbst den Überblick verliere. Irgendwie schön.

Beim Verlassen der Kirche hörte ich so gar nicht indische Musik. Auf dem Sport- und Paradeplatz neben der  Kirche probte eine Blasmusikkapelle, bestehend aus lauter jungen Indern. Sie spielten und exerzierten mit erstaunlichen Körpereinsatz. Der Taktstockträger zeigte viel Akrobatik.  Die Lieder reichten von Marschmusik bis „An den Ufern des Mexico river“. Es hätte mich nicht gewundert, wenn auch noch der Radetzkymarsch erklungen wäre.  So unindisch kann Indien sein.

Am Ufer sah ich dann die großen, katapultartigen Chinesischen Fischernetze, erstaunliche Konstruktionen aus Bambus. Mit Steinen als Gegengewicht senken die Fischer die riesigen auf eine Balken hängenden Netze ins Meer, um sie dann mit meist kümmerlicher Ausbeute wieder aus den Fluten zu heben. Rentabel ist das Ganze wegen der  Überfischung schon lange nicht mehr. Elf Netze sind noch übrig und locken Touristen aus aller Welt an. Es ist schön, am Ufer zu sitzen und den Fischern beim Bedienen der großen Netze zuzusehen, während im Hintergrund noch viele größere Tanker und Containerschiffe durch den engen Kanal zwischen Fort Cochin und der Insel Vypeen gleiten. Die Vertikalbewegung der Netze vor der Horizontalbewegung der Schiffe ist ein reizvoller Anblick.

Spannend ist die Geschichte der Netze. Während klar ist, dass das Design aus China kommt, ist es recht ungewiss, wie und wann sie an die südwestindische Künste gelangt sind. Eine Theorie besagt, dass die Portugiesen das nötige Know-How aus ihrer Kolonie in Macau mitgebracht haben. Eine weitere sieht die Ankunft der Netze schon ein Jahrhundert früher, als die Mongolen unter Kublai Khan über China und weite Teile Asiens herrschten. Eine dritte Theorie meint, der chinesische Entdecker Zheng He habe die Netze hierher gebracht. Es ist schon eine Weile her, dass ich mich mit chinesischer Geschichte beschäftigt habe (und eben hab ich kein Internet), aber wenn ich nicht irre, war Zheng He jener mutige Entdecker (und Eunuch), der zur Zeit der Ming Dynastie die Weltmeere befuhr und Handelswege bis in den Persischen Golf und nach Afrika erschloss. Ach, Geschichte ist immer wieder toll.

Das Prozedere, wenn man hier Abends Fisch essen möchte, ist übrigens das Folgende: Man wartet vor den Netzen auf den nächsten Fang, sieht zu, wie die Fische ausgeweidet werden, sucht sich den Fisch seiner Wahl, bringt ihn selbst in eines der Restaurants und lässt ihn sich mit gewünschten Beilagen zubereiten.

Ein Ort, den ich an diesem Tag auch noch besuchte, ist der alte holländische Friedhof des Ortes. Die Holländer lösten hier recht bald die Portugiesen als dominante Macht ab. Die meisten alten Häuser hier – und auch das, in dem ich wohne – sind holländischen Ursprungs.

Wenn man aber schon von den Häusern spricht, so muss man auch von den Bäumen sprechen. Noch nie habe ich einen Ort mit so vielen alten wunderschönen Baumriesen gesehen wie Fort Cochin. Die Kurven mancher Äste sind atemberaubend. Manche Kronen wölben sich in immenser Höhe über die Straßen.

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Tag 74 – Fort Cochin II

Kurz nach Mitternacht erwachte ich in meiner Kammer und wurde dessen gewahr, was geschieht, wenn man sein Moskitonetz nicht fest unter die Matratze klemmt, sondern seitlich lose herabhängen lässt – im Glauben die kleinen Flügelvampire würden den schmalen Spalt schon nicht finden. Geweckt von aufdringlichem Summen tappte ich nach dem Lichtschalter. Der Moment, in dem ich erkannte, dass es nicht eine, sondern mehr als ein Dutzend Moskitos waren, die sich mit mir unter dem Netz befanden, gehörte zu den unangenehmeneren dieser Reise. Fast alle hatten schon an mir gekostet. Ein blutiges Moskitomassaker später, fand ich wieder Schlaf.
In der Tat sind die Mücken von Fort Cochin die aggressivsten und gerissensten, die mir auf Reisen je begegnet sind. Zum Glück ist Kerala so gut wie malariafrei.

Ich frühstückte im schönen Kashi Art Café, Kunstatelier und Kaffeehaus zugleich. Mein honiggetränktes Brot mit Zimt anbei reichlich Früchten der Saison schmeckte mir dermaßen gut, dass ich jetzt schon weiß, morgen früh genau dasselbe zu bestellen. Auch die ausgestellten Kunstwerke sind sehenswert.

Hernach ging’s ins indo-portugiesische Museum, wo man zu viel sakrale Kunst und zu wenig Geschichte sieht. Dennoch: Lissabon fühlte sich plötzlich sehr nah an, so als wären es nur ein paar Schritte und man würde am Ende des Terreiro do Paço dem Meer entsteigen um von dort geradewegs die Rua Augusta entlangzuschreiten.

Vorbei an wunderschönen Bäumen gelangte ich zur Santa Cruz Basilica. Ein Kirchenchor probte eben für die sonntägliche Messe. Sehr schön sind die imposanten Wand- und Deckenmalereien im Inneren der Kirche.

Ein zwanzigminütiger Spaziergang brachte mich ins alte jüdische Viertel. Auf dem Weg sah ich viele Wahlplakate der kommunistischen Partei. Erstaunlich fand ich den Umstand, dass Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai als prominente Unterstützerin von einigen Plakaten lächelt. Wer hätte hier wohl vor ein paar Jahren gedacht, dass man mit einem muslimischen Mädchen aus dem Erzfeindland Pakistan auf Stimmenfang gehen würde. Solch kleine Ironien der Geschichte amüsieren mich immer wieder. Bedenklich ist übrigens wie gern westliche Medien darauf vergessen, Yousafzais klares Bekenntnis zum Sozialismus zu erwähnen. In den USA wurde dieser Aspekt in der Nobelpreisberichterstattung völlig totgeschwiegen. (Es sei denn auf Democracy Now.)

Der Besuch im jüdischen Viertel war enttäuschend. Die vierhundert Jahre alte Synagoge hat Zeit meines Aufenthalts geschlossen, der jüdische Friedhof war ebenso versperrt. Allein das alte holländische Herrenhaus werde ich zumindest morgen besichtigen können. Heute war es ebenso geschlossen.

Dafür gab es das laut Lonely Planet und Craig dem Australier beste Biryani der ganzen Malabarküste und zwar in einem kleinen, nicht touristischen Restaurant in einer Nebenstraße. Andere Gerichte gibt’s es dort nicht. Nur Biryani. Gemeinsam mit freundlichen Fischern und Lagerarbeitern aß ich dort dies köstliche Mal. Dann schlenderte ich vorbei an alten Handelskontors und einmal mehr riesigen Bäumen zurück zu den Fischernetzen von Fort Cochin.

Der Rest des Tages verlief recht tatenlos und ruhig. Stundenlang saß ich am Ufer und sah den Fischernetzen zu, während Schiffe unterschiedlichster Art vorbeiglitten. Kleine Fischerboote, Öltanker, Kreuzfahrtschiffe, Containerschiffe, Schlachtschiffe der indischen Armee und andere …

Abends unterhielt ich mich lange bei Gemüsecurry und Roti mit einem sympathischen Wiener namens Felix. Da Konversation mitunter viel Spaß macht, wollten wir nach dem Essen noch auf ein Bier gehen, fanden aber keins. Wie man hört, gibt es Pläne, Kerala – sowie ein paar andere indische Regionen auch schon – zur Gänze alkoholfrei zu machen.

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Tag 75 – Fort Cochin III

Am Morgen meines dritten Tages in Fort Cochin schlenderte ich nach gutem Obstfrühstück im Art Café einmal mehr entlang der alten Hafenanlagen ins jüdische Viertel. Zumindest der alte „Dutch Palace“ hatte heute geöffnet. Eigentlich wurde das Gebäude schon 1555 von den Portugiesen errichtet. Sie schenkten es der lokalen Herrscherfamilie für einen Reigen von Gefälligkeiten. Hundert Jahre später wurde das Anwesen dann von den inzwischen dominanten Holländern renoviert. Viele Generationen der Rajas von Cochin haben hier residiert und geherrscht. Heute ist das Gebäude ein Museum. Am Beeindruckendsten sind wohl die alten Wandmalereien, die vor allem Szenen der Ramayana zeigen, sogar chronologisch. Ich stand wohl fast eine halbe Stunde davor und führte  mir die noch frisch in Erinnerung befindlichen Szenen einmal mehr vor Augen. Die Darstellung der vielen Dämonen, vor allem von Ravana und Khumbakarna, war faszinierend. Der Rest des Museums war nicht weiter aufregend. Der Besuch hat sich aber auf jeden Fall gelohnt.
Zurück in Fort Cochin saß ich einmal mehr lesend bei den Fischernetzen.
Erst um vier Uhr Nachmittags harrte meiner der nächste Programmpunkt. Um diese Zeit betrat ich nämlich einen schönen Saal mit Bühne. Dort würde ich fünf Stunden lang verweilen und drei sehr unterschiedliche Programmpunkte sehen.

Als erstes war kalarippayat an der Reihe, eine alte, südindische Kampfsportart, die nur mehr von wenigen beherrscht und praktiziert wird. Zu den informativen Erklärungen des Theaterdirektors gingen zwei junge Kämpfer mit Fäusten, Stöcken, Messern und Schwertern aufeinander los. Welch Akrobatik! Welch Geschwindigkeit! Es ist mitunter erstaunlich, daran erinnert zu werden, wie schnell der Mensch sich bewegen kann. Dem westlichen Besucher drängt sich beim Betrachten von kalarippayat unweigerlich der Gedanke auf: ‚Ich dachte, dass geht nur in der Matrix‘ . Dabei fürchtet man als Zuschauer auch ständig um das Leben der zwei Kämpfer auf der Bühne. Das Spiel mit dem Messer war lebensgefährlich. Wirklich beeindruckend.

Die zweite Show zeigte die traditionelle Theaterform des Kathakali. Zuerst geschah eine Stunde lang fast nichts. Die drei Schauspieler kamen auf die Bühne, um sich dort vor Publikum zu leichter Musik zu schminken, bzw. von einem Maskenbildner geschminkt zu werden. Die Maske ist dabei alles andere als naturalistisch. Der böse Kichaka wird in kräftigen Farben schwarz, grün und rot geschminkt und bekommt seltsame kiemenartige Fächer auf die Wangen geklebt. Die schöne Draupadi (gespielt von einem Mann) und ihr Pandavagatte Bhima tragen gelb im Gesicht.
Die Szene, die an diesem Abend gespielt wurde, stammt aus der Mahabharata. Schon wieder war das Timing meiner Lektüre gut. Ich hatte die entsprechende Stelle eben vor zwei Tagen erst gelesen. Die Pandavas und Draupadi leben inkognito am Hof von König Virata. Dessen Schwager Kichaka möchte Draupadi verführen und schlägt zu, als sie sich weigert. Draupadi klagt Bhima ihr Leid. Dieser erschlägt Kichaka. Ende der Geschichte.
Bevor es richtig losging erklärte der Theaterdirektor, dem diese Kunstform anscheinend sehr am Herzen liegt, die Grundzüge des Kathakali. Die Schauspieler selbst sprechen nicht. In Mimik und Mudras drücken sie die Empfindungen ihrer Charaktere aus. (Trotzdem darf Kichaka hin und wieder grunzen.) Ein begleitender Sänger fungiert als Erzähler. Trommeln untermalen das Geschehen. Im Spiel selbst sind es vor allem die Augen, die sprechen. Die Gesichtsbeherrschung der drei Schauspieler, die alle eine sechsjährige Schulung hinter sich haben, war erstaunlich. Ihr Spiel war faszinierend.

Als dritte Show des Abends führten vier junge Frauen traditionelle Tänze aus dem Süden Indiens vor. Schon wieder wurden meine Erwartungen übertroffen. Es war faszinierend. Hinter den meisten Tänzen steckt eine Geschichte, in die der Theaterdirektor jeweils kurz einführte. Die Solo-Nummer, in welcher sich das Mädchen auf den Besuch ihres Liebhabers Krishna freut und im ständigen Schwanken zwischen Vorfreude und Angst, er möge vielleicht doch nicht kommen, ihr Zimmer dekoriert, war atemberaubend gut. Diese Mimik! Dergleichen hab ich auf europäischen Bühnen noch nirgends gesehen.

Nach der Show wollte ich eigentlich mit der Fähre zum Bahnhof nach Ernakulam, wo in tiefer Nacht mein Zug abfahren würde. Diesem Plan kam aber die Freundlichkeit der Belegschaft meines Hotels zuvor. Der etwas chaotische Rezeptionist war angewiesen worden, mich auf seinem Moped mit in Richtung Bahnhof zu nehmen. Das war gut gemeint, doch schlecht getroffen. Ohne Helm mit schwerem Rucksack bei Nacht am Rücksitz eines zu schnell fahrenden Mopeds zu sitzen war nicht sehr angenehm, vor allem dann, als es auch noch zu regnen anfing. Bald ließ ich mich absetzen und nahm mir eine Autoriksha.
Pünktlich kam mein Zug. Ich fand den reservierten Platz und legte mich schlafen.

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Tag 76 – Wayanad I

Gefühlt war es eine der kürzesten Zugfahrten meines Lebens. Ich stieg ein, schlief ein, wachte zum Läuten meines Weckers auf und trat fünf Minuten später auf den Bahnsteig hinaus. So schnell vergehen sieben Stunden. Und die Reise ging weiter. Noch befand ich mich an der Küste in Kannur, einem Ort im nördlichen Kerala. Von hier nahm ich nun einen Bus und gelangte in die kühleren, höher gelegenen Gefilde des Wayanad Wildlife Sanctuary. Hier, in der grünen Grenzregion von Kerala, Tamil Nadu und Karnataka hat man die Gelegenheit Elefanten, Tiger und viele andere Tiere in freier Wildbahn zu erspähen. Höchste Erhebung der Gegend ist der Chembra Peak mit seinen 2100 Metern. Leider ist es verboten, ihn zu erklimmen. Ganz in der Nähe liegt der Ort Kalpetta. Hier suchte ich mir ein Hotel und arrangierte gemeinsam mit einem Kanadier und zwei Deutschen eine Jeeptour für den morgigen Tag.

Auf der Fahrt nach Kalpetta waren mir einmal mehr die vielen kommunistischen Wahlplakate aufgefallen. Es gibt wohl wenige Orte mit einer so hohen Dichte an Che Guevara Abbildungen. Man könnte fast meinen, er selbst würde hier für einen Sitz in der Lokalregierung kandidieren. Manche Poster zeigen einen hiesigen Politiker, hinter dessen linker Schulter Che Guevara verwegen in die Welt blickt. Hinter seiner rechten Schulter schwebt nicht minder verwegen das Abbild vom Friedensnobelpreisträgerin  Malala Yousafzai. Ich sah auch Poster, die Marx, Lenin, Guevara und Yousafzai zeigen. Was für eine Kombination!

Es gab an diesem Tag nicht mehr viel zu tun. Bei Tee und Zitronensoda (Bier war einmal mehr unauffindbar) plauderte ich mit anderen Reisenden und führte mir dann im gemütlichen Zimmer noch einen Film zu Gemüte.

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Tag 77 – Wayanad II

Früh morgens um fünf Uhr dreißig holte uns ein freundlicher Guide mit seinem Jeep im Hotel ab. Er erzählte, dass die Trips der letzten beiden Tage in den östlichen Teil des Naturrefugiums recht ergebnislos geblieben waren. Die Tierwelt hielt sich versteckt. Deshalb würde er uns heute in den nördlichen, entlegeneren Abschnitt bringen. Noch bevor wir den Eingang des Wayanad Sanctuarys erreichten, war es soweit. Wir stiegen bei noch spärlichem Licht aus dem Jeep und sahen unweit die Schatten einer ganzen Elefantenherde geisterhaft durch den Dschungel gleiten. Schön.

Die nächsten zwei Stunden zeigten uns viele freche Affen (drei verschiedene Arten), zahlreiche gepunktete Rehe (spotted deer), Rieseneichhörnchen, viele Pfaue und weitere Elefanten. An einer Stelle stand ein großer Elefantenbulle nur wenige Meter von unserem Jeep entfernt. Hier durften wir natürlich nicht aussteigen. An einer anderen Stelle kreuzte eine Elefantenkuh hinter uns die Straße. Tiger sahen wir keinen, wohl aber frische Tigerfußspuren im Sand neben der Straße. Vielleicht sah der Tiger uns. Jedenfalls lohnte sich mein Ausflug ins Wayanad Sanctuary sehr. Nach traditionellem Frühstück (idlis und sambar, what else? ) brachte uns der Guide (dessen Fähigkeit, in den hohen  Bäumen Eichhörnchen zu erspähen, unmenschlich gut ist) zu einer Insel im Fluss (Kuruva Island). Eine Fähre setzte uns über. Der Ort war voller wunderschöner Schmetterlinge, beschaulicher Wasserwege, Bambusbrücken und Schildern mit Zitaten zum Thema Umweltschutz. Vor der Fährfahrt muss ein jeder Besucher alle mitgebrachten Plastikverpackungen deklarieren. Für meine Wasserflasche galt es, Pfand zu hinterlegen und hernach, nachdem ich die Flasche noch vorweisen konnte, wieder einzukassieren. Kompliziert, doch scheinbar der einzige Weg den indischen Besuchern das Wegwerfen in der Natur auszutreiben.

Nach gutem Thali führte uns die Tour durch kleine Dörfer und vorbei an Kaffee- und Bananenplantagen. Wir sahen schöne Landschaften, noch mehr Rieseneichhörnchen und eine handtellergroße Spinne in ihrem Netz. Python und Kobra – beide hier heimisch – hielten sich verborgen.

Zurück in Kalpetta wartete ich eine mühselige Stunde lang an der Straße auf einen Bus nach Mysore. Wieder einmal trugen die meisten Busse keinen lateinischen Schriftzug. Ohne die Hilfe ein paar Einheimischer hätte ich wohl nie den richtigen erwischt. Zugfahren ist ja so viel einfacher.

Wir fuhren in den Spätnachmittag hinein, passierten die Grenze zwischen Kerala und Karnataka und erreichten nach Einbruch der Dunkelheit dann endlich Mysore. Schon vom Bus aus konnte ich einige strahlend leuchtende Kolonialgebäude erspähen. Schnell fand ich ein geeignetes Hotel in zentraler Lage und speiste wenig später im hervorragenden Parklane Hotel, wo es zur Abwechslung wieder einmal westliches Essen gab. Auf dem Weg sah man schon das Leuchten des großen Königspalastes, Hauptgrund für viele, Mysore auf ihre Reiseroute zu setzen.
Müde legte ich mich schlafen.

Tag 78 – Mysore I

Mysore war bis 1947 Hauptstadt eines mehr oder weniger unabhängigen Königreichs (unter britischer Duldung). Die Maharajahs von Mysore aus der Dynastie der Wodeyars regierten in Prunk und Pomp von ihrem Palast aus und ließen sich zum wichtigsten Fest des Jahres, dem Dassara (einer Variante des auch in Nepal zelebrierten Dasain) auf in Gold gekleideten Elefanten durch die Straßen tragen. Auch heute noch wird hier Dassara mit prächtigen Umzügen gefeiert, nur der Maharajah fehlt. Geblieben aber ist einer der schönsten Paläste des Erdenrunds.

Bevor mich meine Füße dorthin trugen, besuchte ich zuerst den viel kleineren Jaganmohan Palast, welcher einst als königliches Auditorium fungierte. Im selben Gebäude befindet sich heute eine recht ansprechende Kunstgalerie, welche hauptsächlich indische und europäische Kunst aus der Kolonialzeit zeigt. Man findet hier einige Schätze. Sogar ein Selbstbildnis von Rembrant ist dabei. Viele Gemälde zeigen Szenen, die ich aus der Mahabharata kenne, etwa Bhishmas Verzicht auf den Thron. (Dies erlaubt seinem Vater die schöne Fischerstochter zu heiraten, deren Vater nur einwilligt, falls seiner Tochter künftiger Sohn König werden soll.)

Entlang der Mauer, die das weitläufige Palastareal umgrenzt, erreichte ich endlich das einzige der vier großen Tore, das für Besucher geöffnet hat. Das Areal rund um den Palast beherbergt schöne Bäume, Statuen angriffslustiger Tiger, einige Hindutempel, sowie Stallungen für die  Elefanten, auf denen man auch eine Runde reiten darf. Den meisten Raum aber nimmt die leere, gepflasterte Fläche ein, auf welcher sich das Volk zu wichtigen Anlässen (wie etwa dem Geburtstag des Maharajahs) versammelte und einen Blick auf die Herrscherfamilie auf den breiten Terrassen der zum Hof geöffneten Säulenhalle zu erhaschen hoffte. Von außen wirkt der Palast (nachdem man das Innere gesehen hat) überraschend unspektakulär. Von innen aber … In meinem Kopf liefert sich der Königspalast von Mysore einen bislang unentschiedenen Kampf mit der Alcázar von Sevilla um Platz eins auf meiner persönlichen Rangliste der (von innen) schönsten Gebäude, die ich bisher sehen durfte. Was für ein Augenschmaus! Allein die Durbar Halle mit ihren rötlichen Säulen, türkisen Bögen und ihren vielen Spiegeln, von denen auch der Boden einer ist, lohnt jede Reise hierher. Das hohe Heiratspavillon mit seiner gläsernen Kuppel und den spannenden Wandgemälden, die verschiedene Episoden festlicher Umzüge zeigen, ist ebenso beeindruckend. Aber da ist noch viel mehr…
Mit sympathischem Audioguide durchwanderte ich Hallen und Korridore. Der Palast ist erst knapp über  hundert Jahre alt. Wir verdanken ihn den Köchen des Maharajahs, die im Jahre 1897 etwas anbrennen ließen, sodass der alte Palast Opfer der Flammen wurde. Ein neuer musste her und Geld hatte man gerade in Hülle und Fülle. So indisch der Palast auch erscheinen mag, der Architekt war doch  ein Brite. Und so hinduistisch die Motive der gläsernen Fenster auch sind, gefertigt wurden letztere doch in Glasgow. Aber eben die Mischung an Motiven und Kunstfertigkeiten macht den Palast so ungemein ansprechend. Als er 1912 fertiggestellt wurde, war elektrischer Strom längst kein Science Fiction mehr. Die elektrische Beleuchtung und der Fahrstuhl sind keine späteren Ergänzungen. Sie waren von Anfang an da

Nach diesem schönen Palastbesuch gönnte ich mir ein gutes Mal im Parklane (sehr freundliche Kellner) und machte dann auf den Weg noch ein paar andere Sehenswürdigkeiten zu würdigen. Vorbei am alten Glockenturm und der Memorial – beide unverkennbar britischen Ursprungs – gelangte ich zu einem weiteren Museum, welches nach Indira Gandhi benannt ist. Erstaunlich ist der Gedanke, dass dieses unscheinbare, recht hässliche Gebäude fast hundertfünfzig Jahre älter ist als der Palast. Die Ausstellung im Erdgeschoss und in  den Gärten zeigt verschiedene Stile von Terrakotta-Kunst aus ganz Indien. Die Räume im ersten Stock bieten die wohl schrägste Gegenüberstellung verschiedener Werke, die mir bisher untergekommen ist. Da sieht man die Schwarzweißfotografien grimmig dreinblickender Maharajas und daneben das grellebuntes Bild eines rote Shorts tragenden Mannes im Tigerkostüm, der aussieht wie der Bösewicht in einem schlechten Comic. Gegenüber: Landschaftsmalerei und Nehru.

Ich schlenderte noch ein paar Schritte durch dichten Verkehr und unaufhörliches Hupen vorbei an einer schönen Moschee bis in die Gärten des kolonialen Government House. Dort machte ich kehrt und beendete den Tag mit gutem Essen und einem grottenschlechten Science-Fiction Film in meinem ruhigen Hotelzimmer.

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Tag 79 – Mysore II

Ich begann den Tag mit einem Spaziergang durch den morgendlichen Devaraja Markt, nur ein paar Schritte von meinem Hotel entfernt. Auf dem weitläufigen Areal verkaufen Händler Obst, Gemüse, Blüten, Naturfarbstoffe und andere Waren. Beschaulich.

Wie überall in Mysore wurde auch hier bald einer jener Typen auf mich aufmerksam, deren Aufgabe es ist, die Touristen mit falscher Freundlichkeit und Flunkerei dazu zu bringen, ihnen zu einem dubiosen „Weihrauchmarkt“ zu folgen. Natürlich ging ich nicht mit. Bewundernswert ist aber, wie geschult und gerissen diese Typen sind. Da verwechselt keiner Austria und Australia. Ganz im Gegenteil: Man lobt Red Bull, preist Niki Lauda und fragt, ob man aus Wien kommt – sogar auf Deutsch. Und einmal mehr wird der Zauber des „Räucherstäbchenmarktes“ geschildert. Faszinierend, dass sich das Aneignen solchen Wissens lohnt – bei der Handvoll Österreicher, die jährlich wohl nach Mysore gelangt. Amüsant ist auch die Sorge dieser Typen um meine Gesundheit. Da werden Mysore und mein nächstes Ziel Hampi als moskitogeplagte Malariagebiete beschrieben. Und natürlich gibt es das Öl, das ja so viel besser ist als der Moskitospray nur auf besagtem Weihrauchmarkt zu kaufen. Die Wirklichkeit ist eine andere: Kaum irgendwo sah ich in Indien weniger Moskitos als in Hampi und Mysore. Auserdem sind beide Orte nahezu malariafrei. Man kennt noch weitere Tricks. Mit Ähnlichem ist wohl in ganz Indien zu rechnen, doch so schlimm wie in Mysore war es schon seit Varanasi nicht mehr. Ich mag die Stadt trotzdem. Jedenfalls ließ ich all die scheinfreundlichen Typen links liegen und ging frühstücken. „Guests are advised to be wary of strangers who might strike up conversations as they may lead to unpleasant or risky consequences „, stand da in der Speisekarte. Zufrieden löffelte ich meinen Poridge.

Da mir das Finden des richtigen Busses zu mühsam war, investierte ich fünf Euro in ein Tuktuk und ließ mich hinauf auf den 1062 Meter hohen Chamundi Hill bringen. Chamundi ist nur ein anderer Name für Durga, die wiederum niemand anderes ist als Parvati. Es ist ihr Kampf gegen einen starrköpfigen Dämon, worum es beim Dassara (oder Dasain) eigentlich geht. Der Prophezeiung nach konnte besagter Dämon von keinem Gott und Mann getötet werden und dünkte sich daher unbesiegbar. Die weibliche Durga aber konnte ihn bezwingen. (Klingt sehr nach Tolkien.) Chamundi Hill hat einen schönen Tempel und etwas unterhalb  einen riesigen schwarzen Nandi-Stier, den größten, den ich bisher sah. Hauptattraktion des Hügels ist aber klar die Aussicht in alle Himmelsrichtungen, vor allem hinab auf Mysore.

Zurück in der Stadt blieb noch Zeit bis zur abendlichen Abfahrt meines Zuges. Da mich alles andere weniger reizte, besuchte ich einfach ein zweites Mal den Palast und bestaunte die erst gestern genossenen Räume und Kunstwerke. An der Hinterseite des Palasts entdeckte ich noch ein kleines Museum, das ich gestern übersehen hatte. Ein weiterer Audioguide (u.a. mit einleitenden Worten des letzten Maharajahs) beschreibt die diversen Exponate aus dem Besitz der Königsfamilie: Kinderspielzeug, Musikinstrumente, Waffen, etc.

Nahe des Bahnhofs fand ich noch eine Unterführung mit erstaunlich schöner Graffitikunst, die Landschaften, Tiere hinduistische Götter, aber auch Szenen des täglichen Lebens zeigt. Der Bahnhof von Mysore ist sehr modern, sauber und übersichtlich. Übrigens sind die meisten Bahnhöfe dieser Reise weitaus moderner als jener in New Delhi.

Nach den Busfahrten der vergangen Tage freute ich mich so richtig aufs Zugfahren. Problemlos fand ich meinen Platz, gönnte mir noch einen Tee und schlief rasch ein. Nach kurzem Erwachen in Bangalore, wo viele Menschen aus- und einstiegen, ließ ich mich wieder schlafend durchs östliche Karnataka weiter nach Norden tragen. Ein Stück weit führte die Bahnstrecke auch durch den Bundesstaat Andhra Pradesh, dessen Osten ich vor drei Wochen auf der Fahrt nach Chennai (ebenfalls bei Nacht) schon durchfahren hatte. Der Zug brauste durch das Land. Hampi rückte näher.

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Tag 80 – Hampi

Hampi ist ein welthistorisches Highlight und zweifellos einer der schönsten Orte dieser Reise. Hampi ist atemberaubend schön. So opulent wie Rom – so beschrieb diesen Ort einer jener wenigen Europäer, die es in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hierher geschafft haben. Wo heute Geröll und Ruinen sind, erhob sich damals die Stadt Vijayanagar, reiche Hauptstadt des gleichnamigen Reiches, das sich im vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert teils über den ganzen Süden Indiens erstreckte. Doch dann im Jahre 1565 taten sich mehrere muslimische Herscher zusammen und machten das von internen Machtkämpfen geschwächte Vijayanagar dem Erdboden gleich. Stadt gibt es hier heute keine mehr, nur ein paar Häuser, die Unterkunft gewähren. In Anbetracht dessen, was geblieben ist, kann man nur schwer schließen, was einst alles war. So steht man zum Beispiel vor der Ruine eines prunkvollen, palastartigen Gebäudes mit elf hohen Torbögen und liest erstaunt, dass dies kein Palast sondern nur die Stallungen der Hofelefanten waren. Wie groß mag erst der Hof des Herrschers gewesen sein? Davon ist nur Schotter übrig.
Bei all den Ruinen von Tempeln und Palästen – diese sind hier nicht die Hauptattraktion. Der wahre Reiz von Hampi liegt in der wunderbaren, außerirdisch anmutenden Landschaft, in dem all dies sich befindet. Der mäandernde Fluss mit seinem felsigen Ufer, die zerklüfteten Hügel roten Gesteins, wie von Riesen zusammengetragen, die versteckten Täler und Schluchten, die spektakulären Felsformationen – all dies vermag zu bezaubern, vor allem im Licht eines tiefroten Sonnenuntergangs. Hampi muss man gesehen haben. Doch gehen wir’s chronologisch an.

Gegen halb acht Uhr morgens fuhr mein Zug in Hospet ein. (Hampi selbst hat keinen Bahnhof.) In Rekordzeit sprang ich ins erste Tuktuk, verließ es drei Minuten später und sprang nach fünf Sekunden am Busbahnhof in den Bus nach Hampi, der sich direkt vor mir materialisierte. Natürlich hatte der Tuktuk-Fahrer versucht, mich von der Busfahrt abzubringen, um mich selber nach Hampi zu bringen. Er log mir vor, der Bus wäre immer voll und die Fahrt dauerte eineinhalb Stunden. Die angenehme Wirklichkeit war: Der Bus war halbleer und die Fahrt dauerte fünfundzwanzig Minuten. That’s India.

Jedenfalls erreichte ich kurz nach acht Uhr das kleine Dorf von Hampi, das mit seinen Holzhütten inmitten steinerner Ruinen und riesiger Felder noch kleiner wirkt, als es ist. Ich fand rasch eine passable Unterkunft und ein gutes Frühstück. Schnell war ein Fahrrad ausgeliehen und los ging das Abenteuer.

Zuerst wollte ich den Osten der Ruinenstadt erkunden. Rasch erwies sich mein Fahrrad auf den spaltenreichen Pflasterstraßen des fünfzehnten Jahrhunderts mehr hinderlich als förderlich. Ich ließ es in der Obhut einer von den Jahrhunderten verwitterten Nandi Statue zurück und erklomm auf Sandalen den kleinen Pass unterhalb des Matangahügels. Und wen fand ich hier inmitten von Felsen und Ruinen? Es war Craig der Australier, mit dem ich vor über einer Woche am Bahnhof von Varkala so nett philosophiert hatte.

Gemeinsam mit einem Polen und einer Britin erwanderten wir den Vittala Tempel, eine der besterhaltenen Ruinen von Hampi. Die kunstvollen Steingravuren zeigten einmal mehr Szenen der Ramayana, welche zu Hampi eine besondere Verbindung hat. Gemeinhin wird dieser Ort mit der mythischen Stadt Kishkinda identifiziert, Heimat des Affenkönigs Sugriva. Tatsächlich gibt es hier sehr viele Affen (Languren, Rhesusaffen und andere Verwandte). Hampi gilt auch als Geburtsort von Hanuman. Man meint sogar, den Hügel zu kennen, auf dem dieser Held der Ramayana als Sohn des Windgottes und einer Affendame geboren wurde. Vom Vittala Tempel aus kann man den Hügel gut sehen. Noch mehr angetan war ich aber vom einsamen, knorrigen Baum auf dem Tempelgelände.

Wieder allein kletterte ich eine Stunde lang durch die Felsen am Flussufer und entdeckte dabei einige verborgene Schreine, Gravuren im Stein von Yonis, Lingams und mehr, sowie ein paar Schilder, die vor Krokodilen warnen. An einer Stelle führte mich mein Weg sogar durch eine Höhle, in welcher ein paar Sadus um Geld baten.

Zurück bei meinem Fahrrad schwang ich mich auf den Sattel und erkundete binnen drei Stunden die Ruinen im Süden, wo sich das eigentliche Zentrum der königlichen Macht befunden hatte. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die zauberischen Spiegelungen im teils überfluteten Shiva-Tempel, die besagten Elefantenstallungen, die hohe Statue der Vishnu-Inkarnation Lakshimi Narasmiha, die hohe Plattform von Mahanavimi-diiba inmitten des Ruinenmeers, das pittoreske Lotos-Mahal und das Bad der Königin. Kurz stürzte ich mich auch noch in den dichten Verkehr der nahen Stadt Kamalapuram, um das dortige Archäologische Museum zu besuchen. Dessen Hauptattraktion ist (neben vielen Skulpturen) ein großes 3D-Model von Hampi, seiner Landschaft und seinen Palästen.

Drei von geschmückten Rindern gezogene Zweispänner überholend brauste ich bergab zurück nach Hampi. Dort gönnte ich mir ein spätes Mittagessen aus Fruchtsaft und Momos. Wieder einmal ist im ganzen Ort (außer vielleicht in versteckten Kellerkneipen, deren Suche mir zu anstrengend ist) kein Bier zu finden. Aber wer braucht das schon, wenn es hier doch köstliche Lichy-Apfel oder Kiwi-Ananas Säfte gibt. Allgegenwärtig ist auch hier das Haschisch. Besonders deutlich wird das anhand der Händler die abends über den Aussichtshügel streifen und lautstark ihre Waren anpreisen: „Water? Joint? Water? Joint?“ – so als wären beide die selbstverständlichsten Waren der Welt.

Nach kurzer Nachmittagspause besuchte ich schließlich den großen Virupaksha Tempel, welcher ebenso aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert stammt, aber im Unterschied zu allen übrigen Bauten jener Zeit nachwievor genutzt wird. Da der Preis stimmte ließ ich mich von einem zertifizierten Guide eine halbe Stunde lang durch die Gewölbe führen. Er erklärte mir die Symbolik der Gravuren auf dem fünfzig Meter hohem Torturm und an allen anderen Ecken und Enden. An vielen Stellen unterbrach ich den Guide, da er mir nicht viel Neues erzählte. Man kennt sich inzwischen ja ein bisschen aus. Einiges lernte ich aber doch hinzu. Im Allgemeinen war es einer der interessanteren Tempelbesuche dieser Reise. Der Tempelelefant Lakshmi scheint sich hier jedenfalls sehr wohl zu fühlen. Er beschnupperte neugierig meine Hand.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne schwebte dem Horizont entgegen. Ich erklomm den Hemakuta Hügel im Süden des Tempels. Hier lag ich lange auf warmen Stein zwischen Felsen und Ruinen und betrachtete den Himmel und die wunderschöne Aussicht. Die Landschaft wurde zunehmend rötlicher. Die Welt wurde ruhiger. Man darf hier nicht zu lang die Augen schließen, denn die Affen sind flink. Ich sah, wie einer zwei kurz unachtsamen Damen die Wasserflasche entwendete. Lang saß das Äffchen auf einem Felsen und rätselte wie es die Flasche nun aufkriegen sollte. Schließlich gelang es. Etwas später sollte ich dann noch eine Lemurendame sehen, die samt Nachwuchs (letzere am Hals hängend) einen Russen ansprang, ihm seine eben gekauften Bananen entwendete und diese gierig verschlang.
Doch zurück zum Hemakuta Hügel. Die Sonne senkte sich leuchtend rot dem Horizont entgegen. Ich stand zwischen Felsen, Affen, schönen Rindern und Ruinen und sah ihr dabei zu. Der schönste Sonnenuntergang der bisherigen Reise an einem der faszinierendsten Orte, an denen ich je gewesen bin. „Eppur si muove“ in den Ohren hüpfte ich den Hügel hinab.

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Tag 81 – Hubli Junction

Nach Tagen voller Tätigkeit und einer bunten Flut an Impressionen ist es manchmal sehr erholsam, einen Tag lang nur zu reisen, aus Zugfenstern zu blicken, zu lesen, von den vergangenen Tagen zu schreiben und auf den nächsten Zug zu warten. So ein Tag war heute.

Nach einem Frühstück mit Craig dem Australier kam der frühe Abschied von Hampi. Ich ignorierte die Tuktuk-Fahrer und sprang in denselben Bus, der mich gestern erst hierher gebracht hatte. Bald saß ich auch schon im Zug nach Westen und sah die flache, grüne Landschaft des nördlichen Karnatakas an mir vorübergleiten. Nach drei Stunden erreichte ich den Bahnhof von Hubli. Da es reservierungstechnisch nicht anders möglich gewesen war und ich obendrein eine großzügige Verspätung einkalkuliert hatte, war mein Aufenthalt in dieser Stadt ohne Sehenswürdigkeiten auf ganze sieben Stunden bemessen.

Der supermoderne Bahnhof Hubli Junction bietet die idealen Voraussetzungen, um Zeit totzuschlagen. Dort gibt es nicht nur vorzügliche Verpflegung (Gebäck, Kaffee, Eis, Schokolade, Idlis, Dosas, Biriyanis, etc.), sondern auch einen komfortablen Warteraum mit sauberem Bad, Akkuladestation und sogar ein Internetcafé direkt in der Bahnhofshalle. Was will man mehr? Nur wenige europäische Bahnhöfe können da mithalten.

Die meiste Zeit befand ich mich in der Welt der Mahabharata. Alle Vorzeichen stehen auf Krieg. Letzte Vorbereitungen werden Getroffen. Generäle werden ernannt. Die Qualität der Erzählung wird einmal mehr durch leise, emotionale Szenen unterbrochen, die gekonnt in die martialische Schlachtvorbeteitung verwebt sind. Etwa die Szene, in der Kunti ihrem weggebenen Sohn Karna seine wahre Herkunft offenbart und er erkennt, dass seine Feinde in Wahrheit seine Brüder sind. Ein kleines Juwel ist auch die Nebenhandlung rund um Shikhandi, dessen Schicksal es ist, Bhishma zu töten, da dieser in Shikhandis früherem Leben als  Prinzessin Amba all ihre Träume zerstörte.

Ich las, schrieb und plante die nächsten Tage in Goa. Schnell verging die Zeit. Es wurde Nacht, ich bestieg meinen Zug und wurde schlafend nach Westen zur Küste getragen. Karnataka flüsterte ich noch ein ernst gemeintes „Auf Wiedersehen“ zu. Hampi könnte mich eines Tages – und sei es in mehreren Jahrzehnten, wenn ich so alt bin wie Craig der Australier – wieder zu sich locken.

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Tag 82 – Palolem I

Von Goas größtem Bahnhof in Madgaon nahm ich mir einen Bus nach Süden und gelangte binnen einer Stunde an den südlichen Traumstrand von Palolem.

Im Unterschied zu Varkala gibt es hier kaum Wellen. Das Meer liegt fast so ruhig da wie ein See. Doch es ist wunderschön. Ein dichter Palmenwald begrenzt den Strand. Die Bäume ragen teils weit über den Sand als streckten sie sich dem Wasser entgegen. Im Norden ragt der bewaldete Hügel einer Halbinsel, die bei Flut zur Insel wird, ins Meer hinaus. Direkt am Strand unter den Palmen gibt es viele gute Restaurants und kleine Bungalows zum Wohnen. In eines davon zog ich nun ein.

Während das Baden im Meer hier zwar schön aber mangels Wellen auch recht eintönig ist, lohnt ein Spaziergang entlang der Küste nach Norden. Nahe der Halbinsel findet man viele verschiedene Krebse von Fingernagel- bis Handtellergröße. Schön ist der Blick auf das Meer, auf die Palmen und die grünen Hügel dahinter. Der Strand von Palolem ist eine Art Manifestation der Paradiesvorstellungen der Menschen in den Städten des Nordens.

Aufgrund der ruhigen See kann man gefahrlos weit hinausschwimmen. Man kann sich aber auch ein Kayak nehmen und damit allein auf weitem Wasser ins Meer hinaus paddeln. Letzteres tat ich. Im sanften Licht des Spätnachmittags lenkte ich mein Kayak entlang des goldenen Pfads der im Wasser gespiegelten Sonne. In einem weiten Bogen umrundete ich die Halbinsel im Norden und erreichte die Bucht jenseits davon. Eine Stunde lang ließ ich mich dort treiben und hielt Auschau nach Delfinen. Ihr Erscheinen würde diesen schönen Tag noch schöner machen. Die Zeit verging. Indes wurde die Sonne stets rötlicher und das Meer silbriger. Leicht enttäuscht ob des Ausbleibens der Delfine paddelte ich schließlich zurück auf die andere Seite der Halbinsel. Und dann sah ich sie plötzlich kommen. Drei silbrige Körper glitten durchs Wasser und sprangen im fröhlichen Spiel gelegentlich zur Gänze über die Oberfläche. Sie kamen mir entgegen, tauchten unter mir hindurch. Ich folgte ihnen, kam ihnen sehr nahe. Einmal sprang einer nur etwa fünf Meter neben mir in die Höhe. Wundervolle Kreaturen. Zum letzte Mal Delfine gesehen (viel ferner jedoch) habe ich erst letzten Februar am Point Lobos nahe Monterey, California, in einer ganz anderen Ecke der Welt unter gänzlich anderen Umständen. Das Gefühl der großen Freiheit war aber beide Mal gegenwärtig.

Unsagbar schön war auch der Sonnenuntergang. Immer noch in meinem Kayak treibe sah ich die große, feuerrote Scheibe in die Wellen tauchen. Und die Welt ward silberblau. Kurz sah ich noch einen vierten, eisamen Delfin. Dann paddelte ich endgültig zurück ans Ufer. Am Abend  werden dort Feuer angezündet. Manche Lokale stellen ihre Holztische und gemütlichen Stühle bis ans Wasser.

Stunden nach der Kayaktour saß ich euphorischen Gemüts am kerzenerleuchteten Strand und hob mein Whiskyglas dem Meer entgegen. To life. L’chaim. Auf das Leben. Heute war mein neunundzwanzigster Geburtstag. Und ich wusste, wo ich vor genau zehn Jahren gewesen bin. In einem kalten, kargen Bundesheerbunker an der ungarischen Grenze nahe Nickelsdorf. Ich steckte Pin-Nadeln, die die einzelnen Truppen markierten, in die Karte des Grenzverlaufs und funkte „Ramses 10 an Ramses 100, kommen.“ Im Hintergrund lief Radio Burgenland. Ein anderer Mensch in einer anderen Welt.
Runde Geburtstage sind nicht so wichtig. Viel interessanter sind jene in Zeiten des Unbruchs, also jener vor zehn Jahren im militärischen Niemandsland zwischen Schule und Studium, und jener heute im verdienten Atemzug zwischen Doktorat und Fragezeichen. Jetzt war die Zeit, um beim Anblick des Meeres Rückschau zu halten auf diesen wilden Ritt der letzten zehn Jahre. Das Meer ging mir auch damals durch den Kopf, schrieb ich doch in jenen kalten Burgenlandwochen ein paar der frühen Kapitel von „Auf See“. Und jetzt war ich hier an Indiens westlicher Küste. Die Gedanken schweifen über zehn bunte Jahre, über Philosophieseminare und Physikpraktika, über Gedichte, Romane und Theaterstücke, über Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen und Tränen im Publikum. Über Menschen und Geschichten. Über tausend Erfahrungen und Bereicherungen. Über viele schöne Reisen und noch schönere Reisen im Geiste. Über Unvergessliches und manchmal auch gerne Vergessenes. Über Sterne und Bühnen. Über zehn Jahre in all ihrem unwiederholbaren, unwiederbringlichem Facettenreichtum. So heben wir das Glas dem Meer entgegen und sagen uns: Wohlan, die nächsten zehn Jahre können kommen. Und wo auch immer ich heute in zehn Jahren sein würde, an diesen Moment, an dieses Meer und diesen Strand und dieses Mondlicht zwischen den Palmen würde ich denken müssen.

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Tag 83 – Palolem II

Ein schöner, ruhiger Tag in Palolem, an dem ich nichts tat, als gut zu speisen, im Meer zu schwimmen, den Strand entlang nach Süden zu spazieren und auf Liegen und Felsen in der Mahabharata zu lesen. Der Krieg zwischen Pandavas und Kauravas hatte nun endlich begonnen. Tag auf Tag gab es Gemetzel. Im zentralen Bhagavad-gita Kapitel, das immer als Kernbotschaft hinduistischen Denkens genannt wird, wird Arjuna von Krishna darüber belehrt, warum der Kampf unvermeidbar sei. Arjunas Folgsamkeit ist eine Niederlage jeglichen kritischen Denkens, denn Krishnas Ausführungen (, die ich auch schon aus anderen Übersetzungen kannte,) sind einfach nur abzulehnen. Man kann bei jedem zweiten Satz nur den Kopf schütteln und laut „Nein“ sagen.

Wie kann man wissen, was das rechte Handeln ist? Ganz einfach. Richtig ist immer nur das, was Krishna sagt und Krishna von dir will. Höre also auf zu denken, Arjuna, und folge brav dem weisen Krishna, welcher deinen Wagen lenkt. Dass in der Bhagavad-gita der Hinduismus plötzlich zum Monotheismus wird, indem alle anderen Götter zu Aspekten Krishnas (bzw. Vishnus) degradiert werden ist ein interessanter Punkt. Man merkt, dass das Kapitel eine spätere Ergänzung ist. Denn nimmt man alles darin ernst, macht vieles keinen Sinn mehr. An einer Stelle fordert Krishna sogar, keinen Gott neben ihm selbst anzubete. Und das im Hinduismus! Jedenfalls wird mir Krishna zunehmend unsympathisch. Sehr spannend bleibt aber die Psychologie auf der Verliererseite. In den Kapiteln rund im die Kauravas kommt stets der alte Konflikt zwischen Fatalismus und freiem Willen ans Licht. Spannend.

Abends saß ich noch lange in einem Lokal mit dem schönen Namen „The Found Things“. Man bot Life-Musik und offenes Feuer. Der Mond ging wieder hinter den Palmen auf. Die Sonne versank im Meer. Schön.

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Tag 84 – Panaji

Nach einem letzten Frühstück am Märchenstrand von Palolem gelangte ich per Bus binnen zwei Stunden in Goas Hauptstadt Panaji.

Dass nach den Höhepunkten der vergangenen Tage (Mysore, Hampi, Palolem) der nächste Ort ein bisschen enttäuschen könnte, war zu erwarten. Panaji bietet portugiesischen Charme. Blauweiße Fließen (die berühmten Azulejos) benennen alte Villen. Die Viertel Sao Tomé, Altinho und Fontainhas  sind voll mit bunter, reizvoller Architektur. Manche Häuser sind sehr gepflegt, andere bröckeln allmählich in sich zusammen. Auf einer kleinen Anhöhe im Zentrum der Stadt, steht die fast fünfhundert Jahre alte Kirche mit ihrer strahlend weißen Fassade und den schönen Stufen, die zu ihr empor führen. Witzig wie die Gläubigen vor der verschlossenen Tür auf die Knie fallen und, da sie nicht weiter kommen, eben dort beten. Unweit nördlich der Kirche fließt der breite Fluss Mandovi. Am Ufer leuchten nachts zahlreiche Casinoboote und locken die Besucher. Auch abendliche Schiffsfahrten entlang des Flusses werden geboten.

Alles hier wäre aber so viel schöner und beschaulicher, wenn nur dieser laute, dichte Straßenverkehr nicht wäre. Nirgendwo auf dieser Reise fand ich ihn störender als hier. Sogar der Kirchenchor des abendlichen Freilicht-Gottesdienstes auf den Stufen vor der mit Lichterketten wunderschön erleuchteten Kirche hatte Mühe das unaufhörliche Hupen zu übertönen. Um wieviel beschaulicher hier alles wäre, gäbe es ein paar Fußgängerzonen und ein bisschen Verkehrsberuhigung.

Nach einer nachmittäglichen Erkundungstour, wusste ich nicht so recht, was ich mit dem Abend anfangen sollte. Die River Cruise entlang des Mandovi klang an sich reizvoll, doch das Internet hatte mich vor eineinhalbstündigem Schlangestehen für nicht sonderlich spannende Aussicht auf einem überfüllten Schiff mit mittelmäßigen Entertainment gewarnt. Ich überzeugte mich selbst von der Länge der Schlange. In der Tat war der unbequem Andrang groß. Ich machte kehrt.

Reizvoll wäre sicher auch ein Casino-besuch gewesen. Das Angebot für 3000 Rupien Essen und Getränke so viel man will, Entertainment und Jetons im Wert von 2000 Rupien zu erhalten, klang verführerisch. Ein bisschen Roulette macht immer Spaß. Mit ein bisschen Glück könnte ich meinen 30 Dollar Verlust vom Februar im Venetian in Vegas wettmachen. Allerdings begann das nächtliche Entertainment und der Ansturm der Besucher erst gegen halb zehn und solange wollte ich nicht warten. Es war ein heißer Tag bei etwa 35 Grad gewesen und ich war müde. Zudem hätte ich Schwierigkeiten gehabt, dem Dresscode zu entsprechen.

Ich entschloss mich also für einen ruhigen Abend in meinem gemütlichen Altstadtzimmer. Davor gab’s aber noch ein hervorragendes Abendmahl. Überhaupt war das Essen eines der besten Erlebnisse in Panaji. Goas regionale Küche ist hervorragend. Sowohl das Kingfish-Vindaloo, das ich mittags hatte, sowie das Garnelencurry am Abend schmeckten derart ausgezeichnet, dass man am liebsten gleich wieder Hunger hätte, um nochmal dasselbe zu bestellen. Diese  dezenten Tamarind- und Kokosnoten im Curry, das feurige Vindaloo… Welch Gaumenschmaus. Beim Abendessen führte ich noch eine nette Unterhaltung mit zwei US-Amerikanern, von denen einer die letzten vier Jahre in Delhi gelebt hatte. Natürlich hatte er spannende Geschichten auf lager. Der ältere Herr aus Oakland und ich hörten gespannt zu.

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Tag 85 – Old Goa

Am frühen Vormittag verließ ich mein Hotel, ließ meinen Rucksack bei den freundlichen Herren der Gepäckaufbewahrung am Busbahnhof von Panaji und nahm den nächsten Bus nach Alt-Goa. Der Ort war gänzlich anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bevor die Hauptstadt Goas zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Panaji verlegt wurde, war Alt-Goa eine blühende Metropole gewesen. Vom späten 16. bis frühen 18. Jahrhundert hatte dieses „Rom des Ostens“ sogar mehr Einwohner als das damalige London und Lissabon. Neben anderen Ursachen waren es anscheinend Malaria und Cholera, die im 18. Jahrhundert einen abrupten Niedergang bewirkten.

Ich hatte damit gerechnet ein beschauliches Gassengewirr alter Wohnhäuser vorzufinden, ähnlich dem in Panaji. Dem war nicht so. Übrig geblieben sind wirklich nur die steinernen Kirchen, Kapellen und Klöster. Man hat nicht das Gefühl in einer einstigen Metropole zu sein, vielmehr in einem großen, grünen Park voller Kirchen. In der belebtesten Straße stehen Verkaufsstände dicht an dicht. Im Angebot sind christliche Souvenirs, T-Shirts mit Bob Marley und Konsorten, CDs, „heiliges“ Wunderöl, das alle Schmerzen verjagte, etc. Aus manchen Läden dringt laut Raggy, aus anderen Kirchenmusik. Am Imbisstand, wo ich ein indisches Frühstück aß, spielte man Jingle Bells. Passt irgendwie nicht zu Palmen und dreißig Grad plus.

Als erstes besuchte ich die Kathedrale von Sé, welche anscheinend nicht nur die größte Kirche Indiens, sondern die größte Kirche Asiens ist. Im Glockenturm schwingt zudem auch die größte Glocke Asiens. Bei all diesen Superlativen ist die Kirche innen und außen jedoch erstaunlich unbeeindruckend.

Ich war anscheinend zur richtigen Zeit hier. Für den Zeitraum November bis Januar hatte man nämlich die Überreste von Goas „Nationalheiligem“ Franz-Xaver aus seiner Gruft in der Basilica nebenan hervorgeholt und stellte sie nun vor dem Altar in der Sé Kathedrale aus. Erstaunlich waren die ausufernden Sicherheitsvorkehrungen und der riesige zum Schlangestehen eingegrenzte Bereich. So etwas sah ich bisher nur in Disneyland. Da es der frühe Morgen eines Wochentages war, hielt sich der Ansturm noch in Grenzen. Dennoch kamen auch an Wochentagen  Tausende und an Wochenenden Zehntausende Menschen hierher um den mumifizierten Leichnam von Franz-Xaver zu sehen. Nach doppelter Sicherheitskontrolle (Waffen, Feuerzeuge und Zigaretten müssen draußen bleiben) gelangt man vorbei an schwer bewaffneter Polizei in den Altarbereich. Hier liegen die Reste des vor fünfhundert Jahren so aktiven Mannes aus Navarra. Die Gläubigen werden links und rechts des gläsernen Sarkophags vorbeigelotst und habe gerade genug Zeit um das mumifizierte Gesicht zu betrachten und das Glas des Sarkophags zu küssen. Irgendwie widerlich. Nicht der Leichnam, sondern das Glas. Bei tausenden Küssen täglich werden wohl einige Krankheitserreger ausgetauscht. Jedenfalls war es für mich interessant zu sehen, wie gut der Leichnam erhalten war, ganz ähnlich den schönen Moorleichen in Dublins naturhistorischem Museum, die ich vergangenen April ein zweites Mal bewundern durfte.

Unweigerlich erfuhr ich im Laufe des Tages einiges über das Leben von Franz-Xaver. Der aus Navarra stammende Adelige führte Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nach seinem Studium in Paris ein recht weltliches Leben, schloss sich dann aber doch einem strengen katholischen Orden an, der vor allem die Reformation rund um Luther bekämpfen wollte. Franz-Xaver reiste nicht nur nach Goa, wo er fleißig Einheimische konvertierte, er gelangte auch nach Sumatra und sogar bis nach Japan. Gestorben ist er im Alter von nur sechsundvierzig Jahren auf einer chinesischen Insel. Von dort wurde sein Körper dann zurück nach Goa gebracht. Vor seinem Tod hat Franz-Xaver natürlich auch eine ganze Reihe von Wundern vollbracht. Ein Highlight ist diese schöne Geschichte: Franz-Xaver befindet sich auf einem Schiff, das in einen wilden Sturm gerät. Die Seeleute fürchten um ihr Leben. Doch Franz-Xaver weiß, was zu tun ist. Er wirft sein liebgewonnenes Kruzifix in die Fluten und siehe da: der Sturm legt sich. Das Meer wird friedlich. Wieder an Land ist Franz-Xaver traurig ob des Verlusts des Kruzifixes. Betrübt steht er am Strand. Da kommt eine Krabbe auf ihn zu gekrabbelt. Und in einer ihrer Scheren hält sich doch tatsächlich das ins Meer geworfene und verloren geglaubte Kruzifix. Halleluja.

Bei all den netten Geschichten vergessen wohl viele die wahre Geschichte der portugiesischen Inquisition. Wie vielen dieser Gläubigen, die hier vor lauter Demut am liebsten stundenlang Franz-Xavers Sarg küssen würden, ist wohl bewusst, welch menschenfeindliche Schreckensherrschaft die fanatischen Katholiken Portugals hier im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausübten? Voltaire war einer von wenigen Schriftstellern, die dies damals schon thematisierten. Ich erinnere mich noch gut an seine Erzählung „Les lettres d’Amabed“, in der ein armer indischer Prinz in die Fänge der hiesigen Portogiesen gerät. Zwangskonversionen, Folter und Vertreibung richteten sich aber nicht nur gegen die hinduistische Bevölkerung. Auch sämtliche Juden, die sich schon früh hier angesiedelt hatten, wurden von der Inquisition gepeinigt. Pikanterweise richtete sie sich auch gegen Christen. Anfangs waren Vasco da Gama und andere portugiesische Eroberer noch erfreut gewesen im neuentdeckten Land bereits christliche Gemeinden vorzufinden. (Das Christentum in Indien geht vielleicht bis auf den Apostel Thomas zurück, den es schon im ersten Jahrhundert hierher verschlug.) Nur waren die zur Zeit der Ankunft der Portugiesen hier lebenden Christen halt leider die falschen Christen, nämlich syrisch-orthodoxe und nicht papsthörige Katholiken. Das ging natürlich nicht. Also mussten auch sie zum Verbrennen ihrer Bücher und zum Abschwören ihres falschen Christentums gezwungen werden. Jahrhundertelang wurde hier im Namen des Christentums gefoltert und gemordet. All dies nur zu gern vergessend kommen aber Tausende täglich hierher und küssen den Sarg des freundlichen Heiligen mit der Krabbe.

Die Kathedrale von Sé ist nur eine von vielen imposanten Gotteshäusern Alt-Goas. Gleich daneben steht die Franz von Assisi Kirche, deren Inneres sehr beeindruckend ist. Vor der weitläufigen Bom Jesus Basilika, die ausnahmsweise einmal nicht weiß sondern rötlich ist, fand eben eine große Freiluftmesse in englischer Sprache mit hunderten Besuchern statt. Ich schlich mich daran vorbei um im Inneren der Basilika jene prunkvolle Kapelle zu sehen, in der Franz-Xaver normalerweise liegt. Dass er gerade nicht da war, schien nicht weiter zu stören. Die Gläubigen standen trotzdem Schlange um ihre Lippen auf den Stein des Altars zu pressen. Ich sah einem Mann dabei zu, wie er in voller Demut einen Holzbalken küsste. Dieser war eigentlich nur Teil des Gerüsts, welches das in Renovierung befindliche Kapellendach stütze. Faszinierend.
Ebenfalls in der Bom Jesus Basilika befindet sich ein besonders blutiges Kruzifix (siehe Foto).

Ich besuchte außerdem die Kirche Sankt Cayetan, die Kapelle Sankt Katharina und noch einige mehr. Sehenswert sind auch, das Archäologische Museum, das Museum Christlicher Kunst und ein paar andere kleinere Ausstellungen. Durch einen kleinen Triumphbogen hindurch erreichte ich schließlich noch das eher unspektakuläre des Mandovi Flusses.

Genug Christentum für heute. Ich nahm den Bus zurück nach Panaji. Da noch Zeit bleibt besuchte ich dort noch das Goa State Museum. Am interessantesten fand ich dort die Ausstellung zu Goas Freiheitskampf. Erst 1961 zwang das indische Militär die Portugiesen zum Abschied. Die Geschichte dieses kurzen Krieges, sowie das meist tragische Schicksal früherer Freiheitskämpfer wurde hier in Bildern und Dokumenten erzählt.

Schließlich hieß es Abschied nehmen von Goa. Ich nahm den Bus nach Margao, warf im Vorübergehenden noch einen Blick auf die dortige Heilig Geist Kirche und stieg am Bahnhof in mein geräumiges Erste Klasse Abteil.

Normalerweise reise ich ja nie erste Klasse und nur selten zweite. Hier in Indien genügt mir die dritte Klasse (=Sleeper) vollauf. Doch da für diesen Zug alles andere als erste Klasse schon ausgebucht gewesen war, hatte ich keine Wahl gehabt. Natürlich war der Komfort ein ganz anderer. Der Kellner, der das Abendessen serviert und Tee und Snacks bringt, war sehr freundlich. Das Bett war zehnmal angenehmer, als in den billigeren Klassen.
Man schläft gut mit dem Gedanken ein, dass das Bahnhofsgebäude, in das man am Morgen einfahren wird, auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO steht.

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Tag 86 – Mumbai I

Nach erholsamem Schlaf erwachte ich kurz vor Einfahrt des Zuges im Chhatrapati Shivaji Terminus (kurz CST, weiland Victoria Terminus). Das Innenleben des Bahnhofs verrät fast nichts von Zauber, Prunk und Pracht seines Äußeren. Ich brachte meinen Rucksack in die Gepäckaufbewahrung und stürzte mich sogleich hinaus in die Straßen der Morgendämmerung. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für wunderbare Gebäude!

An erster Stelle stand natürlich jenes, das ich eben verlassen hatte. Würde man die Wahrheit nicht kennen, man würde glauben, es sei ein Königspalast oder eine riesige, mehrschiffige Kathedrale. Weder noch. Dieses 1887 vollendete, gewaltige gotische Weltkulturerbe ist der Bahnhof der größten Stadt Indiens, von außen wohl der schönste Bahnhof der Welt. Es lohnt, ihn mehrfach zu sehen: Tags im Licht der Sonne, nachts in prächtiger Beleuchtung. Riesengroß und atemberaubend schön.

Der CST ist aber nur eines von vielen Gebäuden dieser Stadt, die mich staunend verharren ließen. Während ich in der Morgendämmerung langsam nach Süden spazierte und der Mond über die Dächer der Bauten kroch, blätterte ich immer wieder in meinem Reiseführer, um herauszufinden vor welchem Prachtgebäude ich nun wieder stand. Die meisten werden darin nicht einmal erwähnt, da es sich um einfache Wohn- oder Behördengebäude handelt. Das kathedralenähnliche Gebäude gleich gegenüber des CST ist etwa nur eine Behörde, das Schloss am großen Kreisverkehr weiter südlich ist nur das Polizeihauptquartier. Jedes einzelne dieser Gebäude wäre in einer anderen Stadt wohl eine Hauptattraktion.

Vorbei am schönen Flora Brunnen gelangte ich bald zum (neben dem CST) wohl beeindruckendsten Gebäude Mumbais, dem High Court. Selten erzielt Architektur eine derartige Strenge. Das riesige neogotische Gebäude ist Inbegriff von Autorität und wirkt abweisend und wunderschön zugleich. Nach einer gründlichen Sicherheitskontrolle durfte ich das Gelände betreten und durch die finsteren Korridore und über enge Wendeltreppen wandern. Fotografieren war leider nicht erlaubt. Man kann sich vorstellen, wie arme Kläger hier auf Gerechtigkeit hoffen und an der Strenge der Mauern im Labyrinth der Korridore verzweifeln. Kafka hätte seine Freude mit diesem Gebäude gehabt. Noch nie war ich an einem Ort, der derart die Stimmung von „Das Schloss“ wiedergibt, wie der High Court von Mumbai es tut. Und das trotz der Palmen im Garten.

Unweit, in der schönen St. Thomas Kathedrale, kann man viele faszinierende Grabinschriften betrachten, die meisten von Männern der East India Company, deren Zentrale lange Zeit in Mumbai war. Ich betrat die noch dunkle Kathedrale als erster und einziger, nur wenige Minuten nach der Öffnungszeit um sieben Uhr morgens. Beschaulich. Auch der nahe Horniman Circle, ein riesiger Kreisverkehr, dessen Insel ein umzäunter Botanischer Garten mit mächtigen Banyan-Bäumen ist, sowie die imposante Town Hall an seiner Ostseite waren einen Besuch wert.

Wunderschön ist auch die gotische, palmengesäumte University of Mumbai mit ihrem achtzig Meter hohem Glockenturm. Leider darf man als Tourist das Gelände seit den Anschlägen von 2008 nicht mehr betreten und kann nur durch den Zaun hindurch spähen. Gegenüber befindet sich die große, gräserne Fläche des Oval Maidan. Viele Bewohner der Stadt nutzten die Kühle der Morgenstunden, um hier zu joggen oder Cricket zu spielen. Ich setzte mich auf eine Parkbank, sah dem bunten Treiben zu und hoffte, von keinem Cricket-Ball getroffen zu werden.

In einem modernen Café in der Nähe einer himmelblauen Synagoge nahm ich dann ein ausgiebiges Frühstück ein. Und weiter ging der Morgenspaziergang. Vorbei an den schönen Fassaden der David Sasson Library und des Elphinstone Colleges gelangte ich zu einem weiteren architektonischem Höhepunkt, dem 1923 zu Ehren von King George V vollendeten Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya (weiland Prince of Wales Museum). Die weiße Kuppel und der schöne Mix aus islamischer, hinduistischer und britischer Architektur ist ein Augenschmaus. Den Museumsbesuch verschob ich auf morgen.

Schon jetzt hatte mich Mumbai begeistert. Eine Stadt, in der die prächtigsten Bauten nicht Tempel, Kirchen oder Paläste sind, sondern Bahnhöfe, Universitäten und Museen, kann mir nur schwerlich missfallen.

Vorbei an weiteren Prachtbauten erreichte ich schließlich das Meer. Hier endet die Straße in einem großen Triumphbogen, dem Gateway of India. Erbaut wurde dieser anlässlich des Besuchs von King George V im Jahre 1911, fertiggestellt aber erst 1924. Vierundzwanzig Jahre später patrouillierte hier das letzte britische Regiment auf indischem Boden.

Der schöne Bogen wirkt aber recht klein, vergleicht man ihn mit dem Gebäude, das dahinter steht. Das riesige Taj Mahal Palace Hotel kennen wohl viele noch aus den Medienberichten von 2008, als Rauch aus den Fenstern stieg und muslimische Terroristen das Gebäude besetzen. Es gab Dutzende Tote. Das Hotel wurde zudem schwer beschädigt und konnte erst zwei Jahre später wieder öffnen. Der direkt am Meer gelegene Koloss von einem Hotel ist jedenfalls ein sehr imposanter Anblick.

Einen Besuch in der exklusiven Hotelbar vetschob ich auf morgen. Heute hatte ich nämlich ganz andere, recht unindische Pläne. Nahe dem CST gab es nämlich etwas, das ich schon seit etwa zwei Monaten suchte, doch bisher in Indien nicht finden konnte, zumindest nicht in leicht erreichbarer Lage. Hier gab es ein Kino, das nicht nur Bollywood spielte, sondern auch einen westlichen Film. Dieser war kein anderer als „Interstellar“, Meisterregisseur Christopher Nolans neustes Werk, ein Muss für mich als Filmfreund und als Physiker. Der Film lief schon um 11:45 Vormittags. Es war die einzige Vorstellung am Tag. Zum Vergleich: Der neue Bollywood Streifen „Action Jackson “ läuft im selben Kino ca. zwanzig Mal pro Tag.

Schön war’s, wieder einmal im Kino zu sitzen. Für die Eintrittskarte zahlte ich ein bisschen weniger als €1,5.  Nach einer Flut von Werbeanzeigen in Hindi – die meisten davon priesen Aktienfonds und Hautcreme – hieß es plötzlich „Please rise for the National Anthem“ und der ganze Saal erhob sich während auf der Leinwand die indische Flagge wehte und aus den Lautsprechern die Hymne erscholl. Man stelle sich dergleichen in Deutschland oder Österreich vor. Dann endlich ging es los.

Ein schöner Film. Natürlich muss der Physiker hin und wieder schmunzeln, wenn die „Experten“ auf der Leinwand in hellster Aufregung die elementarsten Sachverhalte erläutern. Doch das ist schon in Ordnung. Der Film bleibt dabei im grünen Bereich (nicht so z.B. der abgrundtief schlechte Film „2012“, welcher gänzlich Physik verfälscht). Die alte Frage „Was ist im Zentrum eines Schwarzen Lochs?“ mit „Der Bücherschrank in einem Kinderzimmer“ zu beantworten, hat etwas ungemein Poetisches.

Gelöst, begeistert und dezent der Gegenwart entrückt trat ich drei Stunden später wieder auf die belebten Straßen Mumbais hinaus. Bei „Badash Snacks & Drinks“ stillte ich meinen Hunger und genoss außerdem einen Falooda, die flüssige Spezialität des Hauses und eines der seltsamsten Getränke, das ich je getrunken habe. Schmeckt ausgezeichnet.

Ich schlenderte durch den überdachtem Bazaar-ähnlichen Crawford Market, der das hiesige Gegenstück des New Market von Kolkata ist. Es gibt nur wenige Dinge, die man hier nicht kaufen kann. Etwas später erreichte ich einmal mehr den CST, wo mein Rucksack auf mich wartete. Es war Zeit mein Hotel aufzusuchen. Erst zum zweiten Mal auf dieser Reise hatte im Voraus gebucht. Hotel und dessen Lage, wie auf booking.com beschrieben, klangen akzeptabel. Vom CST aus, musste ich lediglich die S-Bahn nehmen und zwei Stationen nach Norden fahren. Nichts leichter als das.

Leider war alles ein bisschen schwieriger. Vielleicht habe ich schon einmal erwähnt, dass sich hierzulande  Imbisbuden und Restaurants oft auch als Hotel bezeichnen, obwohl sie keines sind. An der auf booking.com angegeben Kartenposition, anhand derer ich die Unterkunft ausgewählt hatte, fand ich nun eine heruntergekommene Imbisbude vor, die den gleichen Namen trägt wie mein Hotel. Letzeres war anscheinend ganz woanders, nur wo? Zumindest kannte ich den Wortlaut der richtigen Adresse, doch nicht einmal die Taxifahrer wussten, wo genau die entsprechende Straße sich befand. Es begann eine kleine, etwa vierzigminütige Odysee im Gassengewirr eines belebten muslimischen Viertels. Ich fragte an die zehn Leute, wurde von allen freundlich in stets andere Richtungen geschickt und stand schließlich endlich vor meinem Hotel. Diese kleine Odyssee schaffte es jedenfalls nicht mir die gute Laune an diesem unerwartet schönen Tag zu verdrießen. WLAN und warmes Wasser versöhnten mich mit dem Hotel (das nichts dafür kann). Nur booking.com wird ein böses email von mir kriegen. Sonst werden noch ein paar Reisende vom Schlag getroffen, wenn sie sich ein komfortables Hotel erwarten und plötzlich vor besagter Imbisbude stehen, welche den Schriftzug „Hotel Al Madina“ trägt.

Spät abends ging ich noch einmal auf die Straßen hinaus. Vorbei an zwei wunderschön erleuchteten Moscheen gelangte ich durch das Chaos belebter Straßen zu einem guten Restaurant und verschlang ein schmackhaftes Dosa. Die Straßen dieses Viertels ließen Erinnerungen an Alt-Delhi wach werden. Wie lange her das schon ist…

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Tag 87 – Mumbai II

Als Hauptprogrammpunkt dieses Tages hatte ich mir ein weiteres UNESCO Weltkulturerbe erwählt: die Höhlen der Insel Gharapuri, besser bekannt als Elephanta.

Nach bekömmlichem Frühstück bei Starbuck’s (Ich floh, als sie dort „Last Christmas“ spielten.) schritt ich einmal mehr zum Gate of India. Direkt dahinter fahren die Bote nach Elephanta ab. Während der einstündigen Fahrt hat man schöne Aussicht auf Taj Mahal Palace Hotel und Gate of India, später auf Fischkutter, Containerschiffe, Kriegsschiffe und riesige Öltanker. Der Tag war leicht ne
belig. Viele große Schiffe erschienen wie aus dem Nichts. Dann endlich sah man die Umrisse der grünen Hügel der Insel Elephanta.

Der Landungssteg, an dem die Boote anlegen, ragt weit ins Meer hinaus. Man braucht fast zehn Minuten bis man das eigentliche Ufer erreicht. Alternativ kann man auch die kleine Schmalspurbahn nehmen. Ein Kai mit Eisenbahn darauf ist irgendwie nett.

Über steinerne Stufen erklomm ich die Hügel von Elephanta und erreichte schließlich die von Menschenhand aus dem Stein gehauenen Höhlen mit ihren mächtigen Säulen und kunstvollen Gravuren, die allesamt die bekannten Legenden rund um Shiva zeigten, den Tanz, die Hochzeit mit Parvati, das Niederringen von Dämon, etc. Im Hintergrund tauchen auch Brahma, Vishnu, Ganesha, Garuda und sogar Indra immer wieder auf.

Es ist historisch nicht genau geklärt, welche Kultur diese Kunstwerke hervorgebracht hat. Datiert werden sie jedenfalls auf das fünfte bis achte Jahrhundert. An Detailreichtum und Kunstfertigkeit sind die Gravuren im Stein von Elephanta die beeindruckensten meiner bisherigen Reise, noch schöner sogar als jene von Mamallapuram. Nur leider sind viele der kunstvollen Figuren im Stein stark zerstört. Die Ursache hierfür ist haarsträubend. Die portugiesischen Soldaten, die auch der Insel ihren Namen gaben, als sie dort als erstes eine Elefantenskulptur sahen, haben die Höhlen für Schießübungen missbraucht und dabei viele Gravuren so stark entstellt, dass man nicht einmal mehr eindeutig sagen kann, welche Götter sie zeigen.

Neben der faszinierenden Haupthöhle gibt es noch weitere Höhlen, welche aber alle unvollendet geblieben sind. Teils ist man nur bis zum Eingangsportal gekommen. Auf dem ganzen Gelände wimmelt es nur so von neugierigen Affen, die den Besuchern nur zu gerne Snacks und Wertsachen entwenden.

Nachdem ich alles gesehen hatte, nahm ich die erste Fähre zurück nach Mumbai und stand schon kurz nach ein Uhr Nachmittags wieder vor dem Gate of India.

Bevor ich wie geplant das Prince of Wales Museum aufsuchte, galt es meinen Hunger zu stillen. Dies tat ich in einem noblen Meeresfrüchterestaurant, nur wenige Gehminuten vom Museum entfernt.

Die außergewöhnliche Schönheit des  Museumsgebäudes habe ich gestern schon beschrieben. Nun trat ich ein. Das ausgesprochen freundliche Museumspersonal versorgte mit  Audioguide und Eintrittskarte. Sogar Fotografieren war erlaubt – für Indien eine Seltenheit. Zwei Stunden lang bestaunte ich die diversen Ausstellungsstücke: Buddhistische, hinduistische und jainistische Skulpturen, farbenfrohe Minuaturmalerei, alte Waffen, Elfenbeinschatullen, europäische Gemälde, tausend Schnupftabakfläschchen aus Jade, Bernstein und Glas, tibetische Bronzekunst, Numismatik, ausgestopfte Tiere, und, und, und. Die temporäre Ausstellung widmete sich eben dem Leben von Alice Boner. Wer alle meine Berichte gelesen hat, kennt sie noch von Varanasi, wo ich schon vor fast drei Monaten einige Werke der indienaffinen Schweizerin bestaunte. Alles in allem war das Museum von Mumbai (eigentlich nur eines von vielen dieser Stadt – aber man hat halt nicht für alles Zeit) eines der besten dieser Reise. Der Audioguide plagt sich allerdings ein bisschen zu sehr, als Person zu gelten. „Dieses Gemälde ist mein persönliches Lieblingsstück in dieser Galerie…“ „Treffen wir uns doch bei Nummer 15 wieder. Ich warte dort auf dich.“ Irgendwie schräg.

Nach drei Versuchen fand ich endlich einen Taxifahrer, der nicht überteuerte Preise nannte, sondern einverstanden war, seinen Kilometerzähler  einzuschalten. Von ihm ließ ich mich zum Marine Drive bringen, Mumbais kilometerlanger Uferpromenade, die das Arabische Meer überblickt. Es ist ein beschaulicher Ort. Auf der Mauer zum Meer sitzen in regelmäßigen Abständen Liebespärchen. Man findet aber auch StudentenInnen und SchülerInnen, die die Mathe-Hausübung besprechen. Wie überall, wo Inder sind, patrouillieren Tee- und Wasserverkäufer. Ich setzte mich ebenfalls auf die Mauer, sah die Gebäude entlang des Ufers allmählich im Dunst verschwinden, beobachte den Sonnenuntergang und las in der Mahabharata das erfreifende Kapitel von Bhishmas Tod. Diese Stunde am Ufer des Arabischen Meers bei Mumbai war auch ein Abschiednehmen vom Meer. Auf dieser Reise würde ich es jedenfalls nicht mehr sehen. Überhaupt weiß ich nicht, wann ich das Meer – außer vom Flugzeug aus – wieder sehen werde. So ein Abschied vom Meer hat immer etwas Melancholisches an sich. Die Sonne verschwand am Horizont.

Eine Stunde später saß ich in der noblen Harbour Bar des Taj Mahal Palace Hotels. Es war gar nicht so leicht gewesen, diese im riesigen Hotel zu finden. Die prunkvolle Lobby und die glitzernden Korridore und Stiegenhäuser sind ein wunderschönes Labyrinth. Fotos an den Wänden zeigen prominente Besucher des Hotels, von John Lennon und Yoko Ono bis Obama. Die Bar selbst ist vergleichsweise langweilig. Jene im alten Kolonialhotel von Pnom Penh in Kambodscha hatte mich damals weit mehr beeindruckt. Spannend war es allerdings in die Gespräche an den Nebentischen reinzuhören. Ich saß  inmittenn wohlhabende Exilsyrer, sich auf Englisch unterhaltender High Society Inder und amerikanischer Manager, die mit einem Typen aus Malaysia besprachen, ob sie irgendein Business nun mit Singapur oder doch mit den Chinesen abschließen sollten.

Man merkte am Klientel, dass ich mich hier in der exquisitesten Bar Indiens befand. Die Cocktails sind fast so teuer wie zu Hause in Kufstein im Stollen. Ich hatte einen Bombay Blazer. Der Kellner mixte direkt an meinem Tisch. Es war eine beachtliche Feuershow, wie er den brennenden Gin von einem Becher in den andern und schließlich in mein Cocktailglas goss, wo das Feuer erlosch.

Per Taxi gelangte ich schließlich zurück ins nächtliche Gassengewirr des muslimischen Viertels, eine ganz andere Welt. Auf dem Weg war mir ein weiterer Blick auf den strahlend erleuchteten CST vergönnt. Herrlich.
Ich erreichte das Hotel. Es war ein langer Tag, der müde macht. Der Gedanke, morgen hauptsächlich in Zügen zu sitzen, war nicht unangenehm.

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Tag 88 – Maharashtra

So ein reiner Reisetag (ganz ohne Weltkulturerbe) ist zwischendurch sehr entspannend – selbst dann, wenn man auf fahrende Züge springen muss. Der Vormittag galt der Aufgabe Mumbais Vorortbahnhog Lokmanya Tilak Terminus zu erreichen. Natürlich kann man einfach in ein Taxi steigen. Viel abenteuerlicher (und billiger) ist es aber, die S-Bahn zu nehmen. Ich habe mich wohl an manchen Stellen dieser Berichte aus Indien negativ über Delhi geäußert. In einem Punkt ist Indiens chaotische Hauptstadt den anderen Metropolen des Landes aber weit voraus. Delhis Nahverkehr, die Metro, ist topmodern, übersichtlich und sauber. Mumbais S-Bahn ist das Gegenteil. Was für ein Chaos! Für den Neuling ist es recht schwierig herauszufinden, welcher Zug wohin fährt. Ich benötigte ein paar Anläufe um ans gewünschte Ziel zu gelangen. Ohne Lautsprecherdurchsagen und Liniennetzkarten in den Zügen ist es beinahe unmöglich zu wissen, ob man sich noch auf der richtigen Strecke befindet. Einmal stieg ich aus, nur zum Zweck meine Position zu bestimmen. Ein andern Mal wollte ich aussteigen, scheiterte aber an der Flut von Indern, die in den noch fahrenden Zug sprangen und deren Strom nicht versiegte, bevor kein Platz zum Atmen mehr blieb. Etliche Passagiere hingen auch an der Außenseite des Zuges. Bei der nächsten Station gelang mir das Aussteigen dann doch. Ich fuhr eine Station zurück, stieg noch einmal um und erreichte schließlich jene Haltestelle, von wo ich in drei Gehminuten zum Lokmanya Tilak Terminal gelangen konnte. Es war ein recht unansehnlicher Bahnhof, doch nachdem man den CST gesehen hat, ist wohl jeder Bahnhof irgendwie unansehnlich. In Bälde saß ich im Zug und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft des Bundesstaates Maharashtra. Vorbei war es mit den feuchten, tropischen Wäldern. Hier herrschte trockeneres Steppen- und Savannenklima. Besonders ansprechend war die Gegend rund um den Ort Igatpuri. Die schroffen Hügel erinnerten mich einmal mehr an Arizona. Kurz sah ich sogar einen Regenbogen. Als ich einem der vielen durch den Zug patrouillierenden Händler einen Becher Tee abkaufte, wollte der Mann mein Geld nicht nehmen, solange ich es ihm mit der linken Hand reichte. Natürlich war mir bekannt, dass es in Südasien üblich war, Geld und andere Sachen immer mit der rechten Hand zu reichen, während die linke Hand den rechten Ellbogen berührt. Vor allem in Nepal hatte ich mich auch stets daran gehalten. Da ich in Kolkata, Mumbai, Goa und Kerala aber gemerkt hatte, dass es den Leuten recht egal war, hatte ich es mir wieder abgewöhnt. Das Beharren des Teehändlers, nur mit rechts zu empfangen, faszinierte mich. Hat man den Tee erst einmal ausgetrunken, stellt sich das übliche Becherproblem. Wohin mit dem Müll? Bisher habe ich noch auf keinem indischen Zug einen Abfalleimer entdeckt. Für die Inder ist es reinste Selbstverständlichkeit, den auf Bahnreisen anfallenden Müll einfach aus dem Fenster zu werfen. Viel schwieriger, als Mülleimer in Zügen einzuführen, wäre es wohl, die Leute dazu zu bringen, diese auch zu nützen. Auf müllübersäten öffentlichen Plätzen sieht man recht häufig fast leere Mülleimer, auf denen ein flehender „Use me“ Schriftzug zu lesen ist. Jedenfalls sahen mich die Leute im Zug einmal mehr recht befremdet an, als ich den leeren Pappbecher und später eine leere Plastikflasche in meinem Rucksack verstaute. Am späten Nachmittag erreichte ich den Bahnhof von Manmad. Dieser Ortsname sagte mir zu. Ich hatte hier ein paar Stunden Aufenthalt, bevor die Reise weiterging. Obwohl ich nun schon lange in diesem Land bin, ist es immer noch befremdlich, wenn einem mitten auf dem Bahnsteig plötzlich ein Stier entgegen kommt. Kurz vor elf Uhr abends erreichte ich schließlich Aurangabad, das mir in den nächsten Tagen als Ausgangspunkt für die Erkundung der Höhlentempel von Ellora und Ajanta dienen sollte. Nach einem wohltuenden Spaziergang auf nächtlichen Straßen bar Gehsteig und Beleuchtung (Ich traf ein paar Rinder und Schweine.) erreichte ich das gesuchte Hotel und lag nach angenehmer Dusche schon bald im weichen Bett.

Tag 89 – Ellora

Die Höhlentempel von Ellora und Ajanta stehen beide auf der Liste des UNESCO Weltkulturerbes und gehören wohl zu den faszinierendsten Orten, die Indien zu bieten hat. Ellora befindet sich 28 km westlich von Aurangabad, Ajanta 104 km weiter nördlich. Es genügt keineswegs nur eine von beiden Stätten zu sehen. Beide Orte sind einzigartig. Während die Höhlen von Ajanta vom 2. vorchristlichen bis zum 6. nachchristlichen Jahrhundert gefertigt wurden, stammen jene von Ellora vom sechsten bis zum elften nachchristlichen Jahrhundert. Die  Kultstätten koexistierten nur ganz kurz. Die eine löste die andere ab. Elloras Aufstieg war Ajantas Untergang. Spannend ist vor allem die Frage, welcher Religion an beiden Orten gehuldigt wurde. Während alle Höhlen Ajantas buddhistische Motive zeigen, ist dies in Ellora nur bei den früheren Höhlen der Fall. Im siebten Jahrhundert begann der wesentlich ältere  Hinduismus sein triumphales Comeback gegen den damals dominanten Buddhismus und verdrängte ihn schließlich ganz. Zugleich kam es ab dem achten Jahrhundert zu einem kurzen jainistischen Zwischenspiel. Alle drei Religionen koexistierten anscheinend ein paar Jahrhunderte lang friedlich nebeneinander. Davon zeugen die Höhlen Elloras: 12 buddhistisch, 18 hindi, 5 jainistisch und davon viele aus der selben Zeit.

Während Ajanta vor allem durch seine teils zwei Jahrtausende alten, gut erhaltenen Fresken glänzt, besticht Ellora mit seinen Skulpturen, vor allem aber mit Höhle Nr. 16. Diese ist nämlich keine Höhle mehr, sondern die größte monolithische Skulptur der Welt. Doppelt so groß wie der Parthenon in Athen wurde hier ein riesiger Tempel aus der Felswand gehauen und mit detailreichen Gravuren und Skulpturen verziert. Nichts wurde gebaut. Alles ist aus dem selben Stein gehauen. Der Tempel, die Türme, der schwebende Steg, der Elefant. Von oben hat man sich in zwei Jahrhunderten Bauzeit langsam nach unten gegraben, hat 2 lakh Tonnen Stein beiseite geschafft und das, was blieb, wundersam verziert. Ein überwältigender Anblick.

Doch gehen wir chronologisch vor: Ich ließ mir per Zimmerservice ein gutes Frühstück bringen, nahm ein Tuktuk zum Busbahnhof und von dort einen Bus nach Ellora. Auf der Fahrt passierten wir das düstere Fort auf dem Hügel über Dalautabad. Mehr davon später. Ich erreichte Ellora und begann sogleich mit der Erkundung der Höhlen. Mehr oder weniger regelmäßig klaffen die oft schön verzierten Eingänge im Stein der sich von Nord nach Süd erstreckenden Felswand. Ich hob mir Nr. 16, den Höhepunkt des Tages, für später auf und begann mit den drei hinduistischen Höhlen gleich südlich davon. Der Begriff „Höhle“ vermittelt auch hier ein falsches Bild. Die bis zu dreistöckigen Säulenhallen mit all ihren kunstfertigen Gravuren und architektonischen Finessen laden zum Herumklettern ein. Die hinduistische Figurenwelt mit Shivas Tanz, Parvatis Dämonenbezwingung und anderen Motiven sind sehr viel lebhafter als die eher statischen Motive der buddhistischen Zeit. In der buddhistischen Höhlengruppe weiter südlich hat mich vor allem Höhle Nr. 10 begeistert. Das Rippengewölbe mit der großen Buddhaskulptur ist faszinierend. Schön ist auch der kleine Wasserfall der vom überhängenden Fels über den Höhleneingängen in die Tiefe stürzt.

Nachdem ich die fünfzehn Höhlen südlich davon erkundet hatte, kam „Cave 16“ an die Reihe, der Kailasa Tempel. Der Begriff Höhle ist, wie schon erwähnt, völlig fehl am Platz. Bevor ich die größte Monolithskulptur der Welt betrat, erklomm ich zuerst den Fels aus dem sie gehauen wurde.

32 Meter über dem ergrabenen Boden blickte ich auf die Türme, Säulen und Figuren der vom Stein befreiten Struktur. Wie genau geplant dieses Projekt gewesen sein musste. Kein Meißelschlag konnte rückgängig gemacht werden. Alles musste bei ersten Versuch stimmen. Über hundertfünfzig Jahre Bauzeit. Ob es wohl einen einzigen Architekten gegeben hat oder mehrere?

Viele der Gravuren im Tempel und an den Außenwänden zeigen Szenen aus Ramayana, Mahabharata und aus dem Leben Krishnas. Einiges kam mir sehr bekannt vor. Überall dieselben Geschichten. Erstaunlich.
Sehr schön sind auch die vielen Elefantenköpfe, die den Haupttempel verzieren und die Säulengalerie im Fels, die den Tempel umgibt.

Auch nördlich des Kailasa Tempels gibt es noch ein paar erstaunlich schöne Höhlentempel. Südlich von „Cave 29“ und den jainistischen Tempeln war der Pfad entlang der Felswand leider gesperrt. Mit ein bisschen Klettergeschick kommt man aber doch vorbei und erspart sich den Umweg entlang der Straße. Die etwas abseits gelegene jainistische Tempelgruppe weist einmal mehr faszinierende Gravuren auf. Beim Betrachten der diversen Motive wurde mir bewusst, wie wenig ich über diese eigenartige Religion weiß. Der Jainismus ist etwa gleich alt wie der Buddhismus. Im Unterschied zu diesem preist der Jainismus aber nicht den „Weg der Mitte“ als Pfad zum Seelenheil, sondern die radikale Askese. Hinzu kommt das Prinzip kompletter Gewaltlosigkeit, welches etwa auch fordert, vor den eigenen Füßen den Weg zu kehren, um keinen Käfer zu zertreten. Etwa 0.4% der Inder sind heute noch Jainisten, das sind immerhin an die fünf Millionen Menschen.

Von den vier jainistischen Tempeln im Norden Elloras nahm ich mir ein Tuktuk zurück zum Eingang, aß ein spätes Mittagessen und quetschte mich in einen vollen Jeep zurück nach Aurangabad. Aufgrund eines Verkehrsunfalls steckten wir recht lange im Stau. Dies ließ mir Zeit, um vom Fenster aus das nahe Fort von Daulatabad zu betrachten. Die Geschichte des Ortes ist hochinteressant. Im Jahre 1328 hatte der Sultan von Delhi die etwas verrückte Idee, seine Hauptstadt hierher, ins 1100 km weiter südlich gelegene Daulatabad zu verlegen. Delhis ganze Bevölkerung musste die weite Strecke (eher gezwungenermaßen) zurücklegen. Delhi wurde zur Geisterstadt. Nach einer Weile wurde allerdings klar, dass die Wasservorkommen rund um Daulatabad bei weitem nicht ausreichten. So mussten alle einmal mehr die weite Strecke zurück nach Delhi zurücklegen. Sehr beliebt war der Sultan nach dieser Aktion bei seinen Untertanen wohl nicht mehr.

Wieder Aurangabad spazierte ich ein wenig durch die weitläufige Stadt. Auch sie war geschichtlich nicht unbedeutend. Dreihundert Jahre nach dem Daulatabad-Debakel hatte Aurangzeb, der letzte bedeutende Moghulenkönig, seine Haupstadt von Delhi nach Aurangabad verlegt. Zahlreiche alte Stadttore erinnern an jene Zeit. Und dann ist da das Bibi-qa-Maqbara, das mich beeindruckte und amüsierte. Aurangzebs Sohn hatte hier wohl seinem Großvater, Shah Jahan, dem Erbauer des Taj Mahals, nacheifern wollen. Er hatte ihn gewissermaßen kopieren wollen, indem er jenes weltberühmte Mausoleum von Agra einfach noch einmal bauen ließ und zwar im Gedenken an seine verstorbene Mutter. Sein Vater hat ihm dann aber den Geldhahn zugedreht. Und so wurde aus dem Bibi-qa-Maqbara so etwas wie eine billigere Kopie des Taj Mahal. Über die genauen Unterschiede kann ich erst sprechen, wenn ich das Original gesehen habe. Dort ist wohl weit mehr aus Marmor gefertigt als hier. Beide Bauwerke sehen sich jedoch verblüffend ähnlich. Hätte man mich einfach hierher gebeamt und mir erzählt, ich stünde in Agra vor dem Taj Mahal, ich hätte es wohl geglaubt, auch wenn ich leicht enttäuscht gewesen wäre.
Nach einem bekömmlichen Mahl im Restaurant neben meinem Hotel legte ich mich schlafen.

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Tag 90 – Ajanta

Nachdem ich mir einmal mehr mein Frühstück aufs Zimmer hatte bringen lassen, verließ ich mein Hotel in Aurangabad endgültig und nahm den nächsten Bus nach Ajanta. Zweieinhalb Stunden später war ich dort. Ohne Probleme konnte ich meinen Rucksack bei den Sicherheitsleuten am Parkplatz  lassen. Ein Shuttle brachte mich zu den Höhlen.

Ajantas alte Tempelstätte hat zwei schöne Zugaben, die Ellora fehlen. Zum einen sind da die farbenfrohen Fresken an den Wänden, zum anderen die wunderschöne Lage in einer engen, hufeisenförmigen Schlucht. Etwa dreißig Höhlen, manche mehrstöckig, gibt es hier zu erkunden, alle davon buddhistisch. Staunend ging ich von Höhle zu Höhle. Obwohl es auch schöne Skulpturen gibt (darunter ein fünf Meter langer, liegender Buddha), sind die Fresken an Wänden und Decke das wahre Highlight. Darunter findet man solch farbenfrohe, detailreiche Wandgemälde wie Bodhisattva Padmapani, Maras Versuchung oderdas Wunder von Sravasti. Die emotionale Ausdruckskraft der Figuren darauf ist erstaunlich. Hebt man den Blick ein wenig weiter, entdeckt man wundersame Deckenmalereien. In Höhle Nr. 16 findet man schließlich das Fresko Die sterbende Prinzessin. Es zeigt vermutlich Sundari, die Gattin von Buddhas Halbbruder Nanda. Sie stirbt vor Gram, als sie erfährt, dass ihr Mann den Palast verlassen hat um von nun an ein Mönchsleben im Wald zu führen. Ein gewisser J. Griffiths (wer immer das auch sein mag) schrieb über dieses Bildnis: „Im Bezug auf Pathos und Emotion wird dieses Bild in der Geschichte der Kunst von nichts übertroffen. Die Florentiner hätten es besser gezeichnet, die Venezianer bessere Farben gefunden. Doch weder die einen noch die anderen hätten je diese Ausdrucksstärke erreicht.“
Naja, das ist vielleicht etwas übertrieben.

Vor fast allen Höhlen, muss man sich übrigens die Schuhe ausziehen, um eingelassen zu werden. Nachdem ich sie alle erkundet hatte, genoss ich ein gutes Gemüsecurry im nahen Restaurant. Ich kam dabei mit einem freundlichen Franzosen Mitte siebzig ins Gespräch – natürlich auf Französisch. Er war vor vierzig Jahren schon einmal hier gewesen und hatte sich nun den Wunsch erfüllt, einmal noch die Höhlen von Ajanta zu sehen. Sie gehörten zu den beeindruckendsten Orten, die er in seinem Leben gesehen hatte.

Nach dem Essen erklomm ich noch den Hügel gegenüber den Höhlen auf der anderen Seite des Flusses. Die Aussicht von dort auf die Nordwand der Schlucht mit ihren wunderschönen Eingangsportalen ist fantastisch. Im Südwesten kann man das grüne Tal überblicken, das in See und Wasserfall endet. Ein schöner Ort, um zu verweilen, zu lesen, zu denken – wenn da nur nicht dieser lästige Souvenirverkäufer wäre. Ein paar indische Touristen wollten sich wie üblich mit mir fotografieren lassen. Ich sträubte mich nicht.

Per Shuttlebus ging’s zurück zur Straße. Dort wartete ich eine Weile auf den nächsten Bus nach Norden und plauderte indes mit ein paar gesprächigen Muslimen aus der Gegend. Nette Leute. Der volle Bus brachte mich binnen zwei Stunden nach Jalgaon. Dort machte ich es mir am Bahnhof bequem, aß zu Abend und wartete auf meinen leicht verspäteten Zug nach Nagpur, weit im Nordosten von Maharashtra.

Der Zug kam, ich fand meine Koje umgeben von kritisch blickenden älteren Inderinnen und schlief schon bald ein.

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Tag 91 – Madhya Pradesh

Es gibt gewiss Spannenderes, als den ganzen Tag lang in vollen Bussen durch den regnerischen Nordosten von Maharashtra und den trockeneren Südosten von Madhya Pradesh zu fahren. Mit Mietauto hätte die Strecke des Tages wohl mehr Spaß gemacht.

Immerhin habe ich es geschafft auf dieser Reise nur zwei volle Tage in Bussen zubringen zu müssen. Der erste davon war vor einer gefühlten Ewigkeit, als ich im Süden Nepals von Janakpur nach Ilam reiste.  Der zweite war heute.

Mein Zug erreichte das recht uninteressante Nagpur im Morgengrauen. Mit etwas Mühe fand ich einen Bus nach Norden. Schon in den letzten Tagen war mir aufgefallen, dass die Englischkenntnisse der Leute wesentlich schlechter sind, als im Süden. Nun in Nagpur, und noch mehr in Madhy Pradesch, wurde die Kommunikation noch schwieriger. Nicht einmal einer von zehn spricht hier noch Englisch. Straßenschilder und Buspläne in lateinischen Buchstaben gibt es selten bis kaum. Hindi dominiert.

Der erste Bus des Tages brachte mich von Nagpur über die Grenze des Bundesstaates Madhya Pradesh bis nach Seoni. Ich war überrascht über  die guten Straßen, ähnlich einer europäischen Autobahn. Von Seoni aus setzte ich die Fahrt auf der Landstraße nach Nordosten in einem fürchterlich überfüllten, fürchterlich langsamen Bus fort. Das Ziel war Mandla. Eintönige Landschaft und kleine Dörfer glitten vor dem Fenster vorbei. Neben dem Motorenlärm und den lautstarken Fahrgästen wird man in den meisten Bussen hier auch ständig mit der Lieblingsmusik des Busfahrers beschallt. In der Nähe der Lautsprecher ist diese besonders unerträglich. Wenn einem dann noch zusätzlich ein schreiendes Kleinkind gegenüber sitzt, wird es so richtig anstrengend.

Dreißig Kilometer vor Mandla konnte ich in einen anderen Bus wechseln, der direkt zum Kanha National Park fuhr, dem Ziel dieses Tages. Bei hereinbrechender Dunkelheit und einmal mehr lauter Musik rasten wir auf der nun einspurige Straße nach Osten. Der Bus setzte mich in einem Dorf vier Kilometer vor Khatiya Gate, dem Eingang zum Nationalparks ab. In dessen Nähe befand sich auch das Hotel meiner Wahl. Nach einem langen Tag des Eingezwängtseins in engen Bussen hätte ich die verbleibende Strecke gerne zu Fuß  zurückgelegt. Die Dorfbewohner hielten mich aber davon ab und warnten vor Leoparden im dunklen Wald. Ein Imbisstandbesitzer rief den
Manager des Hotels an und dieser holte mich ab. Ein sehr freundlicher Typ mit sehr gutem Englisch.

Nach so einem Tag kommt man nur zu gern in einem Hotelzimmer an. Auch die Paneer-Gerichte im kleinen Hotel-Restaurant schmeckten hervorragend. Nur die Kälte machte mir zu schaffen. Mit Sonnenuntergang waren die Temperaturen weit unter zehn Grad gefallen. Ich hüllte mich in warme Decken und schlief lang und tief.

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Tag 92 – Motel Chandan

Es war ein Tag, an dem ich gar nichts tat. Ich saß in der Sonne, las und aß, schrieb meine Reiseberichte und sah dabei zu, wie Vögel vorbeiflogen und Rinder vorüberzogen. Der grüne Garten meines Hotels bot wunderbar Raum zur Erholung von den Strapazen des gestrigen Tages. Er bot auch WLAN. So hatte ich Zeit und Gelegenheit, das Geschehen der Welt zu verfolgen. Außerdem kam ich dem Ende der Mahabharata schon sehr nahe. Ansonsten gibt es nichts zu erzählen.

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Tag 93 – Kanha National Park

Kurz vor sechs Uhr morgens verließ ich mein Zimmer und setzte mich in den eiskalten dachlosen Jeep. Über mir glänzten noch die Sterne. Der Becher Tee, den ich trank, während mein Fahrer die restlichen Einlasspapiere ausfüllte, war äußerst wohltuend. Kurz vor sieben ging es dann los. Die Tore öffneten sich und wir fuhren in den 940 Quadratkilometer großen Kanha National Park. Im Jeep waren wir zu dritt. Mein Fahrer, mein Guide und ich.

Im Licht der Morgendämmerung fuhren wir durch schöne Mischwälder und über weite Grasflächen. Gelegenheit hielten wir und blickten tigersuchend umher. Auch die Geräusche waren wichtige Indizien, hatten doch viele der gejagten Tiere ihre speziellen Warnrufe für nahende Tiger und Leoparden. Schön war das Licht der Sonne zwischen den Bäumen. Schön war es auch zu sehen, wie der Morgennebel sich lichtete. Schön war es zu fühlen, wie die Welt wieder wärmer wurde.

Wir sahen viel. Am zahlreichsten waren die kleinen, gefleckten Axishirsche. Interessant ist, dass diese sich gerne unter Bäumen aufhalten, auf denen Affen herumturnen. Diese werfen gelegentlich ein paar schmackhafte Blätter aus der Höhe hinab. Eine Weile beobachten wir diese Zwischenspiel.
Ungleich beeindruckender als die Axishirsche fand ich die großen Sambarhirsche (neben Elch und Rentier die größte Hirschart), welche majestätisch über die Wiesen stolzierten. Die kleinen Muntjaks konnte man immer wieder einmal hören, aber nicht sehen. Ihr Ruf klingt wie ein Bellen. Daher nennt man sie auf Englisch auch „barking deer“. An einer Stelle begegneten wir einer Gruppe von Hochlandbarasingas. Diese Spezies gibt es nur mehr im Kanha Nationalpark. Nahebei lagen zwei Schakale faul im Gras. Ein Höhepunkt der Safari kam, als wir plötzlich einen ausgewachsenen männlichen Gaur direkt neben der Straße im Wald bemerkten. Drei Minuten lang sahen wir dem riesenhaften Tier beim Kauen zu. Da es hier keine wilden Elefanten gibt, sind Gaure die größten Säugetiere von Kanha. Auch viele Lemuren und ein paar Eulen konnten wir erspäen. Beindruckend waren auch die vielen riesenhaften Termitenhügel.

Und die Tiger? Die hielten sich leider verborgen – auch wenn Zeichen ihre Gegenwart verrieten. Einmal sahen wir frische Spuren von Tigertatzen im Schlamm neben der Straße, einmal Kratzspuren in der Rinde eines Baumes. Am nähesten kamen wir einem Tiger jedoch, als plötzlich der Warnruf der Axishirsche erscholl. Wir waren gerade beim Gaur und fuhren nun schnell zurück zu der nahen Stelle, wo wir vorhin eben eine Gruppe Hirsche gesehen hatten. Sie waren fort. Und der Tiger, der sie verjagt hatte, war auch nirgends mehr zu sehen.
Jedenfalls war es auch ohne Tigersichtung ein schönes Safarierlebnis.

Gegen elf Uhr vormittags war ich zurück im Motel Chandan, genoss noch ein gutes Paneer-Gericht und plauderte mit einem Pärchen aus London, das nach der Rückkehr in die Heimat gemeinsam Schauspiel studieren wollte. Sie hatten gestern und heute ihr Tigerglück versucht, beide Male erfolglos. Auch einer Gruppe Inder war es so ergangen. No tiger. Kurz nach Mittag stieg in den Bus nach Jabalpur.

Die etwa fünfstündige Fahrt erwies sich als ausgesprochen kurzweilig, nicht wegen der Strecke, sonder aufgrund meines Sitznachbarn, einem neunundzwanzigjährigen Mann namens Pankaj aus Patna im berüchtigten Bundesstaat Bihar. Binnen fünf Stunden ergründeten wir die Probleme der Gegenwart und verglichen unsere Weltanschauungen sowie Politik und Gesellschaftsstruktur unserer Heimat.

Das überraschende war, wie einig wir uns waren und wie sehr unsere Weltanschauung sich glich. Ich fand in Pankaj einen modern und kritisch denkenden Atheisten und Humanisten ersten Ranges vor, welcher mit der Utopie einer geeinten Menschheit liebäugelt. Pankaj hatte einen Master in – ich weiß nicht mehr was – und arbeitete seit ein paar Jahren für eine lokale Regierungsbehörde in Bihar. Als ich ihn mit dem schlechten Ruf seines Bundesstaates konfrontierte (Gewalt gegen Frauen, Gewalt zwischen Kasten, Überfälle auf Touristen, Armut, mangelnde Hygiene, etc.), gab er der korrupten Politik vergangener Jahrzehnte und dem Kastensystem die Schuld. Letzteres sei in Bihar noch stärker verankert als sonst wo in Indien. Seit dem letzten Regierungswechsel befinde sich Bihar aber auf dem steilen Weg der Besserung und habe nach Gujarat das zweithöchste Wirtschaftswachstum in Indien. Speziell Patna entwickle sich zur modernen Metropole. Man baue sogar schon an einer U-Bahn.

Stolz erzählte Pankaj, dass es in seiner Familie schon zwei kastenübergreifende Heiraten gegeben habe. Bei allem Unglauben und aller Weltoffenheit war Pankaj dennoch tief verstrickt in die sozialen Zwänge seiner Heimat. Irgendwie tat er mir leid. Er wusste jetzt schon, dass er im Oktober heiraten würde. Er wusste aber nicht wen. Dies würden seine Eltern und die Eltern einer infragekommenden Braut entscheiden. Gespräche liefenn. Er selbst müsse die Entscheidung im Nachhinein akzeptieren. Obwohl Pankaj klar sagte, dass ein selbstständiges Zueinanderfinden zweier Menschen besser sei, schien er über sein Los nicht im geringsten betrübt. Auf sich allein gestellt würde er wohl keine finden, meinte er. Er sei nicht gut in diesen Dingen. Praktisch also, dass seine Eltern das für ihn erledigten. Naja.

Jedenfalls lud mich Pankaj dazu ein, ihn und seine noch unbekannte Frau bei meiner nächsten Indienreise besuchen zu kommen. Wir tauschten whatsapp  Kontaktdaten aus. Falls ich auf meiner verbleibenden Reise in irgendwelche Schwierigkeiten geraten sollte, könnte ich mich jederzeit an ihn wenden. Er würde das regeln. Ein wertvoller Kontakt.

Es war schon dunkel, als wir in Jabalpur ankamen. Pankaj verließ den Bus am Bahnhof. Wir verabschiedeten uns herzlich. Dann begab ich mich auf die Suche nach einem Hotel.

Der Verlust meines Kompass (Er war mir höchstwahrscheinlich in Alt-Goa aus der Tasche gerutscht.) bewirkte, dass ich in die falsche Richtung lief und – da das im Reiseführer gelobte Hotel  nicht auftauchen wollte – eben ein anderes nahm. Es war ja nur für eine Nacht. Leider erwischte ich eine äußerst dürftige Unterkunft. Es war eiskalt in dem Zimmer. Die Temperatur lag nachts nur mehr knapp über dem Gefrierpunkt. Trotz der Kälte plagten mich die Moskitos. Eine schreckliche Nacht. Wenigstens hatte ich mir zuvor ein richtig gutes Abendessen gegönnt.

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Tag 94 – Madhya Pradesh

Sobald es tagte, floh ich aus meiner eiskalten Unterkunft und marschierte zum modernen Bahnhof von Jabalpur. Dabei kam ich an ein paar schönen Moscheen und am imposanten Uhrturm der sehr modern anmutenden Stadt vorüber.

Ohne Wartezeit konnte ich gleich den nächsten Zug nach Satna nehmen. Der am Bahnhof erstandene Kaffee und die Kekse waren mein Frühstück. Vier Stunden lang ließ ich mich auf Schienen nach Norden tragen. Dann gab’s ein gutes Thali am Bahnhof von Satna. Per Fahrradriksha gelangte ich zum Busbahnhof und saß schon bald im Bus nach Panna. Während wir durch die recht dünn besiedelte Landschaft fuhren, plauderte ich ein wenig mit dem alten, freundlichen Busschaffner. Sein Englisch war recht brüchig, doch ausreichend. Er lachte laut auf, als ihm erzählte, dass ich vier Monate alleine in Indien unterwegs war, ohne hier jemanden zu kennen. Wir redeten über meinen Beruf. Er gratulierte mir zu meinem PhD. (Im Unterschied zu Österreich weiß hier auch jeder gebrochen Englisch sprechende Fahrkartenkontrolleur was ein PhD ist.)

In Panna wechselte ich den Bus und ließ mich die letzten eineinhalb Stunden nach Khajuraho bringen. Ein freundlicher Herr, der denselben Weg hatte, teilte sich eine Packung Erdnüsse mit mir. Da der Bus nur bis zum Bahnhof von Khajuraho fuhr, welcher neun Kilometer außerhalb liegt, musste ich mir für das letzte Stück ein Tuktuk nehmen. Der Fahrpreis war verdächtig billig, doch mein Misstrauen war ausnahmsweise unbegründet. Weder wollte mich der Fahrer in ein bestimmtes Hotel bringen, noch mir irgendwelche Shops zeigen. Ich kam genau dorthin, wo ich hinwollte, ins von Lonely Planet empfohlene Hotel Zen.

Der Empfang war sehr angenehm. Gutes WLAN, heißes Wasser, ein angemessener Preis – welch Unterschied zur letzten Unterkunft. Bei meiner Ankunft servierte man mir sogar gratis Zitronentee und Früchte. Selten war eine heiße Dusche so erfrischend. Zum Abendessen gab’s in einem nahen Restaurant eine ausgezeichnete Pizza. So zur Abwechslung wieder einmal westlich zu essen, war mir eine Freude.

Zurück im Hotel eröffnete mir der Boss, dass ich am Abend des nächsten Tages ein gratis Thali bekomme. Ich mag mein Hotel.

Das Hauptereignis des Tages war aber, dass ich irgendwo zwischen Satna und Panna nach vielen Wochen endlich das Ende der Mahabharata erreichte. Obwohl die ethische Gesamtaussage des Epos klar abzulehnen ist, lässt sich der weltliterarische Wert dieses Werkes nicht leugnen. Es war mir ein überraschend großes Lesevergnügen. Spannend und facettenreich entführt die Mahabharata in eine längst vergangene (und teils nie gewesene) Zeit. Es ist erstaunlich, dass Griechenland und Indien im gleichen Zeitalter einander so ähnliche Epen hervorbrachten wie Ilias und Mahabharata. Da gibt es so viele Parallelen. Faszinierend.

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Tag 95 – Khajuraho I

Die wunderschöne Tempellandschaft von Khajuraho entstand während der Herrschaft der Chandela Könige von anno 950 bis 1050. Was diese Herrscher hier binnen nur hundert Jahren schufen, zählt zurecht zu den schönsten Schätzen, die Indien zu bieten hat. Dank der entlegenen Lage von Khajuraho (heute ein kleines 22,000 Einwohner Dorf) wurden die Tempel von späteren muslimischen Eroberern nicht zerstört und überdauerten nahezu unberührt die Jahrhunderte. Berühmt sind sie vor allem für ihre kunstvollen Gravuren, die Kriegsszenen, Alltagsszenen, vor allem aber auch viel Sex und Erotik zeigen, ganz ähnlich dem Sonnentempel von Konark.

Nach einem bekömmlichen Frühstück mit Tempelblick, betrat ich schon früh das umzäunte Gelände der westlichen Tempelgruppe. Ein gut gemachter Audioguide führte mich mit Pausen fast drei Stunden umher. Es wird nie langweilig. Die Kunstfertigkeit der Erbauer und die Wahl der Motive ist erstaunlich. Gegenüber einem kleineren Schrein, der Vishnu in seiner dritten Inkarnation als Wildschwein zeigt, befindet sich der mächtige Lakshmana Tempel. Rund um den Sockel findet man allerhand. Kriegsszenen mit Elefanten und Pferden, die explizite Darstellung einer Orgie zu neunt, zwei Männer, die Sex mit einem Pferd haben, und, und, und. Weitaus kunstfertiger sind aber die Gravuren an den Außenwänden des Tempels selbst. Die grazilen Figuren der tanzenden Surasundaris mit ihrem detailliert dargestellten Körperschmuck sind ein Blickfang. Das Schönheitsideal der damaligen Zeit glich anscheinend dem heutigen. Doch auch die Darstellung der verschiedenen Götter, vor allem des tanzenden Ganeshas umgeben von glücklichen Pärchen, sind faszinierend. Im Inneren des Tempels findet man schließlich den Hauptschrein, wo Vishnu durch die diversen Lichtschächte zauberisch beleuchtet wird.

Vom Lakshmana Tempel hat man gute Sicht auf den eher simplen Matangesvara Tempel außerhalb der Umzäunung. Dieser wird als einziger Tempel hier noch aktiv zur Shiva-Verehrung genutzt. Glockenläuten und Gesänge drangen aus dem Hauptschrein während einzelne Shivaverehrer die steilen Stufen erklommen.

Weiter westlich findet man den größten und schönsten Tempel von Khajuraho, den Shiva geweihten Kandariya-Mahadev Tempel. Es gibt keine Stelle seiner Außenwand, die nicht von Statuen und Ornamenten verziert ist. Die Gestaltung des höchsten der vier verbundenen Türme, die den Tempel bilden, zieht den Blick immer wieder zu sich herauf.
Die meist einen Meter großen 872 Statuen ringsum zeigen faszinierende Szenen einer verlorenen Welt. Etwa die Frau, die sich von ihrer Zofe einen Dorn aus der Fußsohle ziehen lässt; der Mann, der mit einem Stock einen Affen vertreibt, während eine Dame sich ängstlich an ihn schmiegt; das ausgelassene Pärchen, das sich unter einem Baum betrinkt, in welchem Vögel singen; das Mädchen, das träumerisch lächelnd einen Liebesbrief schreibt; die Frau, die weinend flieht, als sie ihren Geliebten mit einer anderen erwischt; die sich schminkende Frau mit dem Spiegel; die Flötenspielerin und noch so viel mehr. Zusätzliche sieht man natürlich auch viele fantasievolle und sehr akrobatische Sexstellungen, etwa eine unmöglich anmutende Handstandposition. Meine Lieblingsgravur von Khajuraho ist jene eines Elefanten. Mehr als alle anderen drückt sie den Humor der Künstler von damals aus. Unterhalb der großen Statuen des Kandariya-Mahadev Tempels gibt es rundum eine lange Folge von Elefantenköpfen, welche alle streng nach vorn blicken – nur einer nicht. Ein einziger Elefant blickt freundlich lächelnd nach links, wo ein menschliches Pärchen gerade Sex hat. Dieser lachende Elefant, der zugleich Natürlichkeit und Harmlosigkeit all dessen ausdrückt, erscheint mir eine wunderbare Verdeutlichung der Anschauungen, die hier vor tausend Jahren herrschten.

Unter den vielen informativen und amüsanten Bemerkungen, die der Audioguide von sich gab, amüsierten mich vor allem jene, in denen aus den Briefen und Aufzeichnungen der britischen Entdecker zitiert wurde. Für diese viktorianisch-prüden Gentlemen des neunzehnten Jahrhunderts waren die erotischen Motive auf den Tempeln von Khajuraho ein wahrer Schock. Herrlich, wie sie sich im Dünkel überlegener Moral kritisch über die Könige der Chandela Dynastie äußern, die den moralisch verkommenen Baumeistern so unsägliche Freiheiten erlaubt hätten. Die Tempel von Khajuraho werden als obszöner und zutiefst unanständiger Schandfleck bezeichnet. Man hat das Gefühl, dass jene britischen Entdecker am liebsten alles niedergerissen hätten.

Eine Skulptur, die rund um die westlichen Tempel mehrfach zu finden ist, ist jene eines mythischen Tieres, halb Menschen und halb Löwe, das einen Löwen streichelt. Eine dieser Skulpturen bewacht den Eingang zum kleinen Mahadeva Tempel gleich neben dem Kandariya-Mahadev Tempel.

Der Devi Jagadamba Tempel daneben ist Kali geweiht und weist neben den üblichen erotischen Motiven auch einige schaurige Skulpturen der Totenkopfgöttin auf. Der dem Sonnengottt Surya (derselbe wie in Konark) geweihte Chitragupta Tempel weiter nördlich und der Vishvanath Tempel östlich davon sind ebenfalls beachtliche Bauwerke mit einer Vielzahl von interessanten Skulpturen. Mit den erstgenannten Tempeln können sie aber nicht mithalten. Bemerkenswert ist der schöne Nandischrein gegenüber des Vishvanath Tempels mit seinem riesigen Stier.

Genug Tempel für den heutigen Tag. Die östliche und südliche Tempelgruppe konnten bis morgen warten. Die verbleibende Tageshälfte läutete allerdings schon das Programm für morgen ein. Als Tourist braucht man in Khajuharo starke Nerven. Die konstante Aufmerksamkeit von Händlern, Trickbetrügern und Tuktukfahrern ist extrem. Läuft man die Hauptstraße entlang kommt man aus dem „No, no, no“ Sagen und Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Das konstante „Hey, my friend! “ der ein Gespräch suchenden Betrüger geht einem mit der Zeit so richtig auf den Geist. Unmöglich ist es, zu beurteilen, wem man hier trauen kann und wen nicht. Manoj überzeugte mich dann doch.

Ich hatte nach dem Tempelbesuch gerade mit Blick auf den See von Shiv Sagar gespeist und war auf dem Rückweg zum Hotel. Da sprach mich der neunzehnjährige Manoj an und bot mir eine Tour zu den östlichen Tempeln ins alte Dorf von Khajuraho an. Wie üblich wollte ich ihn abwimmeln. Er wollte aber kein Geld für seine Dienste, sondern etwas ganz anderes: Worte. Er zeigte mir ein sauber geführtes Notizbuch mit einer Liste englischer Worte. Von mir wollte er nun die Aussprache der deutschen Entsprechungen wissen. Ziel war natürlich das nötige Know-How, um in Zukunft leichter das Vertrauen deutschsprachiger Touristen zu gewinnen. Dennoch reizte mich die Vorstellung, in Worten zu bezahlen. Das machte irgendwie Spaß. Wir einigten uns auf eine dreistündige Vormittagstour durch Dorf und östliche Tempellandschaft im Austausch für zweihundert Wörter und ein paar Sätze und vereinbarten einen Treffpunkt für morgen früh. Das versprach, interessant zu werden.

Zurück im Hotel genoss ich eine einstündige Ayurveda-Massage. Dies hatte ich schon am Vorabend mit dem hoteleigenen Masseur vereinbart. Der Mann schien authentisch und der Preis von sieben Euro die Stunde war deutlich billiger als ich es von diversen Angeboten in Kerala kannte. Wieso also nicht? Der Masseur hatte außerdem ein paar spannende Geschichten auf Lager, die man glauben kann oder nicht. Seine Ausbildung habe er im Süden Keralas erhalten, gar nicht so weit weg von Varkala. Er arbeite seit fünf Jahren im Hotel Zen. Davor habe er ein halbes Jahr in Paris gelebt! Er hat dort einen Freund, der Taxifahrer ist. Da die Wohnungskosten in Paris natürlich viel zu hoch für ihn waren, haben sein Freund und er ein halbes Jahr lang im Taxi übernachtet. Im Massagestudio, in dem er in Paris gearbeitet hat, habe man für eine einstündige indische Aryurveda-Massage etwa einhundert Euro verlangt, wovon er selbst recht wenig gesehen hat. Anscheinend bekam ich hier für sieben Euro denselben Service, wie Leute in Paris vor fünf Jahren für hundert Euro.

Mir fehlt die Expertise, um die Qualität der Massage selbst zu beurteilen. Sie war jedenfalls mindestens so gut, wie jene von Kambodscha und Thailand vor fünf Jahren und vielleicht nicht ganz so gut, wie jene in Laos. Sehr entspannend jedenfalls. Und irgendwelche Aryurvedaöle gab’s auch. Davor und dach spendierte mir das Hotel noch einmal gratis Früchte und Zitronentee. Ich versprach einen lobenden Eintrag auf Tripadviser zu schreiben. In ein paar Monaten wird der Masseur übrigens heiraten. Da seine Eltern noch in Verhandlungen mit den Eltern infragekommender Bräute sind, kennt auch dieser Inder seine Braut noch nicht.

Etwas später kaufte ich mir den anscheinend einzigen Schlafsack, den es in ganz Khajuraho zu finden gab. Die Nächte waren einfach zu kalt geworden und die Decken in den Hotels reichten oft nicht aus. Zudem standen mir auch noch einige nächtliche Zugfahrten bevor. Nachdem die ersten drei Läden nichts dergleichen im Angebot hatten, führte mich ein vierter Ladenbesitzer in Laden Nummer fünf. Dessen Besitzer verschwand für fünf Minuten im Obergeschoss und kehrte schließlich mit einem modernen Schlafsack zurück, der genau meinen Vorstellungen entsprach. Schwarz war er auch. Ich konnte den Preis auf ein Niveau herunterhandeln, das wohl leicht unter dem heimischen Verkaufspreis lag. Ein guter Kauf. Kein Frieren mehr. Angenehme Nächte.

Wie am Vortrag angekündigt bekam ich abends im Hotel gratis Thali. Bei Kerzenschein im Garten mundete das Mahl. Hier kam ich dann mit Ranej ins Gespräch, der anscheinend auch für das Hotel arbeitete, halbtags auch am Flughafen. Er lud mich für den morgigen Abend zu sich und seiner Familie in sein Haus im Dorf südlich der Tempel ein. Sonnenuntergangssicht vom Hausdach, „organic food „, Dorfidylle. Und der Preis von alledem? „No money. It depends on your heart.“ Das klang verdächtig, sogar sehr verdächtig. Dennoch: ich hatte für morgen Abend noch nichts vor. Und der Umstand, dass Ranej mit meinem freundlichen Hotel afiliiert war, minderte das Risiko. Ich willigte ein und wir vereinbarten ein Treffen um vier.

Gespannt, was die beiden Termine des nächsten Tages bringen würden, legte ich mich im warmen Schlafsack zur Ruh.

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Tag 96 – Khajuraho II

Nach passablem Frühstück im Hotel traf ich mich mit Manoj. Während er mich per Motorrad zu den südlichen Tempeln brachte, erzählte er mir ein bisschen über die Situation der Dorfbewohner in Khajuraho. Anscheinend war es so, dass diese kaum vom Weltkulturerbe auf ihrem Boden profitierten. Die meisten Hotelbesitzer kämen aus den Städten. Das Eintrittsgeld der westlichen Gruppe flösse direkt an die Regierung. Das Dorf sähe nichts davon. Manoj sprach überraschend gutes Englisch. Als ich ihn danach fragte, gab er an, es auf der Dorfschule gelernt zu haben.

Wir erreichten den Duladeo Tempel, welcher in kleinerem Ausmaß Ähnliches bietet, wie die Tempel der westlichen Gruppe. Weiter ging’s zur Gruppe der jainistischen Tempel, welche ähnlich den jainistischen Höhlentempeln von Ellora besonders schöne Gravuren aufweisen. Der Parsvanath und der Adinath Tempel zeigen beide auch viel Ähnlichkeit zu den hinduistischen Tempeln. Immer noch aktiv ist der moderne Shanti Tempel mit seiner fast fünf Meter großen Adinath Statue im Hauptschrein. Interessant, dass man bei den Jainisten nicht nur Schuhe sondern auch Socken ausziehen muss, um die Tempel betreten zu dürfen.

Bei Verlassenen der Jain-Tempel kaufte ich einem der vielen Händler ein Spielkartenset mit den schönsten Motiven von Khajuraho für €1,30 ab. Manoj imponierte mir, indem er dem Händler nachjagte und mir die Hälfte des Geldes wieder zurückbrachte, da die Karten eben nur halb so viel wert waren. Interessant. Abgesprochen? Vielleicht.

Als nächstes wurde ich zu Fuß durch die engen Gassen des Dorfes geführt. Manoj zeigte mir ein paar beschauliche Schreine und Brunnen und erklärte ein paar Details. Die an vielen Hauswänden aufgemalte Lotosblume signalisiert etwa, dass die Bewohner die Partei von Nanendra Modi unterstützen.

Schließlich erreichten wir die Dorfschule, in der eben der Unterricht begann. Über hundert Schüler zwischen sechs und fünfzehn standen im Hof und sangen die Nationalhymne. Ich plauderte eine Weile mit dem 25jährigen Mathematik Lehrer. Schließlich stellte man mir den Direktor vor, der mir alle Räumlichkeiten zeigte und mir erklärte, wie man es dank niederländischer Kontakte und Spenden binnen zehn Jahren vom Freilichtunterricht in einem Innenhof zu diesem Gebäude und elf Lehrkräften gebracht hatte. Fotoalben belegten alles, was er sagte. Man versuche, die Kinder von der Straße wegzukriegen und ihnen eine Perspektive zu geben. Ein dickes, vollgeschriebenes Buch hielt die positiven Eindrücke hunderter Besucher der letzten Jahre fest.
Kurzum: das ganze konnte schwerlich Betrug sein und wenn doch, dann ist das ganze so aufwändig und gut inszeniert, dass sie sich meine €13 Spende trotzdem verdient haben. Auch die Homepage und die Biographie des Direktors stimmen zuversichtlich: „http://www.kashimandir.org/project/“

Der Grund für das ganze Misstrauen: Es gibt Berichte, dass Touristen in Khajuraho in „falsche Schulen“ geführt worden sind und dort von angeblichen Lehrern und einer handvoll angeblicher Schüler zum Spenden überredet wurden. Über hundert Schüler, elf Lehrer, authentischer Mathe-Unterricht, hunderte Fotos etc., haben mich aber von der Echtheit meiner Schule überzeugt.

Manoj führte mich weiter zum Javari Tempel, zum Vamana Tempel und schließlich zum kleinen Brahma Tempel am Ufer des beschaulichen Sees von Narora Sagar. Gleich gegenüber war das Haus von Manojs Familie. Wir konnten es aber nicht betreten, da anscheinend eben jemand duschte – oder so. Eine Stunde lang saßen wir auf den sonnigen Stufen des Brahma Tempels. Ich sprach die diversen deutschen Wörter vor. Manoj wiederholte und übertrug sie phonetisch in Hindi Schriftzeichen. Alte Männer in Boten befuhren indessen den See und ernteten „water chestnuts.“ Nach zweihundert Wörtern gab ich Manoj noch ein Tipps mit auf den Weg, wie er am besten das Gespräch mit Touristen suchen solle. Er wird wohl alles auswendig lernen und von seinen nächsten „Opfern“ mehr wollen, als nur Wörter. Ich hatte jedenfalls meinen Spaß gehabt, hatte gesehen, was ich hatte sehen wollen und dafür in Worten bezahlt. Ich verabschiedete mich von Manoj und gönnte mir ein gutes Mittagessen. Was wohl der Abend bei Ranej bringen würde?

Nach einigen ruhigen Stunden im Hotel holte der Mann mich leicht verspätet ab. Zu Fuß führte er mich zu einer Wiese in der Nähe. Dort warte sein Freund Sanji mit seinem Motorrad. Zu dritt fuhren wir zum nahen Dorf. Tatsächlich bot das Dach von Ranejs Haus gute Sicht auf Tempel und Sonnenuntergang. Im Innenhof neben einem tiefen gemauerten Brunnen wuchs ein Zitronenbaum. Man forderte mich auf, ein paar Zitronen zu pflücken und bereite daraus Zitronentee zu, den wir  zu dritt auf einer Decke auf dem Dach sitzend tranken. Sehr idyllisch. Ebenfalls auf dem Grundstück anwesend waren Ranejs drei kleine Kinder, sein alter Vater und ein paar scheue Frauen, die mir nicht vorgestellt wurden. Bisher war das ganze ja recht nett. Natürlich war mir klar, dass eine Gegenleistung für die Einladung zum Essen erwartet wurde. Das war nur fair. Als mir Ranej also einen Sack voller Waren, die er auch am Flughafen verkaufte, vor die Füße schüttete, kaufte ich ihm ein nettes, kleines Souvenir ab. Ich feilschte nicht zu hart und gab ihm dafür eine Summe, die ihn für Essen, Sprit und was mir sonst zu Gute kam, locker entschädigte. Hätte er sich damit zufrieden gegeben, wäre es wohl ein netter Abend geworden. Dem war aber leider so. Es begann eine unsympathische Schmierenkomödie. Während sein Kumpel Sanji in der Rolle des Bürgen immer wieder einwarf, was für ein wunderbarer und guter Mensch Ranej sei, begann dieser seine Litanei der Klagen. Er verdiene ja so wenig, Gas und Essen seien so teuer, die öffentliche Schule, die seine Kinder besuchten sei ja so schlecht und die Privatschule viel zu teuer. Der Mann wurde mir so richtig unsympathisch. Man braucht nicht viel Indien-Erfahrung um zu wissen, dass es hier zig Millionen gibt, die so viel schlechter dran sind als Ranej. Der Mann hatte einen Job. Sein Haus war mit Strom versorgt. Die Kinder gingen zur Schule. Das war hier fast schon Mittelklasse. Sein billiges Spendengeheische war in Anbetracht dessen doppelt geschmacklos. Zudem war das Essen, das er mir servierte recht lieblos. Ein bisschen Gemüse in Rohkost und eine seichte Nudelsuppe. Natürlich pries man, wie „organic“ das Essen sei.
Mit der Zeit fuhr Ranej härteres Geschütz auf, zeigte Briefe und Fotos seiner vielen internationalen Freunde, die ihm – Ganesh sei Dank – ja schon so viel geholfen hätten. Ja sicher. Schließlich ließ Ranej seinen fünfjährigen Sohn das Alphabet aufsagen, um zu zeigen, wie schlau er doch war. Doch wozu schlau sein, wenn das Geld für die Privatschule fehlt. (Meines Wissens sind die öffentlichen Schulen hier recht gut.) Als er mir zum zweiten Mal irgendwelche für die Ernährung seiner Kinder so wichtigen Linsencracker vor die Nase hielt und klagte, wie viel diese kosten würde, merkte ich an, dass auf der Verpackung nur der halbe Preis steht. Als er dann behauptete, der Rest sei Steuer, klärte ich ihn auf, dass die Steuer erstens niemals so hoch und zweitens schon inbegriffen sei. Er wechselte das Thema. Ha! Ertappt! An dieser Stelle konnte sich sogar Sanji, der recht still geworden war, ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Jedenfalls hatte sich Ranej das falsche Opfer ausgesucht. Von mir kriegte er keinen Cent mehr. Wenn er schon Theaterspielen wollte, bitte. Das konnte ich auch. Ich konterte sein Gejammer mit einer fantasievollen Klagegeschichte von langen, entbehrungsreichen Studienjahren, von horrenden Miet- und Lebenserhaltungskosten, von gegenwärtiger Jobunsicherheit. Schließlich erklärte ich leidender Miene, wie ich mein letztes, lang erspartes  Geld ausgegeben hatte, um mir den lange gehegten Traum dieser Reise zu erfüllen. Erwartungsgemäß schien sich Ranej für all dies rein gar nicht zu interessieren, passte es ihm doch nicht ins Konzept. Er wechselte einfach das Thema und begann, da ihm der Text ausging, noch einmal von vorn. Sogar das Alphabet bekam ich ein zweites Mal zu hören. Oder hatte der Mann einfach ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis? Als ihn bei Gelegenheit an das Souvenir erinnerte, das ich ihm abgekauft hatte, wurde er plötzlich wieder freundlich. Aber nur kurz.

Bald nach dem kargen Nudelsuppenmahl gab er es schließlich auf und brachte mich zurück zum Hotel. Mit seinem Freund Sanji, der mir im Unterschied zu Ranej immer noch sympathisch war, vereinbarte ich, dass er mich morgen zu Bahnhof bringen dürfe. Er wollte dafür genausoviel wie die Tuktuk Fahrer. Auf dem Motorrad war es zwar unbequemer, aber die kleine Gefälligkeit gönnte ich ihm.

Ich war froh wieder im Hotel zu sein. Programmpunkt zwei des Tages war doch eher nervig gewesen. Immerhin: die zehn Minuten, in denen ich allein auf Ranejs Dach im Dorf gestanden hatte, umgeben von Feldern, von Federball spielenden Kindern in den Straßen unter einem dramatischen Himmel im Abendrot mit tausend Jahre alten Tempeln am Horizont, diese Minuten entschädigten mich für den anschließenden Austausch von Märchen. Und der Honig-Bananen Pancake im Hotel entschädigte für wässrige Nudelsuppe.

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Tag 97 – Khajuraho III

Ich frühstückte ein weiteres Mal im Hotel. Der Vormittag war lang genug, um ihn mit einem Museum zu füllen. Durch das übliche Treiben der Straßen („My friend!“) spazierte ich vorbei an den westlichen Tempeln nach Norden zum Tribal & Folk Art Museum. Da es noch geschlossen hatte, gab es zuerst einen Becher Tee am Ufer des idyllischen Prem Sagar. Nur eine halbe Stunde nach der auf Schildern angegebenen Öffnungszeit sperrte das Museum dann tatsächlich auf. Die Ausstellung gefiel mir sehr. Die hiesige Stammeskunst ist farbenfroh und reich an Formen und Materialen. Manch dargestellte Kreatur erinnerte mich an Tim Burtons „Nightmare before Christmas.“ Wirklich beeindruckend.

Vom Museum ging ich zurück ins Hotel,  holte mir meinen Rucksack, ignorierte die Tuktukfahrer, die sich en masse auf mich stürzten und schritt zum mit Sanji vereinbarten Treffpunkt. Wie abgemacht wartete er dort, angeblich seit über einer Stunde. Er brachte mich auch zum zehn Kilometer entfernten Bahnhof, ganz ohne Stopps in Shops. Allerdings fuhren wir nicht auf der Hauptstraße, sondern auf sandigen Nebenstraßen durch kleine Dörfer. Der Grund dafür war die Polizei, welche hier so etwas wie Helmpflicht für Motorräder durchsetzen möchte. Auf den Nebenstraßen wurde weniger kontrolliert. Jedenfalls war die Fahrt hier auch um einiges idyllischer.

Am einsamen Bahnhof von Khajuraho verabschiedete ich mich von Sanji und stieg in den pünktlich abfahrenden Zug nach Orchha. Alles andere als pünktlich war die Ankunftszeit, benötigte der Zug nicht wie vorgesehen vier sondern acht Stunden bis Orchha. Es war wohl die bislang unbequemste Zugfahrt dieser Reise. Zuerst ging die Fahrt noch flott nach Norden. Wir erreichten die Grenze nach Uttar Pradesh und hielten am Bahnhof von Mahoba Junction. Dann geschah mehr etwa drei Stunden lang gar nichts mehr. Eine müllfressende Kuh trabte irgendwann einmal vor meinem Fenster vorbei. Der Tag neigte sich dem Ende zu und ich war immer noch fern von Orchha. Schließlich hieß es Umsteigen in einen Ersatzzug. Endlich war ich wieder in Bewegung, nur leider viel zu langsam. Bahnhof für Bahnhof kämpfte sich der Zug durch stets dichter werdenden Nebel nach Westen. Ich saß inmitten einer Großfamilie mit drei abwechselnd schreienden Kindern. Es wurde zunehmend kälter. Seufz.
Bei jedem Halt spähten die Leute aus dem Fenster, um festzustellen, wo wir uns befanden. Ich fragte stets hoffend, ob es Orchha sei, doch dem war nicht so. Erst vier Stunden nach der Abfahrt aus Mahoba erreichten wir das wieder in Madhya Pradesh gelegene Orchha.

Ich war einer von wenigen, der hier aus dem Zug stieg. Der Bahnhof war winzig, der Nebel dichter denn je. Heilfroh ein Tuktuk zu finden, nannte ich mein Ziel: das Dorf Ganj, zwei Kilometer östlich von Orchha. Die drei Männer im Tuktuk hatten vom dortigen Homestay anscheinend noch nie gehört und waren sich etwas unsicher. Auf nebliger Straße fuhren wir zuerst nach Süden bis ins Zentrum von Orchha. Hier holte man Rat bei einem kleinen Reisebüro, das noch geöffnet hatte. Der Besitzer rief Ashok an, welcher die Homestays im Dorf organisierte. Dieser sagte mir am Handy, dass er mich erst morgen treffen könne. Ich solle mich einfach bis nach Ganj bringen lassen. In Sudamas Haus sei ein Bett für mich bereit.

Weiter ging es durch den Nebel. Der Scheinwerfer des Tuktuks vermochte nur wenige Meter weit in die graue Masse vorzudringen. Meine drei Tuktukfahrer kannten sich hier nicht wirklich aus. Schließlich fragten sie, wo genau sie mich absetzen sollten. Sudamas Haus? Nein, sie kannten keinen Sudama. Seufz.

Da tauchte im Nebel am Rande der Straße ein kleines Schild auf. Friends of Orchha Homestay. Na also. Darunter war ein kleiner Lageplan, der die Häuser des Dorfes zeigte. Manche waren Teil des Homestay Projekts, andere nicht. Auch Sudamas Haus war eingezeichnet. Na wunderbar. Ich bezahlte meine drei tapferen Nebelreiter, welche sogleich wieder im Dunkel verschwanden. Allein schritt ich durch die stillen Straßen des Dorfes und stand schließlich vor jenem Haus, welches laut Plan, das von Sundama sein musste. Alle Türen waren jedoch verschlossen. Und auf mein zaghaftes Klopfen und „Namaste. Hello. Homestay?“ Rufen antwortete keiner. Ich hörte nur ein leises Flüstern hinter der Holztür. Seufz.

Stand ich vielleicht vor dem falschen Haus? Durch Nacht und Nebel ging ich noch einmal zurück zum Lageplan. Nein, das Haus musste das richtige sein. Was tun? Ich war eben dabei Ashok anzurufen, als ich vor einem der anderen Häuser Bewegung sah. Ein Mann stand in der Tür. Ich machte mich bemerkbar und fragte nach dem Homestay und Sudamas Haus. Der Mann begleitete zur Hütte, an der ich vorher gestanden hatte, trommelte laut gegen die Tür und rief etwas in Hindi. Das wirkte. Eine mürrische, jüngere Frau erschien, entsperrte die Tür zum Innenhof und führte mich zu einer Hütte, in der ich ein gemütliches Bett vorfand. Waschbecken und Toilette waren gleich nebenan. So fand des langen Tages Reise in die Nacht doch noch ihr warmes, gemütliches Ende.

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Tag 98 – Orchha I

Nach erholsamen Schlaf entstieg ich meiner Lehmhütte und trat hinaus in den Innenhof. Trotz des fortgeschrittenen Vormittags herrschte immer noch dichter Nebel. Zwei Büffel blickten mich kauend an. Nett. Ich trug einen der beiden Lehnsessel aus meinem Häuschen ins Freie und plante dort im Nebel sitzend meinen Tag.

Nach einer Weile kam der Herr des Hauses, grüßte mich in dürftigem Englisch und fuhr dann mit seinem Motorrad zur Arbeit. Etwas später kam sein achtjähriger Sohn und holte mich zum Frühstück. Er hatte sich unbemerkt angeschlichen und hinter einem Baum versteckt. Dort machte er unheimliche Geräusche und sprang dann mich erschreckend wollend hervor. Ich kam mir vor wie in „Lucy und Glibsch“. Der Achtjährige sprach in seiner Familie wohl das beste Englisch und managete die nötigen Konversationen.

In einer kleineren Hütte anbei servierte mir die Dame des Hauses im Beisein ihrer drei Kinder ein rustikales Frühstück. Es gab schön scharfen Getreidebrei, eine Banane und eine Guave. Natürlich saßen wir am Boden. Nach einer Weile kam Ashok, einer der Organisatoren des Homestays, vorbei. Er war grad auf dem Weg nach Jhansi, wo er eine Prüfung an der Uni absolvieren musste. Später wollte er mir noch mehr über den Homestay erzählen. Wir vereinbarten ein Treffen fünf Uhr Nachmittags.

Nun aber wurde es Zeit, mich der Geschichte Orchhas zu stellen und seinen historischen Boden zu erforschen. Das heutige 10,000 Einwohner Dorf blickt zurück auf eine glorreiche Geschichte, war es doch vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert Hauptstadt der hinduistischen Bundela Dynastie. Die spannende Geschichte des Ortes definiert sich im facettenreichen Verhältnis zu den Mogulenherrschern in Delhi. Stand der Bundela-König Bir Singh noch im offenen Konflikt mit Akbar dem Großen, so folgte darauf später eine lange Freundschaft mit Akbars Sohn Jehangir, ein Musterbeispiel friedlicher Koexistenz von Islam und Hinduismus. Orchha wurde zwar Teil des Mogulenreichs, bewahrte sich aber weitreichende Autonomie. Später gab es wieder Konflikte.

Die prächtigen Bauten von Orchha sind architektonisch irgendwo in der Mitte zwischen islamischer und hinduistischer Bauweise angesiedelt. Eine gelungene Mischung.

Als ich an jenem Vormittag nun die Straße von Ganj nach Orchha entlang spazierte, sah ich anfangs sehr wenig. Immer noch beherrschte dichter Nebel die Welt. Einzelne Bäume wurden sichtbar und verschwanden wieder. Links des Weges konnte ich auf einer Anhöhe bald die Umrisse des Lakshmi Narayan Tempels ausmachen. Etwas später sah ich vor mir die hohen Türme des erstaunlichen Chaturbhuj Tempels. Ich betrat die belebte Altstadt von Orchha. Klein, beschaulich und voller Leben. Über eine Brücke erreichte ich schließlich das Fort mit seinen hoch aufragenden labyrinthischen Palastruinen.

Als erstes erkundete ich den weitläufigen Raj Mahal. Über versteckte Wendeltreppen und finstere Korridore gelangte ich bis ins oberste der vier Geschosse, welche einen weiten Innenhof umgeben. Der Blick nach Westen zum Chaturbhuj Tempel und auf die Dächer von Orchhas Altstadt ist sehr schön. Allmählich begann der Nebel sich zu lichten. Immer weiter drang mein Blick. In ein paar wenigen Räumen des Raj Mahals sind noch Fresken zu sehen, die meist Szenen aus der Ramayana oder aus dem Leben Krishnas zeigen. Man kanm hier stundenlang durch die Gänge und über Treppen wandern und findet wohl immer wieder Neues. Doch wieso sollte man das tun, wenn gleich nebenan ein noch viel schönerer Palast mit ebenso labyrinthischem Inneren wartet?

Das Jehangir Mahal wurde anlässlich des Besuchs des Mogulenkaisers Jehangir erbaut und ist ein faszinierendes Gefüge aus Türmen, Galerien, Torbögen, Kammern, Korridoren und Treppen. Als ich nach längerem Herumirren wieder ins Freie trat, schien mir die Sonne ins Gesicht. Kurz vor der Mittagsstunde hatte sie den Nebel nun doch beseitigt. Die Aussicht auf die weite grüne Ruinenlandschaft war besser denn je.

Ich besuchte die einstigen Kamelstallungen und das Raj Praveen Mahal, einen kleiner, zierlicher Palast, in dem einst Raj Praveen, die beste Sängerin und Tänzerin des Mogulenreiches residierte. Als Belohnung für ihre Dienste schenkte ihr der König von Orchha einen Palast umgeben von Ziergärten. Zahlreiche Anekdoten erzählen von ihrem Leben. Auch einige schöne Wandmalereien sind hier noch erhalten.

Kurz nach zwölf wechselte ich wieder auf die andere Seite des wasserarmen Burggrabens. Nach einem guten Mittagessen waren nun die Tempel an der Reihe. Von allen Bauten Orchhas ist der Chaturbhuj Tempel am beeindruckendsten. Diese Kompaktheit, die hohe Kuppel und die Türme geben dem Bau Ähnlichkeit mit manch Kathedrale. Es ist erlaubt über ein Labyrinth aus Treppen auf das Dach zu klettern. Hier saß ich lange und genoss den Blick zum Fort, zum pink-goldenen Ram Raja Tempel mit seinen hunderten Pilgern, zum Betwa Fluss mit seinen vielen Felsen und hinauf zu den Türmen über mir, wo ganze Schwärme von grünroten Halsbandsittichen kreisten. Da sah ich einen großen Geier auf mich zu schweben und auf dem Torbogen direkt über mir landen. Schön.

Ich schritt über den belebten Marktplatz vor dem Ram Raja Tempel, wo hunderte Händler am Boden saßen und ihre Waren anboten. Besonders schön anzusehen sind stets die bunten Häufen farbigen Sands, die zum Färben verwendet werden. Neben dem Marktplatz besuchte ich den grünen Ziergarten von Phool Bagh und den kleinen Palki Mahal Palast.

Hernach führte mich mein Weg nach Süden ans Ufer des Betwa Flusses. Trotz der winterlichen Temperaturen badeten hier viele zwischen den Steinen. Andere wuschen farbenfrohe Wäsche im Fluss. Besonders idyllisch sind die direkt am Ufer gelegenen Chhatris, die hohen, palastartigen Zenotaphen der einstigen Bundela-Herrscher. Auf ihren Türmen konnte ich so manchen Geier erspähen.

Auf halbem Weg zurück nach Ganj folgte der letzte Höhepunkt dieses abwechslungsreichen Tages: der auf einem Hügel gelegene Lakshmi Narayan Tempel. Dieser glänzt erstens mit seiner Aussicht auf Orchha und die umliegende Landschaft, zweitens mit seinen vielen gut erhaltenen Fresken (die besten in Orchha) und drittens mit seiner schönen Architektur.

Nun erst sah ich mein Dorf zum ersten Mal vom Nebel befreit. Viel war nicht da. Eine handvoll Lehmhütten, ein paar Felder ringsum. Das ist Ganj.

Ashok führte mich ein bisschen herum und stellte mir ein paar andere Familien vor. Anfangs war man hier skeptisch gewesen. Niemand wollte beim Homestay Projekt mitmachen. Inzwischen sieht man die Vorteile und reißt sich drum. Derzeit war ich der einzige Gast im Dorf. Ashok hatte gehört, dass es dieses Jahr in ganz Indien eine Flaute an Touristen gab. Keiner weiß warum.

Gemeinsam mit Sudamas Familie aß ich zu Abend. Wieder holten mich die Kinder ab. Sie wollten candy von mir, doch ich hatte nichts. Sie nahmen es mir jedoch nicht übel. Das Essen war einfach, doch gut. Die Dame des Hauses buk das Paratha über dem offenen Feuer direkt vor meiner Nase.
Zurück in meiner Hütte holte mich schon bald der Schlaf.

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Tag 99 – Orchha II

Nach meinem zweiten Frühstück im Homestay begann ich den Tag mit einem Spaziergang im Nebel. Ich wollte eigentlich bis ans Flussufer gelangen, scheiterte jedoch an der schlechten Sicht und dem sich in der Wildnis auflösenden Weg. Ein großer Baobab-Baum diente mir zur Orientierung um zurück ins Dorf zu gelangen.

Da das Frühstück heute ein bisschen karg ausgefallen war, gönnte ich mir ein zweites. Ein Restaurant in der Altstadt von Orchha servierte mir Porridge und Masalatee.

Ich schritt hinab zum Betwafluss und kreuzte die Brücke ans andere Ufer. Hier liegt das ausgedehnte Orchha Nature Reserve. Ich besorgte mir ein Fahrrad und brachte die nächsten Stunden damit zu, allein auf weiter Flur durch den nebligen Wald zu radeln. Erholsam und schön. Ich sah nicht viel Fauna, nur Rinder, Vögel, ein paar flüchtende Hirsche und viele Rhesusaffen. Hin und wieder stellte ich mein Rad ab und streifte zu Fuß durch den lichten Wald und hinunter zum Fluss. So menschenleer war es auf dieser Reise vielleicht noch nie um mich gewesen, nicht einmal in Sikkim. Die Stille tat gut. Heute benötigte die Sonne wesentlich länger um den Nebel zu durchdringen.

Um zwei Uhr Nachmittags war ich wieder in Ganj und speiste zu Mittag. Eine Weile lang las ich zwischen den Büffeln im Innenhof Baudelaire und Voltaire. Die Sonne war nun auch da. Später radelte ich ein zweites Mal ins Nature Reserve, setzte mich dort unter einen Baum und las laut in Voltaires  Dictionnaire Philosophique.

Was bringt einen dazu ein zweihundertfünfzig Jahre altes, längst überholtes Lexikon zu lesen? Ich muss zugeben, dass ich diese Lektüre ungemein bereichernd finde. Der Sinn für Geschichte wird geschärft. Zu erfahren, was man Mitte des Achtzehnten Jahrhunderts schon alles wusste und noch nicht wusste, was man zu wissen glaubte, was man ahnte, vermutete und prognostizierte, ist faszinierend. Zudem ist der Autor Voltaire, einer der schärfsten Denker, den diese Spezies je hervorbrachte. Mit seinem Witz und seinem herrlichen Sarkasmus macht er sogar eine Enzyklopädie unterhaltsam. Nebenbei  möchte ich mit dieser Lektüre den Menschen Voltaire besser kennenlernen, zu einem tieferen Verständnis von François Marie Arouet gelangen. Außerdem macht es Spaß laut auf französisch zu lesen, auch wenn meine Aussprache wohl verbesserungswürdig ist.
Als mich ein Geräusch aufblicken ließ, sah ich in nächster Nähe einen Hirsch (Ich glaube, es war ein männlicher Sambarhirsch) stehen. Der mochte Voltaire wohl auch. Nun aber suchte er das Weite.

Allmählich neigte sich der ruhige Tag dem Ende zu. Ich radelte zurück durch den indischen Winterwald und gab mein Fahrrad ab. Die verbleibende Stunde bis Sonnenuntergang verbrachte im Fort. Auf dem weiten, von Wasser umflossenen Gelände gab es noch viele kleinere Ruinen, die vor allem nun im Spätnachmittagslicht besonders reizvoll waren. Auf einem Turm des Verteidigungswalls fand ich schließlich den perfekten Ort, um die rote Sonne am südwestlichen Horizont nahe dem Chaturbhuj untergehen zu sehen. Wenn sie sich morgen im Osten wieder erheben würde (und ich sie im Nebel nicht sehen würde), würde es der einhundertste Sonnenaufgang dieser Reise sein.

Nach einer angenehmen Stunde im Cyber Cafe von Orchhas Altstadt ging ich noch einmal ins Fort um dort die tägliche Sound & Light Show zu besuchen. Kalt war es. Doch die Show war schön. Hunderte Scheinwerfer hüllten das Raj Mahal in ein abwechslungsreiches Farben- und Formenspiel. Stimmen erzählten die Geschichte von Orchha, etwa von der Freundschaft zum Mogulenkaiser Jehangir, vom König, der seinen Sohn von Hunden zerfleischen ließ, da dieser dasselbe mit einem Brahmanen gemacht hatte, von der Meisterschaft der Tänzerin Raj Praveen, vom Giftmord am beliebten Bruder des Königs, und, und, und … Nett war auch die Geschichte, in der sich König und Königin zerstritten, da er Krishna anbetete, sie aber Rama. Da beides Inkarnationen von Vishnu sind, dünkt der Disput ein wenig absurd. Zumindest wurden zwischen Rama- und Krishnaverehrern nie Kriege gefochten. Es gingen höchstens Ehen in die Brüche. Die Dispute zwischen christlichen Konfessionen waren da wohl um einiges blutiger.

Leicht durchgefroren verließ ich gegen halb acht das Fort und wärmte mich bei Tee und gutem Paneer Butter Masala in der Altstadt von Orchha. Es folgte ein schöner und schauriger Nachtspaziergang auf der einsamen Straße zurück nach Ganj.

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Tag 100 – Orchha III

Mein dritter und letzter Morgen in Orchha begann mit Frühstück und einem weiteren Spaziergang im Nebel. Vorbei an nassen grünen Feldern, Rindern und alten Mauern gelangte ich zu einem abgeschiedenen Hanuman Tempel. Obwohl kein Mensch in Sicht war, drangen aus einem Lautsprecher neben dem Schrein religiöse Loblieder auf Hanuman, den affenköpfigen Mitstreiter Ramas. Weit hallten die Lieder über die leere Landschaft. Ich kletterte auf ein paar Felsen und überschaute von dort den Anfang eines kleinen grünen Tales, das in Richtung Betwa im Nebel verschwand. Irgendwo bellte ein Hund. Kurz sah ich die Umrisse eines Menschen am gegenüberliegenden Hügel stehen. Dann waren sie verschwunden. Immer noch sang man in der Ferne von Hanuman. Heute vor hundert Tagen hatte ich in Delhi auf der Fahrt vom Flughafen meine erste indische Sonne aufgehen sehen. Bunte hundert Tagen waren das gewesen. Vom Himalaya bis Kap Komorin. Berge, Dschungel, Strand. Hitze, Kälte, Regen, Nebel. Die Wüste stand mir noch bevor. Und alles brüllte voller Leben.

Zurück im Homestay blätterte ich mit den Kindern durch meinen Reiseführer. Sie zeigten auf die Bilder, wollten die  Vokabeln für alles wissen, was sie da sahen. Am liebsten hätten sie natürlich das Buch behalten. Nach einer Weile kam Ashok vorbei. Er informierte mich, dass mein Zug laut Bahnauskunft schon mindestens zwei Stunden Verspätung hatte. Kein Grund also, schon jetzt zum Bahnhof von Jhansi zu fahren. Ich sollte es mir noch eine Weile in meiner Hütte bequem machen.

Zwei Stunden Verspätung hörte sich in meinen Ohren recht gut, wusste ich doch, dass derselbe Zug gestern bei seiner Ankunft in Jhansi rund fünf Stunden verspätet gewesen war. Der Chhattisgarh Express ist einer jener viele Langstreckenzüge Indiens, deren Fahrtzeit sich über mehreren Tage erstreckt. Bei seiner Ankunft in Jhansi war der Zug schon zweiundzwanzig Stunden unterwegs und hatte bereits 1100 km hinter sich gebracht. Etwa noch einmal so weit war es bis Amritsar, dem Ziel meiner Fahrt. Nach vielen kleineren Etappen war es wieder Zeit für einen größeren Sprung, der mich an den nördlichsten Punkt dieser Reise bringen würden. Ich wartete also noch eine Weile bei den Büffeln im Innenhof.

Zurückblickend auf den Homestay in Orchha kann ich sagen, dass dieser zwar nett war, aber bei weitem nicht an die schöne Zeit in Sonams Hütte am See von Khecheopalri heranreichte. Landschaft, Essen, das Gefühl des Willkommen Seins – alles war dort besser gewesen. Missen würde ich Orchha und Ganj trotzdem nicht wollen.

Kurz vor zwölf, der eigentlichen Planabfahrtszeit des Zuges, meldete sich Ashok noch einmal. Laut neusten Angaben hätte der Zug doch nur eine halbe Stunde Verspätung. In Windeseile wurde ich zu einem Auto gebracht und nach Jhansi gefahren. Bald aber blieben wir im Stau der Stadt stecken. Verständlicherweise war ich recht nervös ob der Aussicht meinen Zug zu verpassen. Am Bahnhof stellte sich die vermeintliche Pünktlichkeit aber rasch als Chimäre heraus. Ich musste noch eineinhalb Stunden warten.
Mit exakt zweieinhalb Stunden Verspätung verließ ich den Bahnhof von Jhansi in meinem bequemen, warmen Erste Klasse Abteil, das ich mir zur Feier des Tages gönnte. Schließlich war heute der 24. Dezember und ein stilles Abteil war doch weihnachtlicher als die volle, laute Sleeper Class.

Der Rest des Tages gehörte stiller Lektüre. Ich sah die Landschaften und Vogelscheuchen der Felder von Madhya und Uttar Pradesh vorbeigleiten. Vom Catering Service ließ ich mir als €1 Weihnachtsessen ein gutes Mutter Paneer mit Daal, Reis und Roti bringen. Stetig mehr Verspätung ansammelnd erreichte der Zug Gwalior und später Agra. Hier würde ich in zwei Wochen wieder sein und die letzten Tage meiner indischen Reise verbringen. Vom Zugfenster aus versuchte ich das Taj Mahal zu erspähen, sah es aber nicht. In zwei Wochen würde es mir nicht entgehen. Nahe Mathura telefonierte ich nach Hause. Dann schlief ich ein. Ein etwas anderes Weihnachten.

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Tag 101 – Chhattisgarh Express

Ich erwachte zum ersten Mal kurz nach Mitternacht, als wir in Delhi hielten und Mutter und zwei Töchter einer Familie zustiegen. Hier war ich also wieder. Und hier fuhr ich auch schon wieder weg. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass der Zug inzwischen fast fünf Stunden verspätet war.

Ich erwachte zum zweiten Mal, als ich einen Mann im Abteil sah. Im Halbschlaf hielt ich ihn für einen weiteren Fahrgast, der eben sein Bett bezog. Die Rechnung, dass das Viererabteil ja schon voll war, überstieg meinen Wachheitsgrad. Ich drehte mich um und schlief weiter.

Ich erwachte zum dritten Mal gegen halb sechs, als die ältere der drei Damen im Abteil laut ausrief, dass ihre Handtasche weg war. Das Licht ging an. Alle waren sehr aufgebracht. Doch die Suche ergab nichts. Glatter Diebstahl. Man hat ihr im Schlaf über das Gesicht hinweg fassend die Tasche aus den Armen entwendet. Der Schock war groß. Die zwei erwachsenen Töchter trösteten ihre weinende Mutter. Der dazugehörige Vater wurde aus einem anderen Abteil herbeigeholt. Schaffner und Zugpolizei kamen vorbei. Eine Anzeige wurde verfasst. Die Emotionen gingen hoch. Was für ein Schauspiel. Da sich die Familie untereinander großteils auf Englisch unterhielt, konnte ich viel verstehen.

Mit einem solchen Diebstahl war in Zügen zu rechnen, nur hätte ich es nicht in der ersten Klasse vermutet, wo der Dieb tatsächlich eine versperrbare Tür öffnen muss, um ins Abteil zu gelangen. Bei mir hätte er sich schwer getan. Mein Rucksack lag angekettet unter dem Bett. Reisepass, Smartphone und ein Großteil meines Bargelds trug ich unter der Decke in meiner Gürteltasche. Ein bisschen Bargeld gab es höchstens in meiner neben mir liegenden Hose zu stehlen.

Jedenfalls sah ich nun, dass all diese Vorsichtsmaßnahmen ihren Sinn haben. Denn die Diebe kommen nachts. Und sie sind dreist.

Während sich die Tragödie mitsamt wechselseitigen Schuldzuweisungen und allem, was dazugehört neben mir abspielte, wuchs die Verspätung des Zuges stetig. Zuviele Halte und Langsamfahrperioden machten aus sechs bald sieben, bald acht und schließlich neun Stunden, während der Zug durch die trübe, einfallslose Landschaft vom Haryana und Punjab ratterte. Mein planmäßig ohnehin schon kurzer Amritsar-Aufenthalt wurde noch kürzer. Immer noch blieb mehr als genug Zeit für den goldenen Tempel, Hauptheiligtum der Sikhs. Mit zunehmender Verspätung wurde aber immer gewisser, dass ich auf die zweite Attraktion der Gegend, die indisch-pakistanische Grenzschließungszeremonie würde verzichten müssen. Als die Soldaten beider Länder um vier Uhr nachmittags kräftemessend in bunten Uniformen Aug in Aug herumstolzierten, saß ich immer noch Zug, acht Stunden nach Planankunft.

Wie klein aber schien dieser Verzicht verglichen mit dem, was die Familie neben mir mitmachte. Da stand einiges auf dem Spiel. Die verlorene Tasche entpuppte sich als das viel kleinere Übel. Die ältere Tochter wollte dieses Wochenende heiraten. Alles war organisiert. Volles Programm von Freitag bis Sonntag. Doch die Hochzeit war in Pakistan. Dort wartete der Bräutigam. Heute um vier machte die Grenze dicht und blieb auch den ganzen Freitag zu. Der schwer verspätete Zug machte Wochen der Vorbereitung zunichte. Während der Brautvater wütend gegen diverse Zugwände trat, übte sich die Braut im stillen Gebet vor einem kleinen  Taschenschrein, als dessen Stütze sie sich meinen Reiseführer auslieh. Es half alles nichts. Der Zug wurde nicht schneller. Man kann sich den Frust aller Beteiligten wohl gut vorstellen. Ich gab mich mitfühlend und spendierte eine Runde Tee.

Ein paar Stationen vor Amritsar verließ die Familie den Zug und versuchte von hier per Taxi ihr Glück. Ich glaube nicht, dass sie es geschafft haben. Dafür war es einfach schon zu spät.

Allein verbrachte ich noch weitere eineinhalb Stunden im still gewordenen Abteil und erreichte kurz vor fünf Uhr Abends nach siebenundzwanzig Stunden im Zug endlich Amritsar.

Die Hotelsuche verlief kurz und ganz ohne Probleme. Schon meine erste Wahl in zentraler Lage bot mir ein günstiges kleines Zimmer mit WLAN. Noch war es aber zu früh, um den Tag zu beenden. Die lange Fahrt sollte belohnt werden. In nächster Nähe befand schließlich eines der schönsten und berühmtesten Gebäude Indiens. Zwanzig Minuten schritt ich durch die enge, chaotische Altstadt. Um sich warm zu halten verbrennen die Leute hier Müll auf den Straßen. Nach einer längeren Zeit in ländlichen Gefilden (Kanya, Khajuraho, Orchha) kam mir Luft der Millionenstadt besonders übel vor. Mitten drin im Gewimmel stand ich plötzlich vor einer christlichen Kirche mit bunter Weihnachtsbeleuchtung. Jeder zweite Mann auf den Straßen trägt hier Turban, klares Erkrnnungszeichen männlicher Sikhs. Schließlich erreichte mein Ziel.

Als erstes sah ich den großen Uhrturm am Osteingang des weitläufigen Harmandir Sahib. Nachdem ich mein Haupt bedeckt, Schuhe und Socken abgegeben hatte und durch ein seichtes Wasserbecken gewatet war (kalt!), durfte ich das große Tor durchschreiten und befand mich nun am breit befliesten Ufer des Amrit Sarovar (Nektarbecken). Ein Steg führt ins Zentrums des Gewässers. Und dort steht er, der berühmte Goldene Tempel von Amritsar, Hauptheiligtum der Sikhs. Golden glänzte er in prächtiger, nächtlicher Beleuchtung und spiegelte sich im Wasser. Über Lautsprecher drang ein unaufhörlicher Singsang, der wohl Passagen aus dem Guru Granth Sahib, dem heiligen Buch der Sikhs, wiedergab. Während ich den Tempel im Uhrzeigersinn entlang des Beckenrands umrundete, passierte ich viele Sikhs, die andächtig mit gefalteten Händen in Richtung Tempel blickten oder im heiligen Nektarbecken badeten. Versteckt hinter Wänden gibt es auch Badebereiche für Frauen.
Die Gebäude ringsum das Becken sind ebenfalls ein Augenschmaus. Die minarettartigen Türme des Ramgarhia Burga im Osten, die weißen Uhrtürme im Norden und Süden, sowie der Akal Takhat, der zeitlose Thron, im Westen bieten eine würdige Hintergrundkulisse für den Goldenen Tempel. Die nächtliche Stimmung an diesem Ort war beeindruckend. Vor allem die leuchtenden Spiegelbilder der Gebäude im Wasser tragen zur zauberischen Atmosphäre des Ortes bei. Als ich eben inmitten einer Gruppe Sikhs in Richtung Tempel blickte, fielen rund um mich an einer bestimmten Stelle des Singsangs alle auf die Knie. Ich war weit und breit der einzige, der stand. Eben als ich erwog, mich aus Höflichkeit auch hunzuknien, standen aber alle wieder auf und ersparten mir den Kniefall.

Die kalten Fliesen plagten meine nackten Füßen zunehmend. Ich verschob das Betreten des Goldenen Tempels auf morgen, speiste ein gutes Thali in der Nähe und schritt durch dunkle Gassen zurück in mein Hotel. Ein Wort zum Restaurant des Abends. Die Kellner trugen Santa Claus Mützen. Der Schriftzug am Eingang war verziert mit schwarzen Hakenkreuzen auf rotem Hintergrund. That’s India.

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Tag 102 – Amritsar

Ich schlief gut und tief in meinem freundlichen Hotel. Ein voller Tag in Amritsar stand mir bevor und ich freute mich darauf.
Bevor ich ein zweites Mal die Altstadt besuchte, spazierte ich am Vormittag durch das neuere Viertel nördlich der Bahngeleise. Hier gibt es einen Park, der nach aufwändiger Restauration vielleicht irgendwann einmal schön genannt werden kann. In seiner Mitte steht der völlig heruntergekommene Sommerpalast der einstigen Maharajas. Der Grund für meinen Besuch lag im Nordwesten des Parks. Untergebracht in einem imposanten Museumsgebäude findet man hier die Sikh Version des Riesenrundgemäldes von Innsbruck. Dargestellt werden die Heldentaten des sympathischen Maharajas Ranjit Singh, dem Löwen von Punjab, welcher Anfang des neunzehnten Jahrhunderts (also zu Zeiten Hofers) die Fremdherrschaft der Mogulen abschüttelte und das Sikh Reich als unabhängige Nation etablierte (bevor dann die Briten kamen). Das Rundgemälde hat dabei ganz ähnliche Dimensionen wie jenes in Innsbruck. Zur Untermalung werden per Lautsprecher Schlachtgeräusche eingespielt. Im unteren Geschoss des Ranjit Singh Panorama (so heißt das Museum) erzählen Bilder und Dioramen vom Leben des toleranten, sekulär gesinnten (ganz anders als Hofer) Maharajas.

Der Museumsbesuch zeigte mir auch einmal mehr die Irrelevanz offizieller Öffnungszeiten in diesem Land. Ab neun sollte laut dem Schild am Eingang geöffnet sein. Um viertel nach sperrte auch tatsächlich jemand das Eingangstor auf und kassierte das Eintrittsgeld. Doch ich musste weitere dreißig Minuten warten bis jemand die Ausstellungsräume aufschloss und das Licht anmachte.

Zurück in der Altstadt speiste ich zum Frühstück köstliches Kulcha, eine lokale Spezialität bei welcher Parathas mit Kräutern und Kartoffeln gefüllt werden. Sehr sättigend. Dazu gab’s ein gutes Lassi.

Wenig später stand ich an einem der traurigsten Orte des Landes, dem Jallianwala Bagh. Was hier vor fast einem Jahrhundert anno 1919 geschah, schockiert bis heute. Richard Attemborough hat die Geschehnisse in seinem Monumentalfilm Gandhi nachgestellt. Ohne Vorwarnung gab der britische Brigardier Dyer den Befehl auf die unbewaffnete Menge von 20000 friedlich demonstriernden Indern zu schießen. Panik brach aus. Die Menschen versuchten zu fliehen, wurden im Kugelhagel niedergestreckt. Vor den Ausgängen bilden sich Leichenhaufen. Flüchtenende Menschen sprangen in einen Brunnen, aus dem später über hundert Leichen geborgen wurden. Insgesamt starben an die vierhundert. Dyer glaubte seine Pflicht getan zu haben.
Erklären kann man sich die diversen Gräueltaten der damaligen Zeit wohl nur in Anbetracht der damals in Europa noch so weit verbreiteten Weltsicht, welche Inder als Menschen niedrigeren Wertes klassifizierte. Das Massaker von Amritsar markiert jenen Punkt indischer Geschichte, an dem der Weg in Richtung Unabhängigkeit zur Einbahnstraße wurde. Im Kugelhagel von Jallianwala Bagh starben Inder, doch die Briten verloren dabei jegliche Rechtfertigung ihrer Herrschaft über Indien.

Der Platz sieht heute ganz anders aus als damals. Aber immer noch kann man die Einschusslöcher in den alten Wänden sehen. Auch der Brunnen ist noch da. Ein Mahnmal und ein Museum erinnern an die Toten.

Besonders tragisch erscheint mir die große historische Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet die Sikhs, die sich über Jahrzehnte so sehr für das Ende britischer Herrschaft eingesetzt und viel Blut dafür gelassen hatten, wohl am meisten am ersehnten Sieg zu leiden hatten. Indiens Unabhängigkeit wurde für sie zur Katastrophe, denn sie brachte die Teilung des Landes und die Trennlinie führte mitten durch das Kernland der Sikhs. Punjab wurde in zwei Teile zerrissen. Zwischen den einander so nahen Schwesterstädten Lahore und Amritsar tat sich ein bis heute nur schwer überwindbarer Graben auf. In den Jahren nach 1947 mussten im einstigen Punjab zehn Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Eine halbe Million wurde von der einen oder anderen Seite massakriert.

Später besuchte ich ein zweites Mal den Harmandir Sahib Komplex rund um den goldenen Tempel. Bei Tag war das Ambiente nur halb so schön wie bei Nacht. Doch dafür war es wärmer und meine nackten Füßen froren deutlich weniger. Sogar die Sonne zeigte sich und, wo kein Schatten war, wurde der Boden warm. Der nördliche Uhrturm beherbergt ein Museum zur Geschichte der Sikh. Viele Bilder zeigen Guru Nanak, der die Religion Ende des fünfzehnten Jahrhunderts gründete. Seine selbstkomponierten Lieder werden auch heute noch gesungen. Ich weiß viel zu wenig über den Sikhismus, doch ein Kernaspekt scheint mir zu sein, dass der Fokus weniger auf Askese (wie im Hinduismus und Buddhismus), sondern auf ehrlicher, harter Arbeit liegt. Zudem gibt es hier keine Erlösung aus dem karmagesteuerten Samsarakreislauf der Wiedergeburt. Es geht immer weiter. Und man muss Turban tragen. Soweit mein karges Wissen über die Sikhs. Erstaunlich ist die Geschichte der Verfolgungen, denen die Sikhs immer wieder ausgesetzt waren – vor allem unter den Mogulen. Die Bilder im Museum zeigen viele Sikh Märtyrer, die von den Mogulen – da sie sich weigerten zum Islam zu konvertieren – auf sehr kreative Weise getötet wurden. Die Bilder sind sehr explizit. Da werden Menschen der Länge nach mit einer Säge in zwei Teile geschnitten, in großen Kesseln lebendig gekocht, mit Ziegelsteinen eingemauert, mit Messern gehäutet, skalpiert, stranguliert, kopfüber gehängt und geschlagen, etc. Unmittelbar daneben sieht man tatsächliche Fotos jener Sikhs, die bei diversen Anschlägen und Unruhen in den siebziger und achtziger Jahren ihr Leben ließen. Der lange unterschwellige Konflikt kulminierte als Premierministerin Indira Gandhi 1984 in der Operation Blue Star das Gebäude des zeitlosen Throns gleich neben dem goldenen Tempel erstürmen ließ. Als Rache wurde die beliebte Premierministerin im selben Jahr von radikalen Sikhs ermordet.

Nach einer halben Stunde Schlangestehen entlang des Stegs im Nektarbecken gelangte ich schließlich ins Innere des Goldenen Tempels. Auf drei prunkvollen Stockwerken murmeln alte Männer mit langen Bärten und Turban vor sich hin. Manche sind dabei über überdimensionierte alte Bücher gebeugt, die wohl Versionen des heiligen Buches Guru Granth Sahib sind. Das Original wird jeden Morgen in den Goldenen Tempel getragen und über Nacht im Zeitlosen Thron verwahrt. Inmitten frommer Sikhs erkundete ich sämtliche Ecken und Enden des Tempels. Es gibt hier ein Becken mit heiligem Wasser. Ein jeder Besucher schöpft mit den Händen daraus und trinkt. Das ist in der Tat noch schlimmer als die Weihwassertradition im Christentum. Da fasst man wenigstens nur rein.

Ich verbrachte noch eine Weile in der Nähe des goldenen Tempels, umrundete den ganzen Komplex und kostete den als eine Art Kommunion ausgegebenen süßen Brei, von dem man die Hälfte nach Erhalt bei den Sikhs nahe dem Steg als eine Art Opfer abgibt. Den Rest darf man dann essen. Köstlich.

Nach nachmittäglichem Kaffee und Croissant irrte ich eine Weile durch das lebhafte Gassengewirr rund um den Katra Jaimal Singh Bazaar. Ich bahnte mir meinen Weg nach Nordwesten bis zum hinduistischen Sri Durgiana Tempel, welche eine Art Hindu Kopie des Goldenen Sikh Tempels ist. Ebenfalls in einem großen Wasserbecken gelegen und über einen Steg erreichbar ist der Durgiana Tempel kleiner und einfacher, aber auch viel ruhiger und friedlicher. Beide Tempel entstanden etwa zeitgleich Ende des 16. Jahrhunderts.

Problemlos gelangte durch Smog und dichten Verkehr zurück zu meinem Hotel und von dort zum Bahnhof. Auf dem Weg sah ich noch zwei der imposanten alten Stadttore, welche die Altstadt begrenzen. Der Bahnhof von Amritsar war der erste dieser Reise, auf dem es keine englischsprachigen Lautsprecherdurchsagen gab, nur Hindi und Punjabi. Dennoch fand ich meinen Zug.
Eineinhalb Stunden nach Planabfahrtszeit setzte er sich dann tatsächlich
auch in Bewegung und begann seine lange Reise nach Ajmer im schönen Rajasthan.

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Tag 103 – Ajmer

Normalerweise schlafe ich in indischen Züge sehr gut. Erschwert wird dies jedoch, wenn mir gegenüber eine Gruppe weiblicher indischer Teenager bis Mitternacht lautstark Hindi Pop Songs singt und hernach eine Mutter mit Kind sich hartnäckig weigert, das Licht neben meinem Kopf abzudrehen, weil sich ihr Nachwuchs im Dunkeln fürchtet. So ging die Fahrt von Amritsar nach Süden recht schlafarm vorüber.

Da die meisten Fahrgäste in Jaipur ausstiegen, hatte ich den Waggon die restliche Strecke bis Ajmer fast für mich allein. Von einem durch den Zug streifenden Händler erstand ich zum Frühstück drei schmackhafte Samosas und Tee. Vor dem Fenster sah ich
indes die hügelige, zunehmend wüstenähnliche Landschaft des zentralen Rajasthans vorbeigleiten. Zwei Wochen lang würde ich diesen westindischen Bundesstaat erkunden.
Ich hatte hier einiges vor.

Mit nur drei Stunden Verspätung fuhr der Zug kurz nach Mittag im chaotischen Ajmer ein. Ich stieg aus und genoss die wiedergefundene Wärme. 25 Grad und Sonne. Eine Wohltat nach dem kalten Amritsar. Nachdem ich mein Gepäck am Bahnhof abgeben und im nahen Restaurant köstliches Malai Kofta verschlungen hatte,  erkundete ich die Stadt.

Ajmer ist vor allem für Muslime von großer Bedeutung, befindet sich hier doch das Grab (Dargah) des Khwaja Muin-ud-din Chishti, eines heiligen Sufis, der im zwölften Jahrhundert aus Persien hierher gekommen war. Über die Jahrhunderte hinweg sind viele Mogulenherrscher hierher gepilgert. Manch einer hat das Grab um einen prunkvollen Torbogen, einen Schrein oder eine Moschee ergänzt. So findet man heute ein beschauliches Konglomerat von Prunkbauten unterschiedlicher Zeiten um das eigentliche Grabmal vor. Dazwischen drängen sich die Pilger dicht an dicht und berühren mit Händen, Stirn und Lippen alle erreichbaren Gebäudeteile. Der Ort, inmitten des engen Gassengewirrs der Altstadt erinnerte sehr an das Grab des Hazrat Nizam-ud-din in Delhi.

Etwas weiter westlich auf einer kleinen Anhöhe liegt die pittoreske Ruine der Zweieinhalb Tage Moschee. Interessanterweise war dies ursprünglichen eine Sanskritschule. Erst als die Stadt anno 1198 an muslimische Herrscher fiel, wurde eine Moschee daraus.Wie das imposante Gebäude zu seinem seltsamen Namen kam, ist nicht ganz klar. Die Theorie, dass sie in nur zweieinhalb Tagen erbaut wurde, entbehrt jedenfalls jeglicher Glaubwürdigkeit.

Nach diesen zwei Attraktionen glaubte ich die Highlights der Stadt gesehen zu haben, doch zwei in meinen Augen noch schönere Sehenswürdigkeiten standen erst noch bevor. Was sich im Inneren des jainistischen Nasiyan Tempels befindet, ist schwer zu beschreiben, zählt aber zu den schönsten „Dingen“, die ich auf dieser Reise gesehen habe. Auf einer Fläche von ca. vierzig mal zwanzig Metern steht hier ein gewaltiges, goldenes Diorama, das den kompletten Innenraum ausfüllt. Man blickt von den oberen Stockwerken staunend darauf hinab, hinüber und hinauf. Mit seinen hochaufragenden Türmen, goldenen Bergen und fliegenden Elefantenkopfschiffen ist das Kunstwerk sehr dreidimensional. Dargestellt werden gleich mehrere Motive: Zum einen die jainistische Kosmologie der ewigen Scheibenwelt mit dem heiligen Berg im Zentrum, zum anderen der sagenumwobene Tempel von Ayodhya mit Episoden aus dem Leben Adinaths. Aus allen Winkeln ein faszinierender Anblick. Obwohl das Objekt ein ganz anderes ist, wurde ich doch an das schöne Kunsterlebnis im Dachgeschoss der abgeschiedenen Pemayangtse Gompa im ach so fernen Sikkim erinnert.

Nahe dem jainistischen Tempel findet man auch einen schönen Hindutempel und eine christliche Kirche. Das Nebeneinander von vier und mehr Religionen scheint in Ajmer gut zu funktionieren.

Ihren besonderen Reiz entfaltet die Stadt aber etwas weiter nördlich am Ufer des großen Sees von Ana Sagar. Gut restaurierte Pavillons aus der Mogulenzeit säumen am Rande einer grünen Parkanlage das Ufer. An den Nordufern des Sees sieht man schöne weiße Gebäudekomplexe und braunrote Hügel. Der Ort erinnert ein wenig an den Gardasee. Lang saß ich am Ufer und sah See und Menschen zu.

Ein halbstündiger Marsch brachte mich zurück zum Bahnhof und dem imposanten Uhrturm gleich daneben. Per Tuktuk fuhr ich zum Busbahnhof und bestieg den Bus ins kleine Pushkar, nur eine halbe Stunde von hier entfernt. Interessant ist, dass man hier neben Tuktuks und Fahrradrikshas auch viele fiakerähnliche Pferdegespänne sieht.

Abschließend kann ich zu Ajmer sagen, dass die Stadt anziehend und abstoßend zugleich ist. Schon lange nicht mehr sind mir so aufdringliche Tuktukfahrer und Händler begegnet. Man muss sich regelrecht losreißen, um von der Stelle zu kommen. Auch die Dichte an Bettlern in dieser Stadt ist mühsam. Die Gassen rund um das Sufigrab sind besonders bedrückend. Während man sich dort die Schuhe an oder auszieht wird man von bis zu fünf Bettlern belagert, die an einem zupfen und zerren. Schockierend sind die vielen Beinlosen, die am Boden herumkriechen und mit monotoner Stimme unaufhörlich „Alllah, Allah“ rufen. Traurig, dass diese Menschen darauf angewiesen sind, hier inmitten der Horden um Almosen zu bitten. Von den vielen Bettlern, die auf dem Fußgängersteg gegenüber dem Bahnhof liegen, sahen einige wie tot aus.

Nach einer halben Stunde Fahrt entlang des Ana Sagar und hinauf in die Hügel erreichte ich Pushkar. Der Ort hat nur etwa zehntausend Einwohner. In den zwei Wochen des alljährlichen Kamelmarktes im Herbst sind aber zwei Lakh Menschen hier. Von überall her aus den westlichen Wüsten bis zur pakistanischen Grenze strömen dann Händler und Pilger nach Pushkar, um im heiligen See zu baden und Kamele zu kaufen.

Gleich nach meiner Ankunft fand ich ein wunderbar günstiges Zimmer in einem stillen, grünen Innenhof. Durch die unglaublich touristische Straße entlang des hinter den Häusern und Tempeln verstecken Sees gelangte ich später zu einem Restaurant mit Dachterasse. Bei Blick auf den nächtlichen See aß ich eine gute Pizza und zog mich schon bald in mein Hotel zurück.

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Tag 104 – Pushkar

Pushkar weist klar die höchste Dichte westlicher Touristen auf, die ich auf meiner bisherigen Reise gesehen habe. Man fragt sich warum. Der Umstand, dass hier einer der wenigen Brahmatempel (manche sagen der einzige Indiens) steht, ist wohl ein Pilger- aber kaum ein Touristenmagnet. Die weißen Stufen zum heiligen See und die vielen neueren Tempel sind nicht sonderlich spannend. Die Lage in den Hügeln am
Rand der westlichen Wüste ist zwar
schön, aber dergleichen findet man anderswo auch. Was also wollen all
diese Leute hier? Was rechtfertigt die Existenz von hunderten Souvenirläden, Hotels und Restaurants? Warum verkauft man hier Che Guevara und Salvador Dalí T-Shirts? Keine Ahnung.

Wahrscheinlich ist es einfach der Mythos der ach so spirituellen Hippi-Enklave Pushkar, der dem Ort seit den siebziger Jahren Horden sinnsuchender, westlicher Besucher beschert. Man setzt sich barfuß auf die Stufen zum See, plappert einem Priester ein Loblied auf Brahma nach, streut Rosenblüten ins Wasser, macht ein bisschen Yoga, kauft sich eine Trommel, raucht ein bisschen Hasch, gibt irgendeinen Singsang von sich und kommt sich dabei „oh so spiritual and open-minded“ vor. Soweit jedenfalls mein Eindruck von den meisten Pushkar-Besuchern.

Nach einem gutem Frühstück bei Kardamonkaffee und Dattel-Poridge besuchte ich als erstes die Ghats, die heiligen Stufen zum See. Die vielen bunten Hinweisschilder mit den Benimmregeln für Touristen verunstalten die ansonsten in weiß gehaltenen Stufen ein wenig. Schuhe dürfen nicht in die Nähe des Sees gebracht werden. Baden ist ohnehin nur Hindus vorbehalten. Auch Fotografieren ist am Ufer überall verboten. An letzteres Verbot würde man sich ja auch halten, wenn sich die Inder selbst dran halten würden. Die Situation war recht abstrus. Beim Betreten der Ghats wurde ich noch streng ermahnt, nicht zu fotografieren. Eine Minute später, bat mich eine Gruppe Inder, ein Foto von ihnen zu machen. Ich wies streng auf das große Schild gleich hinter ihnen: No photography. Ein amüsanter Rollentausch. Jetzt war ich es, der Inder ermahnt nicht zu fotografieren. Ein Stück weit spazierte ich die Stufen entlang. Der viele Taubenkot am Boden lässt einen seine Sandalen vermissen. Nachdem ich etwa ein Dutzend indische Touristen
beim Fotografieren beobachtet hatte, zückte ich schließlich doch selber die Kamera – nur um gleich von einem Priester böse ermahnt zu werden: „No photography! Show some respect.“ Seufz.

Meine nächste Station war der Brahma-Tempel, ein Unikum in Indien. Jeder kennt Brahma als Schöpfer des Universums. Doch während der Zerstörergott Shiva und der Erhaltergott Vishnu immer wieder mal ins Geschehen eingreifen, hat sich Brahma nach seinem initialen Schöpfungsakt so ziemlich rausgehalten. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum es so gut wie keine Brahma Tempel gibt. Es bringt nichts, ihn anzubeten. Der tut ja nichts. Nur in Pushkar ist es anders. Und da man doch irgendwie meint, dem Schöpfer des Universums Respekt zollen zu müssen, kommen die meisten Hindus einmal in ihrem Leben hierher.

Abgesehen von seiner theologischen Sonderstellung ist der Brahma-Tempel wirklich nichts Besonderes. Man drängt sich recht brutal nach vor zum Schrein und bewirft das Abbild des viergesichtigen Gottes mit Rosen. Obwohl alle Kameras am Eingang abzugeben sind, schmuggeln viele Inder ihre Smartphones herein und fotografieren ungescholten. Nur die Touristen halten sich an die Spielregeln.

Nahe dem Tempel liegt das Brahma-Ghat, eine der heiligsten Stellen am Seeufer. Sobald man dort ankommt, wird man sogleich von einer Art Priester geschnappt und kommt nicht umhin, den angebotenen Hokuspokus mitzumachen. Ich legte besonders viel Theatralik in meine Wiederholung des vorgesagten Mantras. Natürlich kommt dann irgendwann die Forderung nach Geld. Eine Schautafel erklärt, dass man pro Familienmitglied, für das ein Brahma-Segen gesprochen wurde, an die zwanzig Euro zu zahlen habe. Die Briten, die ich in Kerala getroffen hatte, haben an diesem Ort gut fünfzig Pfund liegen lassen. Ich gab wissend lächelnd hundert Rupien (€1,30) her. Nichts Schlimmes geschah. Man verabschiedete sich freundlich von mir. So geht’s also auch. Wenn das die Briten wüssten.

Als nächstes führte mich mein Weg zum kleinen Busbahnhof, wo ich die morgige Weiterreise nach Udaipur organisierte. Gleich dahinter auf einem Hügel liegt ein Kali-Tempel und noch einmal dahinter auf einem viel größeren Hügel steht der kleine Pap Mochani Tempel. Dort hinauf wollte ich nun.

Nach zwanzig Minuten Aufstieg in der warmen Mittagssonne stand ich oben und hatte herrliche Aussicht hinab zum See, entlang eines Hügelkamms nach Osten und in Richtung Wüste nach Westen. Im Südwesten sah ich den weitaus höheren Hügel mit einem Saraswati-Tempel am Gipfel. Dort wollte ich heute zum Sonnenuntergang sein. Ich hoffte, es dort ruhiger zu haben. Das Genießen der Aussicht fiel mir auf dem Pap Mochani Hügel ein bisschen schwer, da ich schon seit der Hälfte des Weges von einer Horde nerviger Kinder belagert wurde. Es waren nicht wirklich arme Kinder. Das ganze sah mehr nach Schulausflug aus. Dennoch wurden sie nicht müde, mich nach Geld zu fragen.

Durch volle, touristische Straßen, in denen man inmitten der Menschen auch immer wieder schöne Rinder findet, gelangte ich zurück zu meinem Hotel. Nahebei aß ich köstliches Cashew Curry mit Butter Paratha. Dann genoss ich ruhige Stunden im schönen, sonnigen Innenhof meines Hotels.

Gegen Abend lockte der Hügel. Vorbei an geschmückten Kamelen und Kamelkarren erreichte ich die steinernen Stufen, die mich binnen vierzig Minuten hinauf zum Gipfel führten. Dreimal am Weg begegneten mir auf der Sitar spielende Inderinnen mit kleinen Kindern, die in bunten Kleidern zur Musik tanzten. Nett. Da gibt man gerne ein paar Rupien her. Der Tempel am Gipfel ist nichts Besonderes, aber die Aussicht ist fantastisch. Pushkar wirkt aus der Höhe sehr klein kompakt, eine Oasenstadt rund um den kostbaren See. Der Schatten meines Berges streckte sich zunehmend dem Wasser entgegen.Über eine Stunde lang blieb ich am Gipfel und blickte von den Felsen hinab in alle Richtungen. Schließlich ging die Sonne rot über der westlichen Wüste unter und ich sprang zurück hinab zum See.

Als später im Hotel der Strom ausfiel, setzte ich mich noch einmal ins Freie unter einen klaren Sternenhimmel. Direkt über der Fassade meines Hotels sah ich Orion, Stier, Stiertreiber und die Pleiaden. Rigel, Beteigeuze und Aldebaran waren hell wie sonst nur selten.

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Tag 105 – Udaipur I

Gegen sieben Uhr Morgen verließ ich mein Hotel in Pushkar und bestieg einen Bus nach Udaipur, welcher sich eine Stunde nach Planabfahrtszeit auch tatsächlich in Bewegung setzte. Die sechsstündige Fahrt nach Süden war sehr holprig, da die Straße eine Folge von Baustellen war und der Bus so gut wie keine Stoßdämpfer hatte. Jede Busfahrt in Indien ist ein weiteres Argument fürs Zugfahren. In Zügen kann man wunderbar lesen. In Bussen läuft man eher Gefahr sich mit seinem Buch zu erschlagen, wenn einen die nächste Bodenwelle aus dem Sitz schleudert. Während die Landschaft Rajasthans am Fenster vorbeiholperte, begann ich daran zu zweifeln, ob es eine gute Idee war, Udaipur wieder zurück auf meine Route zu setzen. Ursprünglich hatte ich einen Tag mehr in Pushkar und einen halben Tag mehr in Jaipur eingeplant. Das eher unspektakuläre und dezent anstrengende Pushkar hatte mich gestern aber kurzfristig dazu bewogen, Udaipur, die Stadt am See, doch noch zu besuchen. Hier saß ich nun im ungemütlichen Bus und hoffte endlich anzukommen. Wir passierten eine kilometerlange Aneinanderreihung von Marmor- und Granitshops am Straßenrand. Nicht fertige Skulpturen werden hier verkauft, sondern rohe Steinblöcke. Weit konnte es nicht mehr sein. Ich stellte mich schon einmal darauf ein, bei meiner Ankunft in Udaipur von Tuktukfahrern bestürmt zu werden.

Schließlich waren wir da. Der Bus setzte uns jedoch nicht am Busbahnhof von Udaipur ab, sondern irgendwo in der Peripherie. Kein Tuktuk weit und breit. Na super.
Gemeinsam mit einem netten Inder aus Mumbai, der mit englischsprachigem Guidebook durch Rajasthan tourte, fand ich schließlich doch noch ein Tuktuk. Wir fuhren näher ins Zentrum und ich nahm ein weiteres Tuktuk in die Altstadt. Ein günstiges Hotel am Seeufer war schnell gefunden. Ohne den See noch gesehen zu haben, bezog ich mein Zimmer. Es war etwa fünf Uhr Nachmittags, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Nun wurde es aber Zeit festzustellen, ob sich der weite Weg zurück nach Süden auch ausgezahlt hatte. Ich stieg die schmalen Stufen zur Dachterasse meines Hotels direkt am Ufer des Sees von Pichola hinauf. Da stand ich und sah mich um. Ja. Udaipur war die Reise wert. Und wie.

Ich war gebannt, uberwältigt, hin und weg. Mit wenigen Blicken kletterte Udaipur in meinem persönlichen Ranking der schönsten Städte und Dörfer der Welt ganz nach oben, ex aequo mit Venedig, Pont-en-Royans und Luang Prabang. Und beinahe hätte ich diesen Ort verpasst.

Die weiße Stadt am blauen See leuchtete mir entgegen. Auf einer Insel steht ein Tempel, auf einer andere
n das weitläufige Lake Palace Hotel. Der hoch aufragende City Palace mit seinen Türmen und Erkern begann gleich links von mir und erstreckt sich weit das östliche Ufer entlang nach Süden. Doch auch die Gebäude am mir gegenüberliegenden, westlichen Ufer sehen aus wie Paläste. Eine schmale Fußgängerbrücke führte ein paar hundert Meter rechts von mir über das Wasser. Dutzende Boote befuhren den See, über dem Vögel – ob in Schwärmen oder als einzelne Jäger – ihre Runden drehten. Und in der Ferne erheben sich grüne Hügel, unter denen vor allem jener hervorsticht, auf dem der fast verfallene Monsoon Palace in die Höhe ragt.

Diese bildgewaltige Komposition der optischen Reize beleuchtete und vervollständigte die rote Sonne, welche sich mir gegenüber in Richtung Horizont senkte. Es war wunderschön. Ich ging heute nirgendwo mehr hin, blieb einfach auf dieser Terrasse, trank das erste Bier seit langem und sah dabei zu, wie die Dämmerung kam, wie die Sonne verschwand und die Venus erschien. Hoch stand der Halbmond. Fackeln wurden auf der Insel des Lake Palace Hotel und am westlichen Ufer angezündet. Die Spiegelung des Feuers im Wasser zauberte langgezogene Streifen in den See.
Udaipur ist wunderbar. Und morgen hatte ich einen ganzen vollen Tag, um diese Stadt zu erkunden.

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Tag 106 – Udaipur II

Ich stand früh auf, um den Tag voll auszukosten. Ein Morgenspaziergang führte mich zur kleinen Brücke im Norden des Sees und von dort dem Wasser entlang nach Süden vorbei am Hanuman Ghat und zu den Badestufen nahe einem kleinen Tempel. Die Aussicht auf den City Palace, das Lake Palace Hotel, See und Hügel war umwerfend. Zudem ging eben die Sonne hinter den Mauern und Türmen des City Palace auf.

Nach gutem Frühstück machte ich mich dorthin auf den Weg. Der weitläufige, prunkvolle Palast lädt per Audioguide zur Erkundung ein. Schon der erste Satz ist programmatisch: „Die Mewar-Dynastie ist ewig!“ Die Geschichte Udaipurs ist die Geschichte der Mewars, jenes unbeugsamen Rajput-Clans, der sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder gegen Mogulen und andere Aggressoren behaupten konnte. Und wenn der Audioguide da von Ewigkeit spricht, so ist ihm ein bisschen Recht zu geben. Der Stammbaum lässt staunen. Die Mewars können ihre Dynastie lückenlos bis ins sechste Jahrhundert zurückverfolgen und sind somit die älteste immer noch aktive Herrscherdynastie der Welt. Direkte politische Macht haben sie im demokratischen Indien natürlich keine mehr. Dennoch ist der Maharana von Udaipur mit seinen Besitztümern (z.B. dem Lake Palace Hotel) immer noch einer der mächtigsten Menschen der ganzen Region.

Während ich zwei Stunden lang durch die Galerien und Höfe des City Palace geführt wurde, sah ich viel Schönes und hörte von interessanten geschichtlichen Begebenheiten. So stellten einige Gemälde die Schlacht von Haldighati dar, in welcher die Mewars den zahlenmäßig überlegenen Mogulen ein Unentschieden abrangen. Abstrus und genial: Um die gefürchteten Kriegselefanten der Mogulen zu bezwingen, „verkleideten“ die Mewars ihre Pferde mit falschen Rüsseln. Die Elefanten hielten diese daraufhin für Elefantenkälber und griffen nicht oder nur zögerlich an. Darauf muss man erst einmal kommen.

Ein besonders schöner Ort im City Palace ist der grüne Baadi Mahal mit seinen Bäumen, Wasserbecken, bunten Bleiglasfenstern und seiner Aussicht über die ganze Stadt. Auch der „Pfauenhof“ mit seinen Mosaiken ist ein Highlight. Immer wieder findet man auch schöne Sicht auf See und Inseln.

Einen großen Teil des Stadtpalasts nimmt das exklusive Shiv Niwas Palace Hotel ein. Teile davon darf man besichtigen. Beeindruckend ist die prunkvolle Durbar Hall mit ihnen drei Lustern, ihren Gemälden und der herrlichen Aussicht zum See.  In den Galerien darüber findet man die gltzernde Kristallsammlung. Für ein Vermögen hatte Maharana Sajjan Singh 1877 bei der britischen Firma F&C Osler & Co eine ganze Inneneinrichtung aus geschliffenem Glas in Auftrag gegeben. Neben tausenden Gläsern und Tellern bestellte er auch Schreibtische und Kommoden, ja sogar ein ganzes Bett aus Glas. Der Maharana verstarb, bevor die Lieferung eintraf. Er schlief niemals in seinem selbstentworfenen Kristallbett. Der ganze Schatz wartete 110 Jahre lang, vergessen in Kisten, auf seine Wiederentdeckung.

Einer der Kellner in der riesigen, prunkvollen Durbar Halle machte mir das morgige Gala-Diner am Silvesterabend schmackhaft. Sogar der Maharana würde da sein. Es klang verlockend, war aber doch etwas über meinen Verhältnissen. Außerdem wollte ich da schon in Jaipur sein.

Ich verabschiedete mich vorerst vom Palastgelände und aß ein gutes Mittagessen mit herrlicher Aussicht. Hernach besuchte ich eines der alten Havelis, der prunkvollen Sradthäuser am Seeufer, in welchem ein kleines Museum mit kuriosen Exponaten untergebracht ist, u.a. dem größten Turban der Welt und einer Puppengalerie mit Szenen aus der alten Zeit.

Nach Kaffee, Kuchen und WLAN im Cafe Edelweiss durchschritt ich noch einmal den Stadtpalast in voller Länge um zu den Bootsanlegestellen im Süden zu gelangen. Es folgte eine ganze Stunde am See mit Blick auf Stadtpalast und Lake Palace Hotel, welches wir umrundeten. In der Ferne auf seinem Hügel thronte der Monsoon Palast. Unser Boot legte schließlich auf der Jagmandir Insel südlich des Lake Palace an. Hier konnte man bleiben so lang man wollte. Es gab einen netten Park, schöne Steinelefanten, einen Christbaum und teuren Piccolo-Sekt. Es war sommerlich warm.

Zurück am Ufer erwartete mich noch eine weitere Attraktion, ausnahmsweise kein Palast, sondern zur Abwechslung wieder einmal ein Tempel. Im schönen Jagdish Tempel mit seiner von Steinelefanten flankierten Treppe, wird jene Variante von Vishnu verehrt, die der Leser schon von Odishas Puri kennt: Jagannath, Lord of the Universe. Neben beachtlichen Gravuren an seiner Außenseite glänzt der Tempel vor allem durch seine schaurigschöne Garudastatue.

Allmählich neigte sich der Tag dem Ende zu und ich beschloss den Sonnenuntergang genauso zu verbringen wie am Tag zuvor, nämlich auf der Dachterasse meines Hotels. Wieder war es wunderschön, dort das Ende des Tages und den Anfang der Nacht zu erleben.

Beim Abendessen hatte ich später noch besonders amüsante Unterhaltung. Vielen westlichen Besuchern wird Udaipur unterschwellig bekannt vorkommen, so als hätten sie es schon irgendwo gesehen. Tatsächlich diente der Ort als exotische Kulisse für den klassischen Bond-Film „Octopussy“ von 1984. Viele Restaurants und Hotels zeigen den Film allabendlich. So speiste ich gutes Curry und lachte gleichzeitig über die vielen Klischees, Ungereimtheiten und Unsinnigkeiten des Films. Udaipur wird darin nie erwähnt. Es heißt lediglich, Bond solle nach Delhi fliegen. Kurz sieht man dann einen Hubschrauber ums Taj Mahal in Agra kreisen, um dann in Udaipur zu landen. Geographisch sehr bedenklich. Die Tuktuk Verfolgungsjagd in denselben Straßen, die ich heute durchstreift hatte war sehr amüsant. Namentlich korrekt in den Film geschafft hat es lediglich der Monsoon Palace, der ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt. Das Lake Palace Hotel wird zur mysteriösen, nur von wunderschönen Frauen bewohnten Insel im See, in welche sich Roger Moore in Krokodilverkleidung einschleichen muss. Und den klassischen Schwertschlucker und Nagelbett-Fakir gibt es wohl auch nur in Filmen. Jedenfalls habe ich mich köstlich amüsiert.

Gegen zehn nahm ich mir ein Tuktuk zum Bahnhof. Als der Zug losfuhr lag ich schon längst in meiner Koje.

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Tag 107 – Jaipur I

Ich erreichte Jaipur an einem kalten, nebligen Morgen. Nachdem ich mein Gepäck am Bahnhof verstaut hatte, gelangte ich per Fahrradriksha bis zu den Mauern der Altstadt, welche ich durch eines der prunkvollen Tore betrat. Anders als alle anderen „Altstädte“ Indiens, ist diese kein labyrinthisches Gewirr verwinkelter Gassen. Ganz im Gegenteil. Alles ist geometrisch in rechten Winkeln ausgerichtet, ganz so wie es Maharaja Jai Singh II (ein leidenschaftlicher Astronom) zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts plante, als er seine Hauptstadt von Amber ins neu gegründete Jaipur verlegte. Man nennt Jaipur auch „the pink city“. Dies rührt daher, dass der Maharaja Ende des neunzehnten Jahrhunderts anlässlich des Besuchs des britischen Thronfolgers die ganze Stadt pink anstreichen ließ. Diese Farbe gilt hier als Zeichen der Gastfreundschaft.

So schritt ich also eines kalten Wintermorgens durch die noch leeren pinken, breiten Straßen der Altstadt. Die Farbe würde ich allerdings eher als ocker oder dunkelorange bundchnen. Außerdem halten sich nur die Fassaden an den Hauptstraßen an die einheitliche Farbvorgabe. In den Seitenstraßen fehlt davon jede Spur.

In einem früh öffnenden Restaurant frühstückte ich reichlich und schritt dann weiter ins Herz der Altstadt. Schließlich stand ich vor Jaipurs berühmtesten Gebäude, dem Hawa Mahal, dem Palast der Winde. Man sieht ihn oft auf Postkarten und so manch Broschüre einer Indienreise wirbt mit dem Bild des Hawa Mahal gleich neben dem des Taj. Steht man davor, sieht es gar nicht so besonders aus. Sicherlich ist die Fassade zur Straße hin eine der schönsten Indiens. Dennoch hätte ich mir das Hawa Mahal irgendwie größer vorgestellt. Das Innenleben des Palastes mit seinen schönen Höfen und schummrigschönen Säulenhallen gefiel mir dann aber sehr. Der Zweck des Gebäudes war klar definiert. Hier hielt Maharaja Pratap Singh seine vielen Frauen vor der Welt verborgen. Nur Eunuchen und der Maharaja hatten Zugang. Es gibt kein einziges Fenster durch das man von der Straße her ins Innere des Palastes hätte spähen können. Alle Öffnungen waren mit undurchsichtigem Bleiglas oder mit einem steinernen Gitter verdeckt. Der Audioguide erzählte mir vom intrigenreichen Leben der Maharanis. Eine jede war darauf erpicht, dass ihr Sprössling zum Thronfolger würde. Die Idylle war gestört vom ständigen Kampf um die Gunst des Dichterkönigs.

Es gibt im Hawa Mahal fast keine Treppen, sondern nur sanft ansteigende Wendelwege. Die Herrscherdamen konnten aufgrund ihrer überladenen Gewänder meist nicht gehen und wurden von Eunuchen mit Senften in die oberen Stockwerke getragen.

Schön ist die Aussicht von den oberen Galerien des Hawa Mahal in Richtung Westen. Man sieht die Bauten des Stadtpalastes, das hohe „Himmelaufspießende Minarett“ und vor allem die bizarr anmutenden Strukturen des Jantar Mantar. Dies war mein nächstes Ziel. Inzwischen war die Sonne da.

Über die Astronomiebegeisterung von Maharaja Jai Singh II habe ich ganz zu Beginn dieser Reise schon einmal geschrieben. Damals beschrieb seine gebäudegroßen Observatorien in Delhi. Ungleich komplexer, größer und weitläufiger sind aber jene Bauten, die der Astronom und Herrscher hier in der von ihm gegründeten Stadt Jaipur errichten ließ. Mit verschiedenen Methoden erlauben die überdimensionierten Experimente aus Stein, Fäden und Skalen die genaue Bestimmung der Position von Objekten am Nachthimmel. Rektaszension, Deklination und mehr wurden hier ermittelt. Am Beeindruckendsten ist wohl das etwa dreißig Meter hohe Dreieck im Winkel von Jaipurs geographischer Breite, das auch als größte und genauste Sonnenuhr der Welt verwendet werden kann.
Fast zwei Stunden lang versuchte ich die Funktion der diversen Experimente zu verstehen und hörte dabei viel vom Streben Jai Singh II.
Wie anders hätten wohl die Früchte seines Strebens nach Erkenntnis ausgesehen, hätte er schon Kenntnis von Galilei, von Newton und vom Teleskop gehabt. Doch leider drang die Kunde davon nicht an Jai Singhs Ohr.

Direkt neben dem Jantar Mantar steht der Stadtpalast. Teile davon sind immer noch von der Herrscherfamilie bewohnt und können nicht (oder nur für viel Geld) besichtigt werden. Der Rest ist prachtvoll genug, um den Besuch zu entlohnen. Besonders faszinierend fand ich die Waffenkammer. In so vielen Museen dieser Welt fand ich Waffenkammern eher langweilig, nicht so in Jaipurs Stadtpalast. Es ist beeindruckend, wie schön Schwerter, Dolche und Schusswaffen sein können, wenn man von ihrem Verwendungszweck absieht.

Interessant ist auch, wie die Maharajas von Jaipur das zwanzigste Jahrhundert verlebt haben: ob als Offiziere in der britischen und später indischen Armee oder als Kapitäne des erfolgreichen Polo-Nationalteams. Polo war am Herrscherhof auch bei den Damen beliebt. Da sie nicht gesehen werden durften, spielten sie aber bei Nacht mit einem speziellen Poloball, in dessen Inneren eine Kerze brennt.

Nach dem Besuch im Stadtpalast bestieg ich noch das nahe „Himmelaufspießende Minarett“, das ebenfalls eine spannende Geschichte aufweist. Sein Erbauer scheute sich der nahenden Armee des Feindes zu begegnen und bevorzugte den Tod durch Schlangenbiss. Seine einundzwanzig Frauen warfen sich nach alter Hindutradition ins Feuer seines Scheiterhaufens. Jedenfalls bietet der 35 Meter Turm eine imposante 360 Grad Sicht auf den Dreimillionenmoloch Jaipur. Mit der Schönheit Udaipurs kann diese Stadt gewiss nicht mithalten.

Ich spazierte entlang eines belebten Bazars, verließ die Altstadt durch ein weiteres der großen pinken Tore, aß ein spätes Thali, suchte mir ein nettes Hotel und holte mein Gepäck vom Bahnhof
ab. Nach ein paar erholsamen Zimmerstunden, bahnte ich mir meinen Weg durch das Chaos der Straßen zu einem guten Restaurant und zurück. Obwohl heute das Jahr 2014 zu Ende ging, war nicht viel los. Die meisten Menschen gingen schlafen wie an jedem anderen Tag auch. Ein Mann, den ich nach „New Year Celebration“ fragte, meinte „only in the big cities, not in Jaipur“. Drei Millionen Einwohner gilt wohl nicht als „big“.

So tat ich es den Einheimischen gleich und ging eine Stunde vor Jahreswechsel zu Bett. Da mein Hotel um elf seine Tore zusperrte blieb mir ohnehin nichts Anderes übrig.

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Tag 108 – Jaipur II

Der erste Tag des neuen Jahres bescherte mir wieder ein ganz besonderes Reisehighlight. Der auf einer Anhöhe befestigte Palast der alten Hauptstadt zehn Kilometer nördlich von Jaipur wirkt nicht nur, als befände man sich in einem Fantasy-Roman, er heißt auch so: Amber.

Obwohl keinerlei Verbindung zu Roger Zelaznys Amber Chronicles besteht, kommt das Fort von Amber der Vorstellung, die ich von Corwyns Amber hatte, recht nah. Nicht so schön, doch weitläufiger als Amber Fort ist das auf dem Hügelkamm darüber gelegene Jaigarh Fort. Mitsamt den vielen Verteidigungswällen auf den Hügeln ringsum und den schönen Wasserreservois bilden die beiden Forts ein zauberisches Ensemble einer Märchenwelt aus Träumen.

Doch gehen wir’s chronologisch an. Den Vormittag verbrachte ich großteils in Albert Hall, einem der wohl schönsten Museen dieser Reise. Neben vielen Kunstschätzen aus der Region, von Töpferei bis Miniaturmalerei, findet man dort etwa auch eine ägyptische Mumie, die der Maharaja bei einem Kairobesuch erstand. Auch schöne Schwerter gibt es wieder. Man könnte ein ganzen Tag in diesem Museum verbringen, so reich und vielfältig sind die Exponate, so schön das Gebäude im indo-sarazenischen Stil.

Später fuhr ich dann im zum Bersten vollen Bus (auch ein Erlebnis) nach Amber und verbrachte dort den Rest des Tages.

Von den Gärten am Ufer des Maota Sees blickte ich hinauf zu den breiten gelblichen Mauern und Türmen des weitläufigen Amber Forts, über dem noch viel höher gelegen das Jaigarh Fort liegt. Ein steinerner Pfad führt in Serpentinen zum Fort empor. Auf halber Strecke ließ ich eine Folge schön geschmückter Elefanten an mir vorüberziehen. Sie trugen Touristen zum Fort hinauf.

Im Fort selber gibt es viel zu sehen. Vor allem das große, mosaikgeschmückte Ganesh Tor, die glitzernde Siegeshalle und die versteckten Gemächer der Damen sind sehenswert. Schön ist es aber auch, an diversen Stellen die weite Aussicht auf die hügelreiche Landschaft zu genießen. Der Blick hinab auf den bunten, geometrischen Garten auf einer Insel im See lässt staunen.

Etwas übertrieben geraten ist der Audioguide, der den Besucher durch das Fort führt. Dass die einzelnen Tore und Höfe in sentimentaler Ich-Form erzählen, wer alles durch sie hindurch geschritten ist, wirkt doch etwas lächerlich. Wenn dann auch noch das personifizierte Amber Fort zu Wort kommt und das ebenfalls sehr gesprächige Jaigarh-Fort als älteren Bruder lobt, ist es nur mehr lächerlich. An einer Stelle fragt dann die weibliche Stimme der Siegeshalle, wen der Haupterzähler denn heute mitgebracht habe. Gemeint ist der Besucher, den der Audioguide dann als „someone very special“ bezeichnet. Seufz. Kann das Ding nicht einfach die historischen Fakten ausspucken? Trotz Audioguide war es eine schöne Tour.
Nach Kaffee und Sandwich stieg ich schließlich steil hinauf zum Jaigarh Fort.

Die Schönheit der Aussicht wird dort oben noch einmal potenziert. Allein das Amber Fort nun aus der Höhe von oben zu betrachten, ist schon reizvoll. Die steinernen Schlangen der Verteidigungswälle ziehen den Blick weit mit sich mit entlang leerer Wüstenhügellandschaft. Greifvögel kreisen in der Ferne.

Im Inneren des weitläufigen Jairgarh Forts gibt es ein paar nette Ausstellungen. Die meisten indischen Besucher kommen aber wegen der weltgrößten Kanone auf Rädern, welche nur ein einziges Mal zum Test abgefeuert wurde. „Weißt du’s noch?“, sagt im Audioguide das eine Fort zum anderen. „Ja, war das ein Knall.“ Jaja.

Besonders reizvoll fand ich es, die weiten Außenmauern des Forts entlang zu spazieren und die Aussicht zu genießen. Hier traf ich neben vielen Menschen auch drei sympathische Languren, die von irgendwoher ein Eis am Stiel aufgetrieben hatten. Ein jeder der drei lutschte ganz in Menschenmanier langsam an seinem Eis. Man konnte sich den Affen bis auf einen Meter nähern, ohne dass sie sich gestört fühlten. Schöne Kreaturen.

Im Sonnenuntergang stieg ich vorbei am Amber Fort wieder hinab zum See und zwängte mich in den nächsten vollen Bus zurück nach Jaipur. Amber würde mir als einer von vielen Höhepunkte dieser Reise in Erinnerung bleiben.

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Tag 109 – Jaipur III

Es kam mein dritter Tag in Jaipur. Nach einem gemütlichen Vormittag im Hotel ließ ich mich per Fahrrad-Riksha zum Statue-Circle in der Neustadt bringen. Das palastähnliche Gebäude daneben ist kein Palast, sondern ein „Center for Science and Technology“. Was ein bisschen beunruhigt ist, dass auf der Hinweistafel neben soliden Dingen wie Biomedizin auch auf den Forschungsbereich „remote sensing“ hingewiesen wird. Whatever that may be.

In der Nähe liegt Jaipurs großer Central Park. Hier wanderte ich eine Weile lang durchs Grün und wartete darauf, dass die Sonne doch noch zum Vorschein käme. Im Unterschied zu den letzten beiden Tagen tat sie es aber nicht. Der riesige Flaggenmast im Zentrum des Park erinnert an Connaught Place in New Delhi. Daneben steht eine moderne Skulptur aus Stein. Interessant waren vor allem Reichtum und Vielfalt der Vogelwelt im Park. Ich sah so manch schönes Flügelwesen von Baum zu Baum zu Wiese flattern.

Nach einem guten Thali, nahm ich ein Fahrradriksha nach Norden zum Fuß der Felswand, auf welcher die Burg von Nahargarh thront. Auch von hier aus hatten die Maharajas über Jaipur geherrscht. Ich stieg die vielen Serpentinen zum Verteidigungswall empor. In der Burg selbst gibt es einen kleinen Palast zu sehen, welcher schöne Torbögen und Wandmalereien aufweist. Von überall auf den Mauern hat man fantastische Aussicht auf das riesige Jaipur, das sich unter einem unheilvollen wolkenverhangenen Himmel bis zum Horizont erstreckte.

Am äußersten Ende des Verteidigungswalls gibt es ein nettes Restaurant mit Bar. Bei einem Glas Signature-Whisky stand ich lange auf dem Wachturm und blickte auf die Stadt hinab.

Hernach schritt ich allein auf weiter Flur noch etwa eine Stunde lang den äußeren Verteidigungswall entlang und erhaschte so manch schönen Blick in die Ferne. Es war ein schöner Spaziergang unter dunklen Wolken mit einem Hauch von Melancholie. Beim Weg zurück hinab nach Jaipur fiel mir auf, wie viele Drachen über der Stadt schwebten. Auf Hausdächern, in Straßen und auf Plätzen – überall ließen Kinder bunte Papierdrachen steigen. Hunderte bevölkerten den Himmel in der Abenddämmerung.

Mein Rikshafahrer, der zuverlässig und kostenlos auf mich gewartet hatte, brachte mich zurück in die Nähe meines Hotels. Nach gutem Abendmahl und ein paar Stunden im Internet brachte man mich zum Bahnhof, wo ich kurz nach Mitternacht in meinen Zug stieg. Das Ziel war die Wüstenstadt Jaisalmer am Rande der großen Thar-Wüste, der westlichste Punkt dieser Reise.

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Tag 110 – Jaisalmer I

Nach ruhiger Fahrt bei gutem Schlaf erwachte ich im noch fahrenden Zug und verbrachte dort einen angenehmen Vormittag bei Lektüre und Aussicht auf die vorbeigleitende Wüstenlandschaft. Tee und Samosas der durch den Zug streifenden Händler machten die Fahrt noch angenehmer.

Kurz nach Mittag erreichte der Zug das Ende der Bahnstrecke: die Stadt Jaisalmer im Westen Rajasthans. Wieder einmal alle Tuktuks und Taxis ignoriernd, bahnte ich mir meinen Weg zur nahen Burg. Diese ist auf ihrem Hügel viel weitläufiger als Amber oder Jaigarh Fort. Das, was die Feste zu Jaisalmer aber vor allem auszeichnet, ist ihre Lebendigkeit. Sie ist kein toter Ort, den man nur mit Ticket und Guide erforscht. Hinter den hohen Mauern verbergen sich belebte Gassen. Wohnhäuser, Restaurants, Hotels, Tempel – alles findet im spärlichen Raum Platz. Nachdem ich die Burg entlang einer Rampe durch drei imposante Tore hindurch betreten hatte, fand ich dort hoch über Stadt ein schönes, günstiges Hotel mit ausgesprochen nettem Eigentümer.  Wenig später saß ich in einem Restaurant mit Wüstenblick direkt auf den Mauern der Burg. Immer wieder schön anzukommen. In seiner Gesamtheit erinnert die Burg von Jaisalmer sehr an das ferne Carcassonne, dem vorläufigen Endpunkt meiner Fernwanderung auf dem E4. Wann ich wohl wieder dort sein würde?

Nachdem ich meine Kamelsafari für den folgenden Tag (und die Nacht) organisiert hatte, erkundete ich das Burgschloss, von wo einst die Maharawals von Jaisalmer geherrscht hatten. Wie verwirrend und interessant es doch ist, dass die Herrscher der einzelnen Rajput-Klans unterschiedliche Titel tragen: Maharana in Udaipur, Maharawal in Jaisalmer und Maharaja in Jaipur. Jodhpur hat auch einen Maharaja. Von Bikaner weiß ich es nicht.
Beim Besuch des Burgschlosses fällt auf, dass die Maharawals nicht mit dem Prunk von Udaipur und Jaipur mithalten konnten. Dazu ist die Gegend zu arm und zu trocken. Angeblich kann ein Kind hier bis zu sieben Jahre alt werden, bevor es das erste Mal Regen sieht. Dank frühem Raubrittertum und nahen Handelswegen erreichte die Stadt aber doch beachtlichen Wohlstand. Dreimal in ihrer Geschichte, als Eroberung drohte, verübte man kollektiven Selbstmord. Die Frauen stiegen der Reihe nach ins Feuer, während die Männer ohne Rüstung dem Feind entgegenritten.

Die Aussicht vom Turm des Burgschlosses lässt am Horizont viele Windräder erkennen. Diese produzieren den Strom für das Militär, welches die nahe pakistanische Grenze bei Nacht mit Flutlicht beleuchtet.

Viel hatte ich heute nicht mehr vor. Ich trank ein gutes Vanilla-Lassi, spazierte durch die Gassen der Burg und aß schließlich mit schöner Aussicht zu Abend.

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Tag 111 – Jaisalmer II

Nach gutem Frühstück ging es per Jeep nach Westen. Wir waren zu dritt: ein Pärchen aus Seattle und ich. Nach zwei kurzen Abstechern zu einem verlassenen Ruinendorf und einer Oase erreichten wir einen Ort etwa fünfunddreißig Kilometer westlich von Jaisalmer. Hier trafen wir auf unsere Kamele und unseren Kamelführer Abdullah mit seinem Sohn Abbas. Das letzte Mal auf einem Kamel geritten war ich vor über zehn Jahren in Tunesien. Damals war es nur für etwa eine Stunde gewesen. Nun erwarteten mich eineinhalb Tage Wüstenzauber. Von Jaisalmer aus kann man aber auch bis zu dreiwöchige Wüstenritte unternehmen.

Mein Kamel hieß Bablu, die beiden der Amerikaner hießen Simon und Johnny Number One. Wie das vierte Kamel unserer kleinen Karawane hieß, jenes auf dem Abbas und Abdullah ritten, ist mir entgangen. Es schimpfte aber immer so schön, wenn es zum Aufstehen oder Niederknien aufgefordert wurde. Faszinierende Tiere. In meinem alten Kamelsattel war eine Scheide fürs Schwert integriert. Ob hiermit wohl einst in Schlachten geritten wurde? So abwegig war das gar nicht. so mancher robuste Gebrauchsgegenstand ist hier Jahrhunderte alt.

So ritten wir also weiter nach Westen, tiefer hinein in die große Thar Wüste zwischen Indien und Pakistan. Wir hielten kurz in einem kleinen Dorf. Sofort bestürmte uns eine Schar von Kindern. Sie fragten nicht nach Geld, sondern hauptsächlich nach Schokolade und „school pen“. Ratschlag an künftige Indienreisende: Nehmt eine Packung Kugelschreiber mit und macht viele Kinder damit glücklich.

Das Reiten auf einem Kamel ist gewöhnungsbedürftig. Jedenfalls waren wir jedesmal froh, wenn ein Zwischenziel erreicht war und wir  absteigen konnten. Abdullah und Abbas kochten ein schmackhaftes Mittagessen, das wir im Schatten des einzigen Baumes weit und breit zu uns nahmen. Am späten Nachmittag erreichten wir ein Gebiet hoher Sanddünen, die im Licht der Sonne golden glänzten. Hier machten wir endgültig Halt.

Es ist immer wieder schön auf Dünen zu klettern und durch den warmen Sand wieder hinab in die Täler dazwischen zu gleiten. Die Formen, die der Wind in den Sand zeichnet, sind erstaunlich. Ich fühlte mich an Death Valley und White Sands National Park erinnert. Es war noch kein Jahr her, da ich dort denselben Charme der Wüste erlebt hatte. Nun allerdings folgte, was ich anderswo nicht gehabt hatte: eine Übernachtung unter freiem Himmel mitten in der Wüste. Ob die Sterne so zahlreich sein würden wie im Death Valley?

Noch bevor die Sonne unterging, wurde mir klar, dass es mit der Sternenpracht nichts werden würde. Ich hatte auf den Mond vergessen. Fast voll erhob er sich gegenüber der roten Sonne. Und schon bald, nachdem letzere hinter den Dünen versunken war, sah ich am Boden meinen Schatten im Mondlicht. Der alte Erdtrabant war so hell, dass wir in seinem Licht nach dem Abendessen noch lange Karten spielen konnten. Jedenfalls markierte die Düne, von der aus ich die Sonne untergehen sah, denn endgültig westlichsten Punkt dieser schönen Reise.

Das Pärchen aus Seattle befand sich übrigens auf einer Weltreise von vierzehn Monaten Dauer. Nach drei Monaten in Südamerika, zwei in Ostafrika, drei in Europa, ein paar Wochen im nahen Osten und einem Monat in Nepal hatten sie nun drei Wochen Zeit für Indien bevor es weiterging nach Sri Lanka und Südostasien. Die Spielkarten hatten sie in Rumänien erstanden. Welcher Ort bisher am schönsten von allen war? Auf diese Frage hatten sie eine klare Antwort: Ruanda und der östliche Kongo. Erstaunlich.

So schlief ich also unter vielen Decken am Wüstenboden unter blassen Sternen und einem hellen Mond. Die Nacht verlief ruhig. Nur die Kamele neben uns niesten ab und zu.

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Tag 112 – Jaisalmer III

Die Sonne geht hier im äußersten Westen des Ein-Zeitzonen-Landes Indien sehr spät auf. Um sechs Uhr morgens herrscht noch tiefe Nacht. Da der Mond um etwa diese Zeit fast so rot wie die Sonne hinter den Dünen versank, wurde die Nacht kurz nach sechs sogar ein bisschen dunkler als sie es bisher gewesen war. Man sah plötzlich mehr Sterne. Schnell aber wurden diese vom östlichen Schein der Morgendämmerung wieder verscheucht. Nur die Planeten waren länger sichtbar. Kurz nach halb acht ging dann die Sonne auf.

All dies sah ich unter meinen drei warmen Decken am Boden liegend. Bald jedoch lockte Abdullahs heißer Tee zum Aufstehen. Nach einem kleinen Frühstück hieß es Abschied nehmen. Richard und Christa, die beiden Amerikaner, ritten mit Abdullah tiefer hinein in die Wüste. Ich selbst ritt auf Bablu hinter Abbas her, der mich binnen zwei Stunden zurück zur Straße führte. Hier wartete ein Jeep und brachte mich zurück nach Jaisalmer.

Kurz vor Mittag war ich wieder dort. Ich genoss eine Weile lang den Komfort meines Zimmers und besuchte dann die drei schönen Jain-Tempel auf der Burg. Ich hatte diese schon mehrmals passiert. Die Gasse zu meinem Hotel führte direkt daran vorbei und teilweise sogar unter dem Tempelgebäude hindurch. Die Zugangsbeschränkungen sind beachtlich. Die Tempel sind für Nicht-Jainisten nur zwischen elf und eins geöffnet. Schuhe und sämtliche Lederprodukte (Geldtaschen, Gürtel) sind nicht erlaubt. Weiters weist ein großes Schild darauf hin, dass Frauen während ihrer Periode draußen bleiben müssen.

Im Inneren der sechshundert Jahre alten Tempel fand ich, wie schon in den Jainheiligtümern von Ellora und Khajuraho, erstaunlich kunstvolle Steinarbeiten. Schöne Gravuren zieren jeden Quadratzentimeter der Innenräume und Außenwände, der Säulen und Kuppeln dieser beeindruckenden Gebäude. Gezeigt werden Gottheiten sowie Szenen des täglichen Lebens.

Nach gutem Mittagsmahl in der Sonne über den Mauern, verließ ich die Burg um die Stadt ringsum zu erkunden. Hier findet man wunderschöne Havelis – alte, prunkvolle Stadthäuser mit bis zu sechs Stockwerken und prunkvollen Steinarbeiten, vor allem auf den Außenfassaden und in den Innenhöfen. Manche Havelis kann man betreten und von Innen erforschen. Auf den Straßen ringsum herrscht das übliche Treiben der Händler und Betrüger. Dazwischen ziehen heilige Kühe friedlich dahin.

Nachdem ich die Burg umrundet hatte, zog ich mich noch einmal in mein Zimmer zurück, um dann später bei herrlichen Blick auf zwei der drei Burgtore zu Abend zu essen.

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Tag 113 – Jodhpur I

Es war noch tiefe Nacht, als ich um halb sechs Uhr morgens durch die inzwischen so vertrauten Burgtore hinab in die Stadt und von dort zum Bahnhof schritt. Die erste Hälfte dieses nächtlichen Spaziergangs durch die Gassen der Burg, vorbei an Tempeln und Kühen, war sehr beschaulich.

Bald saß ich im drittletzten Zug dieser Reise und bewegte mich in Richtung Jodhpur. Die meiste Zeit war ich ganz allein in meinem Waggon. Durch das Fenster hindurch sah ich ein weiteres Mal die Sonne hinter der Wüste aufgehen.

Kurz nach Mittag erreichte ich Jodhpur, die blaue Stadt mit ihrer Burg, die wohl die imposanteste Rajasthans ist. Ihr Name ist Mehrangarh. Schon von weitem sah ich ihre hohen Mauern, als ich vom Bahnhof in Richtung Zentrum schritt und wieder einmal das Geschrei der Tuktukfahrer und der „My friend!“-Leute ignorierte.

Ein nettes Hotel war schnell gefunden und im Handumdrehen saß ich bei Thali, Bier und WLAN auf einer sonnigen Dachterasse mit guter Sicht auf die monumentalen Mauern von Mehrangarh. Sie waren schon zum Greifen nah. Doch erst morgen würde ich erkunden, was dahinter liegt. Der heutige Tag gehörte ein paar kleineren Sehenswürdigkeiten ganz in meiner Nähe.

Als erstes stieg ich hinauf zum Jaswant Thada, dem wunderschönen Marmormausoleum eines Maharajas von Jodhpur. Das weiß leuchtende Gebäude bietet wohl den richtigen Vorgeschmack auf das, was übermorgen kommt. Ruhig und friedlich an einem kleinen, blauen See zwischen den Felsen gelegen und von Ziergärten umsäumt, ist das Jaswant Thada ein guttuender Erholungsort nach dem aufdringlichen Treiben der Straße. Vögel fliegen zu den Türmen hinauf oder landen im See. Zwei Inder musizieren im Park. Einziger Wermutstropfen: der turbantragende Astrologe, der im linken Turm Menschen betrügt: „Instant Horoscope Designing, Predictions for life-time via email“. Seufz. Wie passend, dass ich heute im Zug Voltaires Meinung zur Astrologie gelesen habe. Er zerpflückt sie, bis nichts mehr bleibt und äußert den hoffnungsvollen Wunsch, dieser billige Hokuspokus möge doch mit seinem (dem 18.) Jahrhundert zu Ende gehen. Das war leider zu optimistisch gedacht.

Vorbei am einzigen Eingangstor der Burg stieg ich zurück hinab ins Gassengewirr der blauen Stadt. (Blau ist sie auf der Südseite der Burg nur zu fünfzehn bis zwanzig Prozent.) Es ist sehr leicht, sich hier zu verirren. Der Plan der Altstadt weist kaum rechte Winkel auf. Nachdem ich den belebten Sardar Markt mit seinem schönen Uhrturm gesehen hatte, drehte ich noch eine Runde um das Wasserbecken von Gulab Sagar. Sogar Tretboote gibt es hier. Wie sich wohl die Hindus hier bei den rituellen Waschungen fühlen, wenn plötzlich ein Touristentretboot an ihnen vorüberzieht?
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, mein Hotel wiederzufinden. Auf der Dachterrasse sah ich die Sonne hinter der Burg untergehen und aß später noch Pakora und ein gutes Paneer Chilly.

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Tag 114 – Jodhpur II

Der Tag gehörte ganz Mehrangarh, der imposanten Burg über Jodhpur. Nach einem guten Frühstück auf der Dachterasse meines Hotels mit Blick auf den hohen Verteidigungswall machte ich mich auf, diesen zu erklimmen. Schon bald schritt ich durch die ersten beiden Tore Mehrangarhs und sah die Einschlaglöcher der Kanonenkugeln einstiger Belagerer. Sie waren alle gescheitert. In ihrer sechshundertjährigen Geschichte ist diese Burg nie erobert worden.

Bevor ich durch weitere Tore zum Burgschloss hinaufstieg, wartete noch eine ganz besondere Attraktion. Auf den nördlichen Mauern der Burg und den Hügeln dahinter gibt es eine „Zip Line“ Anlage, auch bekannt als „flying fox“. Hoch über Felsen und Seen rast man teils über hundert Meter weit die Stahlseile entlang und genießt dabei wunderbare Aussicht auf Burg, Stadt und Hügel. Ähnliches hatte ich schon im Dschungel Nordthailands erlebt. Hier, mit weitem Blick auf Burg und trocknes Land, hatte das ganze aber einen völlig anderen Charakter als im grünen Urwald.

Bevor das Abenteuer begann, verbrachte ich eine schöne halbe Stunde im stillen, grünen Park nördlich der Burg. Dann ging es los. Mit Klettergurt und Handschuhen schwebte ich schon bald von Hügel zu Hügel und Wall zu Wall, unter mir gelegentlich ein See, doch meistens trockener Stein.

Ich teilte die Tour mit einer Schulklasse aus San Francisco, die mit ihrem Religionslehrer auf einer einmonatigen Indienexkursion war. Der symphatische Lehrer (trotz Übergewicht besonders geschickt auf der Zip-line) fokussierte seinen Unterricht auf Jainismus und Hinduismus. Daher das Ziel der Schulreise. Zwischen den einzelnen Flügen unterhielten wir uns über Taoismus und Weltpolitik. Zum dritten Mal auf dieser Reise bekam ich die Anregung, Howard Zinn auf meine Leseliste zu setzen. Jedenfalls ist der Flying Fox von Mehrangarh sehr zu empfehlen. Spannend und hoch. Schön und weit.

Man kennt die Umgebung nördlich Mehrangarhs wohl aus Christopher Nolans neustem und letztem Batman-Film. Auch die prägnante kreisförmige Mauer, hinter der sich im Film das tiefe Loch hinab zum Gefängnis verbirgt, ist auf dem Zip-Line Gelände zu finden.  ‚Out of this hole, the dark knight rises.‘ Amüsant zu sehen, dass der Graben hinter der Mauer in realitas nicht einmal einen Meter tief ist. Und da ist Christian Bale keuchend herausgekrochen.

Nachdem ich endgültig wieder festen Boden unter den Füßen hatte, besorgte ich mir einen Audioguide und ließ mich in die Geschichte der Rathore Dynastie von Jodhpur einführen.

Die Vergangenheit scheint hier in Mehrangarh noch ganz nah zu sein. Man staunt, wenn man vor dem alten weiß glänzenden Krönungsthron steht und der amtierende Maharaja im Audioguide von seiner Kindheitserinnerung erzählt, wie er hier im Jahre 1952 als Vierjähriger zum König gekrönt wurde. Seine Mutter erinnert sich, wie sie als Sechzehnjährige in die Zenana, die strikt abgeschotteten Frauengemächer des Burgschlosses, gebracht wurde. Auf einer Wand neben dem vorletzten Burgtor sieht man die farbigen Handabdrücke aller 31 Frauen eines 1843 verstorbenen Maharajas. All seine Frauen folgten ihm am Tag seiner Kremation ins Feuer.

Das Burgschloss glänzt mit vielen wunderschönen Fassaden, mit glanzvollen Innenräumen, herrlicher Aussicht und faszinierenden Exponaten. Ein besonderes Highlight ist der prächtige Phool Mahal, wohl einer der schönsten Räume der Welt. Unter den vielen Ausstellungsstücken beeindruckten mich vor allem die vielen Howdahs und die Miniaturmalerei. Ein besonders schönes Gemälde zeigt Rama und die Affenarmee beim Überqueren des Meeres nach Lanka.

Nach dem Museumsbesuch schlenderte ich noch eine Weile lang zwischen den vielen Kanonen auf dem Verteidigungswall umher und blickte weit hinab zur blauen Stadt, die von hier oben viel blauer aussieht, als wenn man in ihr herumirrt. Schön ist es, den hunderten Greifvögel zuzusehen, die im Winter von Norden kommend hier verweilen und Mehrangarh noch idyllischer machen, als es ohnehin schon ist. Was für ein schöner Ausklang meiner Zeit in Rajasthan.

Ich verließ die Burg durch das abgeschiedene Osttor. Hier war ich plötzlich allein auf weiter Flur. Mehrmals blieb ich stehen und blickte hinauf zu den hunderten Greifvögeln, die direkt über mir die Thermik vor dem Burgwall nutzten, um höher zu steigen. Ein beeindruckendes Naturschauspiel.

Durch wirre Altstadtgassen gelangte ich zurück zu meinem Hotel, holte meinen Rucksack ab und marschierte zum Bahnhof. In seiner Nähe aß ich gut und reichlich zu Abend. Ich bestellte ein Bajra-ki-Roti mit Wüstengemüse. Hervorragend.

Kurz nach acht fuhr mein Zug ab. Es war der letzte Nachtzug meiner Reise. Nostalgisch lag ich in meiner Koje und ließ mich nach Osten tragen. Die Fahrt ging zurück nach Uttar Pradesh, wo ich in Agra das angeblich schönste Gebäude der Welt besuchen wollte.

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Tag 115 – Agra

Nach einer problemlosen Zugfahrt, stieg ich kurz nach sieben Uhr morgens auf den Bahnsteig der Agra Fort Station und fand sogleich einen Cloak room, um meinen Rucksack zu hinterlegen. Gleich gegenüber dem Bahnhof erheben sich die roten Mauern der historisch sehr bedeutenden Burg von Agra. Die Mogulen hatten ihr weites Reich ebenso viel von Agra als von Delhi aus regiert. Akbar der Große hatte hier anno 1565 mit der Errichtung der Burg begonnen. Im nahen Fatehpur Sikri wollte er sich eine neue Haupstadt schaffen, scheiterte aber am Wassermangel. Dorthin würde ich morgen reisen. Jetzt galt es das Fort zu erkunden, auf dem alle vier großen Mogulenkönige Akbar, Jehangir, Shah Jahan und Aurangzeb ihre Spuren hinterlassen haben. Der größte Teil der Burg ist militärisches Sperrgebiet und für Touristen tabu. Nur der südöstliche Teil von Agra Fort ist Besuchern zugänglich. Hier haben zahlreiche Bauten der Mogulenzeit die Armeepräsenz von Britannien und Indien überdauert.

Durch einen kleinen Park mit vielen schreckhaften, doch niedlichen Rhesusaffen und entlang der Straße gelangte ich von der Nordseite zur Südseite der Burg. Hier fand ich Einlass. Hindurch durch riesige Tore gelangte ich zu den Palästen der Mogulenkönige. Man kann sie leicht an den Baumaterialien und am Stil unterscheiden. Während Jehangirs Palast in rotem Sandstein gehalten ist und stilistisch an die afghanischen Wurzeln der Moghulen erinnert, weisen die Bauten seines Sohnes Shah Jahan schon jene Vorliebe zu weiß leuchtendem Marmor auf, die später im Taj Mahal ihre Krönung fand. In einem außerordentlich schönen Sarkophag vor Shah Jahans Empfangshalle liegt nicht etwa ein König begraben, sondern bizarrerweise ein britischer Offizier, der hier anno1857 an einer Krankheit starb. Die Privataudienzhalle Shah Jahans ist besonders schön. Hier stand ursprünglich der legendäre Pfauenthron, gespickt mit Diamanten. Später wurde er von Aurangzeb nach Delhi gebracht und dann nach dem Niedergang der Mogulen von Nadir Shah in den Iran verschleppt. Nach dessen Tod wurde er dort auseinandergenommen und zerstört. Natürlich hört man immer wieder Verschwörungstheorien, die besagen, dass das Ding noch irgendwo rumsteht.

Das schönste Gebäude auf der Burg ist wohl das Musamman Burj, ein kleines achteckiges Marmorschlösschen mit Säulenhalle und Turm. Hier war es auch, wo Shah Jahan die letzten acht Jahre seines Lebens als Gefangener zubrachte, nachdem er von seinem fanatischen Sohn gestürzt worden war. Oft stand er wohl hier auf dem Balkon und blickte hinüber auf das Grab seiner Drittfrau, die bei der Geburt des vierzehnten Kindes verschied. Ihr Grab ist das Taj Mahal. Ich hatte die Geschichte von Shah Jahans Gefangenschaft schon mehrmals gehört und hatte mir sein Gefängnis immer als finsteres Kerkerloch mit einem kleinen Fenster hin zum Taj vorgestellt, nicht als halbedelsteinverziertes Prunkschlösschen mit breitem Balkon und Privatmoschee. Der Blick auf den Yammuna Fluss und das Taj Mahal muss bei klarem Wetter hervorragend sein. Ich sah nur Nebel.

Zurück am Bahnhof betrachtete ich von der Fußgängerbrücke aus noch kurz die große Jama Moschee gleich nördlich davon. Dann holte ich meinen Rucksack und ließ mich per Tuktuk zu meinem Hotel bringen, wo ich ein wenig ruhte und gut speiste.

Die Sonne kam heute nicht so recht gegen den Nebel an und ich erwog den Besuch des Taj Mahals auf Samstag früh zu Sonnenaufgang zu verschieben. Morgen Freitag hatte das Taj ausschließlich für moscheebesuchende Muslime geöffnet. Aber vielleicht würde sich die Sonne heute doch noch zeigen. Zuvor galt es noch ein paar andere Sehenswürdigkeiten aufzusuchen. Das Taj Mahal ist schließlich nur eines von vielen Mausoleen am Ufer des Yammuna bei Agra.

Per Tuktuk gelangte ich über eine Brücke ans andere Ufer des Flusses. Unten am Wasser waschen Frauen bunte Tücher und legen sie zum Trocknen in den Sand, ganz so wie auf vielen Bilder und der Titelseite des Lonely Planet Reiseführers von 2014. Ich erreichte das Itimad-ud-Daulah, auch als Baby Taj bekannt. In dem schönen, weißen
Marmormausoleum liegt ein persischer Edelmann mit den besten Verbindungen begraben. Eine seiner Töchter heiratete den Mogulenkönig Jehangir, eine seiner Enkelinnen heiratete Jehangirs Sohn Shah Jahan und liegt im Taj Mahal. Jedenfalls bekam der wichtige Mann aus Persien, der unter Jehangir auch Hauptminister war, ein wunderschönes Grabgebäude, das in Kunstfertigkeit, nicht aber in Größe und Gesamteindruck, mit dem Taj mithalten kann.

Unweit nördlich davon liegt das Chini-ka-Rauza, das Grab des Poeten und Ministers Afzal Khan. Stilistisch hat dieses Mausoleum rein gar nichts mit den anderen Mausoleen von Agra gemein. Nur im Iran und Afghanistan findet man ähnliches. Schöne blaue Ornamente glitzern an den Außenwänden. Im Inneren versteckt sich eine hohe Kuppelhalle mit farbenfrohen Malereien. Der Mann, der mir die Tür aufsperrte, wollte mir den außergewöhnlichen Hall im Inneren demonstrieren und rief ein lautes „Allah-u-akbar“, das imposant durch den dunklen Raum hallte. „Now you!“, kam die Aufforderung. Ich wählte lieber Nietzsche. „Brüder bleibt der Erde treu!“ rief ich etwas zu leise. Das Echo war nur gering. „Try again!“ „Und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Mächten reden.“ Laut hallten Zarathustras Mahnworte durch das Chini-ka-Rauza. „Very good“, sagte der Guide. Hehe.

Die nächste Station war die grüne Parkanlage Mehtab Bagh mit ihren Moscheeruinen. Der Ort wäre an sich nichts Besonderes, läge er nicht genau auf einer Linie mit Agras Hauptattraktion am anderen Flussufer. Obwohl ich schon den ganzen Tag in Agra war, hatte der Nebel das Taj Mahal bisher von mir versteckt. Nun sah ich es zum ersten Mal, blieb stehen und staunte. Wahnsinn! Auf Bildern unterschätzt man die wahre Größe dieses Bauwerks. Diese perfekte Symmetrie, der weiße Marmor, die Türme und vor allem diese riesige, einzigartig geformte Kuppel sind unglaublich reizvoll anzusehen. Noch war ich nicht dort. Noch hatte ich einen Fluss und ein bisschen Nebel zwischen mir und dem angeblich schönsten Gebäude der Welt. Dennoch war der Anblick sehr bewegend. Als nun doch noch die Sonne zum Vorschein kam, entschied ich, das Taj Mahal schon heute zu besuchen.

Das Flussufer selbst ist übrigens nicht mehr ganz so verdreckt, wie manche Fotos im Internet es zeigen. Es war wohl eben jene durch das Internet und dessen soziale Netzwerke ermöglichte Breitenwirkung dieser Bilder, die die lokalen Behörden zum Handeln bewegt hat. Statt ganzen Müllbergen liegen am Ufer des Yammuna nur noch ca. zwei bis drei Plastikmüllobjekte pro Quadratmeter. Das ist für Indien sehr sauber.

Eine Stunde später stand ich vor dem Taj Mahal. Schon das riesige, rote Eingangstor zu den Ornamentgärten ist faszinierend. Beim Durchschreiten des Portals sieht man vor sich das Taj umrahmt vom dunkelroten Torbogen. Schritt für Schritt nähert man sich entlang der Wasserwege und kleinen Brücken, sieht Springbrunnen, das Taj und dessen Spiegelung. Die von Nebelresten leicht getrübte Abendsonne hüllte alles in milchiges Licht. Bezaubernd.

Das schöne, rote Sandsteingebäude links des Taj Mahals ist eine Moschee, das idente Gebäude rechts des Taj Mahals erfüllt keinen vordergründigen Zweck. Es ist nur da, um die Symmetrie nicht zu brechen. Für sich allein würden beide als hohe Gebäude erscheinen, wirken aber winzig neben dem Taj auf seinem hohen Marmorsockel.

Dreimal umrundete ich das Gebäude, einmal unterhalb des Sockels, zweimal auf dem Sockel, jedes Mal ein Stück näher. Dank der späten Stunde war nicht mehr ganz soviel los. Die Sonne senkte sich langsam zwischen den Türmen der westlichen Moschee.

Hier in Agra hat man die Unsitte eingeführt, dass Besucher heiliger Stätten, anstatt sich die Schuhe auszuziehen, weiße Plastiktüten über ihre Füße stülpen dürfen. Da die Dinger leicht reißen, sind sie nur einmal verwendbar. Der viele Müll… Seufz.

An den vier identen Außenwänden des Taj gibt es viel zu bestaunen. Besonders schön ist die schwarze Kaligraphie, Koranverse zeigend, welche nach oben hin größer wird, um von unten gleichförmig zu wirken. Die blumige Pietra Dura Kunst und die in den Marmor gehauenen Ornamente sind ebenso ein Blickfang. Am meisten beeindruckt aber die schiere Höhe der monumentalen Spitzbogenportale.

Im Inneren des Taj herrscht striktes Fotografierverbot. Ausländische Touristen halten sich meist daran, Inder so ziemlich gar nicht. Das Mausoleum ist daher erfüllt vom Blitzlichtgewitter fotografierender Inder und dem Gebrüll der Wachen, die hilflos versuchen das Fotografieren zu unterbinden. Seufz. Schafft man es, dies alles auszublenden, ist der Ort schummrig und schön. Ein wunderschöner, filigraner Marmorzaun umgibt eine Vertiefung, in welcher zentral unter der Kuppel der kleine Sarg von Shah Jahans Drittfrau Mumtaz Mahal liegt. Daneben, als krasser Symmetriebruch im sonst perfekt symmetrischen Gebäude, steht der Sarg von Shah Jahan selbst. Nach seinem Tod nach acht Jahren Gefangenschaft anno 1666 ließ ihn sein sparsamer Sohn Aurangzeb zeremonienlos in diesem nie für ihn vorgesehenen Mausoleum bestatten. Das kam eben am billigsten. Beide Särge sind anscheinend leer. Die richtigen Särge befinden sich in einer unzugänglichen Kammer tiefer unter dem Taj.

Wieder im Freien sah ich der Sonne beim Untergehen zu und drehte noch ein paar Runden ums Taj und durch die Ornamentgärten. Da man die kleinen Springbrunnen inzwischen ausgeschaltet hatte, kam die Spiegelung des Taj im Wasser noch klarer zum Vorschein. Lang saß ich noch auf einer Marmorbank am Wasser und blickte auf das (wohl nicht nur angeblich) schönste Gebäude der Welt. Allmählich wurde es Nacht und die Wachen begannen, die letzten Besucher zum Ausgang zu treiben. Als einer der letzten verließ ich den Ort, diesen Fast-Abschluss und letzten Höhepunkt dieser Reise.

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Tag 116 – Fatehpur Sikri

Nach Frühstück im Hotel nahm ich ein Tuktuk zum Busbahnhof und gelangte von dort nach einer Stunde Fahrt ins westliche gelegende Fatehpur Sikri. Der Ort hat eine kuriose Geschichte. Bis Mitte des sechzehnten Jahrhunderts war er nur ein unbedeutenders Dorf. Dann befand sich hier ein paar Jahrzehnte lang die Hauptstadt des riesigen Mogulenreiches, die europäische Besucher (eine Handvoll Jesuiten) mit London und Rom gleichsetzten. Die Einwohnerzahl erreichte angeblich eine Viertelmillion, für das sechzehnte Jahrhundert sehr viel. Nach dem Tod Akbars des Großen wurde Fatehpur Sikri aufgegeben und wurde binnen kurzer Zeit wieder zum unbedeutenden Dorf. Geblieben sind die Ruinen einer weitläufigen Palastanlage, die vielleicht schönste Moschee Indiens und der Titel „UNESCO Weltkulturerbe“.

Noch kurioser als die demografische Entwicklung des Orts ist die Ursache für seine Kür zur Hauptstadt. Auf dem Hügel über dem Dorf lebte nämlich ein weiser, heiliger Sufi. Akbar litt darunter, bisher nur Töchter gezeugt zu haben und konsultierte den Sufi, was denn da los sei. Dieser versicherte Akbar, dass ihm eine seiner vielen Frauen schon bald einen Sohn gebären würde, wenn der Sufi seinen Segen gäbe. Als Austausch wollte er wohl nur, dass Akbar seine Hauptstadt hierher verlege. Welch schlauer Sufi das doch war.

Akbar bekam wenig später seinen ersten Sohn (den späteren Jehangir) und der Sufi liegt heute in einem wunderschönen Mausoleum im Hof der riesigen Moschee von Fatehpur Sikri.

Abgesehen von Akbars Leichtgläubigkeit, sind die meisten Dinge, die man von ihm weiß und zu wissen glaubt bewundernswert. Von seinem toleranten, weltoffenen Führungsstil könnte sich manch ein Machthaber der Gegenwart etwas abschauen. So betrachtete Akbar alle Religionen als gleichberechtigt und erlaubte etwa auch seinen Frauen, anzubeten, wen immer sie wollten, ob Allah, Vishnu oder sonst wen. Angeblich hatte er sogar eine Frau christlichen Glaubens. Durchstreift man Akbars Palast, so findet man nicht nur muslimische Symbolik, sondern auch christlich-jüdische, jainistische und hinduistische. Wie interessant, dass das Mogulenreich unter dem toleranten Akbar florierte und unter seinem fanatischen Urenkel Aurangzeb zu Grunde ging.

Nach meiner Ankunft in Fatehpur Sikri besuchte ich als erstes die Moschee. Das Schönste an ihr ist das riesengroße, rotweiße Eingangstor, das Buland Darwaza. Im Inneren der Moschee gibt es viel zu sehen. Eine Serie von unterschiedlich großen Sarkophagen am Boden markiert die Gräber der lokalen Aristokratie vergangener Zeit. Ein ganz kleiner Sarkophag ist auch dabei. Hier liegt die Lieblingsbrieftaube eines Adeligen neben ihrem Herrn. Weiter hinten befinden sich Treppen zu einem versperrten Tunnel. Angeblich reicht dieser unterirdisch bis ins vierzig Kilometer weit entfernte Agra Fort und ist so groß, dass man per Pferd hindurch reiten kann. Ich zweifle ein wenig. Herzstück der Moschee ist aber das weiße Mausoleum jenes Sufis, dem die Stadt ihren Ruhm zu verdanken hat. Die verschiedenen Steine (Marmor, Sandstein, Onyx) und die Tür aus afrikanischem Eibenholz sind schön anzusehen.

Durch ein zweites großes, reich verziertes Tor (the king’s gate) gelangte ich von der Moschee zur weitläufigen Palastanlage Akbars. Wie viele Burgen und Paläste, die ich in letzter Zeit gesehen hatte, ist der Palast in öffentliche Empfangsfläche, private Empfangsfläche und Zenana (Frauengemächer) unterteilt. Letzere sind in Fatehpur Sikri klar die größten, hatte Akbar doch laut manchen Angaben bis zu 5000 Konkubinen. Anderen Männer riet er jedoch zur Monogamie, da alles andere der männlichen Gesundheit schade.

Ich wanderte ein paar Stunden lang zwischen den Palastbauten umher. Leider ist von den schönen Wandmalereien nur mehr wenig erhalten. Von einigen Gebäuden ist der Verwendungszweck bis heute ein Rätsel. Der Name vieler Gebäude führt in die Irre, basiert er doch auf Volkslegenden und nicht auf archäologischen Fakten. So hat im „Palast der türkischen Prinzessin“ nie eine türkische Prinzessin gelebt. Überhaupt ist der Ort fernab der Frauenquartiere. Und auf dem großen Ludo-Spielbrett am Boden hat Akbar auch nie Ludo mit seinen Frauen als Spielfiguren gespielt. Die Bodenmarkierungen entstanden erst eine Weile nach seinem Tod.

Historisch belegt ist, dass Akbar bis zu seinem Tod Analphabet war. Trotzdem war er „belesen“, umgab er sich doch Zeit seines Lebens mit Gelehrten aller Welt, lauschte ihren Disputen und lernte von alledem. Ein ganzes Gebäude diente der Aufbewahrung wertvoller Schriftrollen. Akbar gab auch Bücher zu diversen Themen seiner Zeit in Auftrag. Er veranlasste die Übersetzung von Mahabharata und Ramayana ins Persische.

Nach dem Palastbesuch aß ich in Fatehpur Sikri ein spätes Mittagessen und nahm den Bus zurück nach Agra. Hier verbrachte ich noch einen geruhsamen Nachmittag und Abend.

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Tag 117 – Delhi

Ich nahm früh ein Tuktuk zum Bahnhof und stieg in den erstbesten Zug nach New Delhi.  Die Fahrt war schön, trotz Nebel und überfüllter General Class, schön der Nostalgie wegen. Alles geschah zum letzten Mal auf dieser Reise. Zum letzten Mal dem „Chai!Chai!Chai!“Mann seinen Tee abkaufen und dem Samosa Mann seine leckeren Samosi. Zum letzten Mal in diesen blauweißen Waggons sitzen. Zum letzten Mal die so unterschiedlichen Gesichter der Reisenden im Zug betrachten und sich fragen, welche Leben sie leben. Ich habe die vielen Zugfahrten in diesem Land wirklich genossen: Das Stehen bei voller Fahrt in den offenen Türen, die vorbeirauschende Landschaft, der bunte Reigen vorüberziehender Händler, Bettler und anderer Menschen, die weibliche Stimme am Bahnhof, immer dieselbe, die in Hindi und Englisch die Abfahrt der Züge kommentiert. All das hat mich, außer im zuglosen Nepal und Sikkim, die ganze Reise lang begleitet.

Gegen Mittag erreichte der Zug den Bahnhof New Delhi. Hier war ich also wieder, dreieinhalb Monate, nachdem ich in den ersten Zug dieser Reise nach Varanasi gestiegen war. Heiß war es gewesen. Nun war es kalt.

Schnell fand ich ein passables Hotel in der Nähe von Bahnhof und Metrostation. Wenig später saß ich in Sam’s Bar, am selben Tisch wie damals und aß Paneer Tikka Masala. Was tun mit diesen letzten Stunden Indien? Ich stieg in die Metro, fuhr bis zum Chandni Chowk im Herzen der Altstadt. Hier hatten die Mogulen einst ein paar Sikh-Heilige gefoltert und ermordet. Die Bilder dazu hatte ich in Amritsar gesehen. Vorbei am roten Fort wanderte ich durch vertraute Gassen bis zur Jama Masjid. Hier hatte meine Reise so richtig begonnen, mit jenem zweistündigen Gespräch, das ich mit dem skurrilen alten Möchtegernnobelpreisträger auf den Stufen der Moschee geführt hatte. Ich unternahm eine letzte Rikshafahrt zurück zur Metro. Diese Stadt ist so voller Menschen, dass sie mir schon nach einer Weile wieder zu anstrengend wurde. Ich floh zurück in mein Hotel. Und dann war der Tag auch schon vorbei.

Werde ich Indien wiedersehen? Ich hoffe doch. Es gibt hier doch noch einiges, das ich noch nicht gesehen habe. Auf Bihar, Jharkhand, Chhattisgarh und Andhra Pradesh kann man wohl verzichten, doch die nördlichen Provinzen Jammu & Kashmir, Himachal Pradesh und Uttarakhand sind auf jeden Fall eine Sommerreise wert. Blieben noch Gujarat und die entlegenen Nordostprovinzen. Vielleicht irgendwann einmal. Sonams Homestay im Glühwürmchenwald von Sikkim könnte mich auch einmal wieder locken, ebenso der Annapurna Circuit in Nepal. Und vielleicht im fortgeschrittenen Alter ein Wiedersehen mit Hampi, einem der schönsten Orte dieser Reise. Doch all dies liegt noch fern.

Hier sitze ich nun also nach vier Monaten Indien und blicke zurück auf eine schöne Reise. Ich wurde weder beraubt noch bedroht. Nie wurde es so richtig gefährlich. Abgesehen von einer anfänglichen Erkältung und einmal schlechtem Fisch war ich die ganze Reise lang gesund. Die guten Erinnerungen überwiegen mit Abstand. In knapp vier Monaten durchstreifte ich dieses Land von den südlichen Stränden bis zum Himalaya, von Kolkata bis zur westlichen Wüste. Es war heiß und kalt, trocken und feucht. Ich sah die Bauten ferner, jüngerer und jüngster Vergangenheit, erlebte eine fantastische Vielfalt von Kultur und Natur. Tempel, Burgen, Paläste habe ich erkundet, Museen durchwandert, Berge, Täler und Wälder voll Leben gesehen. Das war Indien. Das war Nepal. Das ist das Ende einer wunderbaren Reise.

Morgen früh werde ich die erste Metro zum Indira Gandhi International Airport nehmen und Indien verlassen. Doch noch geht es nicht nach Hause. Zuvor folgt noch das langersehnte Wiedersehen mit einer Fee und die gemeinsame Reise auf einem Fluss ins Herz eines gebirgigen Landes weit südöstlich von hier. Dort fand ich vor fünf Jahren einen paradiesischen Ort, den wir nun in Zweisamkeit besuchen werden. Wir freuen uns auf Luang Prabang am Ufer des Mekong. Doch dies ist eine andere Geschichte, zu der es gewiss keinen Bericht wie diesen geben wird.

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Road-Trip – South-west USA

Eine meiner schönsten Reisen, an die ich gerne zurückdenke, ware jener zweiwöchige Road-Trip, den ich mit meinem Leihauto im Südwesten der Vereinigten Statten im Februar 2014 erleben durfte. Etwa 5.000 Kilometer weit fuhr ich von San Francisco bis Dallas. Ich durchquerte große Teile Californiens, Nevadas, Arizonas, New Mexicos und Texas. Primärgrund der Reise ware eine einwöchige Konferenz, an der ich am Campus der Stanford University teilnahm.

Meine Route durch den Westen der USA, Quelle: Google Earth

Zwar gibt es von dieser Reise keinen Blog, dafür aber viele Briefe, die über das Internet ihren Weg nach Hause in Maria Elisabeths Postfach fanden. Darin schilderte ich die Schönheit dieser Reise. Hier ein paar Auszüge meiner Briefe aus Amerika:

Stanford

Stell dir einen Campus vor, zehn oder zwanzig Mal so groß, wie jener von Grenoble. Und nun tausche alle hässlichen Gebäude gegen rötlich schimmernde Prachtbauten ein, die architektonisch an die Höhepunkte griechisch, römischer Kultur erinnern. Was für schöne Plätze, Türme und Bibliotheken. Was für Fassaden! Der Campus hat sogar sein eigenes gratis Busliniennetz mit über zehn Linien.
Eine Uni wie diese sucht in Europa wirklich seines Gleichen. Auf vielen Plätzen stehen Originalskulpturen von Rodin. Überall Kunst, Kultur und Wissenschaft. Ein sehr inspirativer Ort.

Schön war es heute, den Campus zu erkunden. Ich bin stundenlang durch riesige Bibliothekshallen gegeistert und haben alte Werke – unter anderem eine Ausgabe der Divinia Comedia von 1780 in Händen gehalten. Das Buch ist älter als alles andere hier. Schöner Gedanke. Hernach hab ich lange vor Rodins Höllentor gestaunt, sein Hauptwerk, in welchem nicht nur der berühmte Denker verarbeitet ist, sondern vor allem viele Ideen und Motive von Dante und Baudelaire. Die Blumen des Bösen wachsen aus dem Höllentor heraus. Schön. Im Cantor Art Museum (die haben hier ein wunderschönes Kunstmuseum mit freiem Eintritt auf dem Campus) staunte ich dann noch über manch anderes Werk und genoss den Campus bei Nacht.

Jetzt genieße ein letztes Mal die Ruhe meines Hotelzimmers. Die nächsten zwei Nächte werde ich im Mehrbettzimmer eines Hostels in San Francisco verbringen. Sonntag werde ich die Pazifikküste entlang nach Süden fahren, bis San Simeon. Vielleicht sehe ich ein paar Seelöwen und Seeelefanten am Meer. Lass uns in diesem Leben noch gemeinsam durch viele Bibliotheken und Sternennächte geistern.

San Francisco

Nach einem langen, wunderschönen Tag in San Francisco, liege ich in meinem weichen Bett und berichte dir von der Schönheit der Welt. Da die Konferenz heute für mich noch nicht relevant war, nahmen ich den Caltrain nach San Francisco. Der Tag bot viele Highlights. China Town, die Shippermen’s Warf, Bars und Restaurants, Kirchen, buddhistische Tempel, eine spannende, achterbahnähnliche Fahrt auf den historischen Cable Cars und mehr. Dazu wunderbare Sicht auf Wolkenkratzer, die Bucht, rüber nach Oakland und weiter in die Ferne. All das wurde aber in den Schatten gestellt von einer einstündigen Bootstour rund herum um Alcatraz und dann hinaus zur großen, roten Brücke am goldenen Tor. Es war einfach fantastisch sich den in der Sonne blitzenden Pfeilern dieses gigantischen Bauwerks zu nähern und dann unter all dem Stahl hindurchzugleiten. Kaum ist man auf der anderen Seite angelangt, vergrößern sich die Wogen des Meeres um ein Vielfaches. Man spürt, dass man die Bucht verlassen hat und sich nun jenseits des goldenen Tors, im rauen Seegang des mächtigen Pazifiks befindet. Dass Golden Gate und seine Bridge waren wirklich tief beeindruckend. Sobald ich mein Auto habe, werde ich wohl noch einmal drüberfahren oder auch von dort die Sonne im Pazifik untergehen sehen.

Ich schick dir Grüße vom Pazifik, seinen endlos blauen Weiten, dem ewigen Rauschen der mächtigen Brandung, dem tiefen Blau, das fast die halbe Welt durchfließt. Stell dir vor, wie ich am Fuße steiler Klippen stehe und mit der Brandung Fangen spiele, wie ich warte, bis die Sonne untergeht und ihre letzten Strahlen atme. Eben da, im Augenblick des Sonnenuntergangs im Westen (bei dir geht jetzt die selbe Sonne gerade wieder auf), da sah ich einen Kolibri, der zwischen Ufersteinen tanzte. Und wandte ich meinen Blick weiter nach rechts, so sah ich dem Sonnenuntergang fast gegenüber stets die leuchtend rote Golden Gate Bridge.

Morgen leihe ich mir hier ein Fahrrad aus und erkunde die mir noch unbekannten Seiten der Stadt. Auch so manches Museum wartet noch auf mich.

Heute habe ich viele, viele Meilen mit dem Fahrrad zurückgelegt, durch den Golden Gate Park – einer der größten und schönsten Parkanlagen der Welt, die Küste entlang, über die große Brücke und zurück. Auch viele Paläste und Museen fand ich auf dem Weg, die California Academy of Scienes, mit Riesenaquarien und einem der größten Planetarien der Welt, den wie eine antike Ruine anmutenden Palace of Fine Arts, die Legion of Honour Gedenstätte mit Rodins Denker. So viel zu sehen. San Francisco hat mich wirklich überrascht. Nicht nur die landschaftliche Schönheit, auch die Kultur, die Kultiviertheit und die Freundlichkeit der Menschen. In den Parks findet man Statuen von Beethoven bis Cervantes, man errichtet Paläste zu Ehren Verdis – und dazu die schöne Natur – fantastische Parks. San Francisco hat in meinen Augen mehr Charme als so manche europäische Hauptstadt.
Geschlafen habe ich letzte Nacht hevorragend.

Fine Arts Center

Morgen um 11.30 vormittags hole ich also mein Auto ab, und meiner langer Road-Trip beginnt. Habe ich erst den Highway One erreicht, ist alles gut. Aber davor muss ich mich irgendwie durch das dichte Verkehrsgewimmel San Franciscos kämpfen – mit ungewohntem Auto und ungewohnter Schaltung. Aber bald hab ich dann rechts von mir den Pazifik und kann den ganzen verbleibenden Tag lang ungestört nach Süden brausen. Schöne Landschaften, atemberaubende Brücken und Seekühe warten auf dem Weg.

On the road – Tag 1

Mein Chevy Spark

Ach, die Fahrt war einfach traumhaft. Oft bin ich stehengeblieben und haben den Pazifik bewundert und die steile, schluchtenreiche Küste, an der sich der Hw 1 entlangschlängelt. Mal oben, mal beinahe am Strand. Auf halbem Weg bin ich beim Point Lobos eine Stunde lang durch die Felsen geklettert, habe Delphine, Robben und Seelöwen gesehen. Dann kam das schönste. Im Radio spielten sie Beethovens Sechste (viele Klassik-Sender) und zu eben diesen Klängen fahre ich die Küstenstraße entlang, während sich zu meiner rechten der Pazifik in immer tieferes Blau kleidet und ein roter Feuerball darin versinkt. Dann kehrt die blaue Stunde ein und Nacht legt sich über die Welt. Für die Länge einer Symphonie war alles traumhaft. Ich fahre nach Süden, über Brücken und Hügel. Und der Pazifik rauscht. Und die Sterne beginnen zu Strahlen. Die letzten 30 Meilen war ich bei Nacht unterwegs, fast das einzige Auto auf immer noch kurvenreicher Straße. Dann endlich sah ich vor mir die Lichter von San Simeon.

Wohlbehalten und bei bester Laune bin ich in meiner Lodge in San Simeon angekommen. Großes, komfortables Zimmer, ein beheizter Pool, was will man mehr?


Morgen früh sag ich dem Ozean Adieu und fahre Richtung Osten ins Tal des Todes.

On the road – Tag 2

Der Tag war traumhaft. Alles was ich über die Fahrt nach San Simeon gesagt habe, wurde vom heutigen Tag in den Schatten gestellt. Einsame Straßen, wunderschöne Landschaften, großteils alles Wüste. Es ist eine ganz eigene Art des Reisens, so mit eigenem Auto durchs weite Land zu fahren, doch inzwischen fühl ich mich dabei sehr wohl. Über 400 Meilen habe ich heute zurückgelegt, eineinhalb Tankladungen, doch es war nie wirklich anstrengend, konnte ich doch stets die Schönheit der Landschaft genießen und obendrein jederzeit stehenbleiben und zu Fuß ein Stück Gegend erkunden. Am Morgen spazierte ich ein letztes Mal zum nebelumfangenen Pazifik, der mir nun schon so fern ist, und brauste sogleich durch grüne, neblige Hügel. Nach ein klein wenig Zivilisation fand ich mich dann endgültig im Wilden Westen wieder. So viel Wüste hätte ich mir für Californien eigentlich gar nicht erwartet, und doch … Lang war die Fahrt durch die Mojave-Wüste, lang und schön. Ich kletterte auf den Felsen umher. Diese Farben, diese Schluchten. Stundenlang fährt man durchs Zauberland auf einer Straße, die vor mir mit dem Horizont verschmilzt. Und dann … Death Valley. Schluchten und Gebirgspässe. Ich bin heut schon durch eine Salzwüste gewandert. Und morgen habe ich den ganzen Tag, um diesen heißesten und trockensten Ort der Erde zu erkunden. Höhenmäßig ist man ist hier teils unter dem Meeresspiegel. Doch auch die Nacht hat ihren Zauber. An kaum einem Ort der Welt sieht man die Sterne so gut wie hier. Und diese Stille. Kaum zu glauben, dass nur eineinhalb Stunden von hier Las Vegas lauert. Bald werde ich auch dort sein. Aber bis dahin genieße ich noch sehr viel Wüste.
Denk an mich in stiller Sternenwüstennacht und denk daran, dass wir gemeinsam ebenso noch viele Wunder unseres Planeten erkunden werden.

Erschöpft und euphorisch liege ich im Bett des skurrilen Amargosa Opera House Hotels. Ein uralter Portier hatte mir das Zimmer gezeigt, das einzige Café hatte um sechs schon zu, also bin kurz noch zehn Meilen bis nach Nevada gefahren. Hinter der Grenze gabs natürlich gleich ein Casino mit angrenzendem Restaurant.

On the road – Tag 4


Eben lag ich auf meiner Decke am Wüstenboden und blickte in den sterndurchwirkten Himmel. Man kennt die Sternbilder nicht mehr, so voller Sterne sind sie. Nirgendwo ein Licht, das die Sternenpracht stört. Nur ganz im Osten, sieht man hinter den Bergen einen matten Schein die Dunkelheit trüben. Die Ursache dafür ist zwar 100 Meilen weit entfernt, dafür aber umso heller: Vegas.

Heute habe ich viel gesehen, wandernde Felsen aber leider keine. Dafür bin ich einen Canyon unter einer natürlichen Felsbrücke hindurch und bis hinauf zu ausgetrockneten Wasserfällen gewandert und habe viele bizarre Strukturen kristallisierten Salzes gesehen. Bei 32 Grad bin ich dann lange barfuß durch den Wüstensand gelaufen, bis auf die höchste Düne weit und breit.
Der Morgen war herrlich skurril. Ich, allein, im haunted opera house. Morgen habe ich keinen weiten Weg. Vegas ist ganz nah. Ich könnte in knapp eineinhalb Stunden dort sein, werde aber auf dem Weg noch Abstecher zu den Naturschönheiten von Ash Meadows und Red Rock Canyon machen.

On the road – Tag 5

Was für Kontraste! Death Valley, Red Rock Canyon und nun Vegas. Auf Stille und Natürlichkeit folgten ständige Lärmbeschallung und Künstlichkeit auf allen Ebenen. Bizarr, absurd, grotesk – und doch höchst interessant. Ich wanderte heute durch ein falsches Venedig, New York und Paris, sah ein Nebeneinander von geschmacklosem Prunk und bitterer Armut. Jack Sparrow, irgendwelche Transformers und Animationsfilmfiguren stehen auf den Straßen rum. Und dann zehntausende Spielautomaten, deren Reiz und Regeln ich nicht ganz erfasse. In einen habe ich einen Dollar reingesteckt und irgendeinen flimmernden Knopf gedrückt. Nichts ist passiert und der Dollar war weg. Nach einer Stunde hab ich es am anderen Ende von Vegas wieder versucht. Selbes Resultat. Beim letzten Versuch hat sehr viel geblinkt und mein Dollar hat sich in dreizehn Dollar verwandelt. Geht doch. Beim Roulette lief es in Venedig ganz gut, in New York aber nicht mehr so gut. Alles in allem ist ein Verlust von ca. €20 – für den Spaß, den ich hatte, aber allemal verkraftbar. Morgen erwarten mich der Hoover Damm und ein Sonnenuntergang am Grand Canyon. Schön. Irgendwie freu ich mich darauf aus dieser Stadt wieder raus zu kommen.

Morgen werde ich dir schon eine Zeitzone näher rücken, wenn ich die Grenze nach Arizona überquere.

On the road – Tag 6

Schön, wenn du von deinen Träumen erzählst. Wunderbar skurril. Leider habe ich grade keine passende Traumerinnerung im Repertoire. Dafür kann ich mit dem amüsanten Kontrast aufwarten, der zwischen meiner jetzigen Bleibe und der von gestern besteht. Ich sitze hier in einem Hotel des kleinen Ortes Tusayan, nur vier Meilen südlich vom Canyon. Im ganzen Ort und auch im Grand Canyon Visitors Center gibt es derzeit keinen Strom. Die heftigen Windstürme des heutigen Tages (ich hatte mit ihnen auf der Straße zu kämpfen) habe anscheinend einige Leitungen gekappt. Der ganze Ort ist stockfinster und folglich hat auch alles geschlossen. Nur die Hotellobby wird von einem Notstromaggregat versorgt. Und praktischerweise hängt da auch das WLAN dran. Nach dem lichtdurchflutendeten Vegas ist das hier ein schöner Ausgleich. 🙂

Die Fahrt des Tages war – wie schon gesagt – sehr windig. Dergleichen hab ich noch nicht erlebt. Man hatte Mühe in der Spur zu bleiben. Zum Glück hat mein Chevy Spark nicht sehr viel Angriffsfläche. Unweit vor mir kam’s zu einem fatalen Unfall als eine dieser großen Monstertrucks einfach von der Straße gefegt hat. Leider hat er auch zwei PkWs den Abhang mit hinab gerissen. Ansonsten war die Fahrt sehr angenehm. Obwohl ich wieder gute vier Stunden unterwegs war, wurde mir kein bisschen langweilig. Die Kombination aus wunderschönen menschenleeren Landschaften und wenig Verkehr sorgt weiterhin für unerwartet großen Fahrspaß. Meine erste Station war heute der Hoover Damm an der Grenze zwischen Nevada und Arizona. Damm wie auch Brücke sind beachtliche Bauwerke. Allerdings wird das Ganze von den Amerikanern ein wenig zu sehr in die Höhe gepriesen. „What the pyramids are to ancient Egypt and the Colosseum is to Rome, this mighty dam is to our glorious nation, usw. “ Man solls mal nicht übertreiben.

Schwer übertreiben kann man, wenn man vom Grand Canyon spricht. Der Moment, in dem man in zum ersten Mal sieht, friert wohl bei allen für Sekunden das Denken ein. Wow. Eine Stunde lang stand ich heute schon am Rande des Abgrunds und blickte an die 1500 m in die Tiefe. Einfach atemberaubend. Das kann kein Foto wiedergeben. Und morgen habe ich noch den ganzen Tag Zeit, um den Abgrund entlang und vielleicht ein Stück hinabzuwandern. Groß wäre natürlich die Versuchung bis hinab zum Colorado River zu klettern, aber dafür ist der Canyon einfach zu tief. 3000 Höhenmeter sind an einem Tag nicht schaffbar. Echt kalt ist es hier. Trotz Jacke und Pullover habe ich heute ziemlich gefroren. Immerhin bin ich hier ja auf 2100 m. Ein schönes, bewaldetes Hochplateau. Und dann steht man plötzlich vor der großen Schlucht.

On the road – Tag 7

Heute habe ich einen wunderbaren Tag am Canyon erlebt, mit vielen atemberaubenden Aussichten und spannenden Wetterkapriolen. So stand ich heute schon in dickflockigem, tiefwinterlichem Schneefall, der aber schon bald wieder der Sonne wich. Ich war schon früh auf den Beinen, um den Sonnenaufgang vom Canyon zu sehen. Eine Stunde später, als der Schnee kam, war vom Canyon für zwei Stunden gar nichts mehr zu sehen, nur Grau. Doch am Nachmittag bot das Wetter wieder wunderbare Einblicke in die Tiefen der Schlucht und hinab auf die Stromschnellen des Colorado Rivers. Man möchte so gern einer dieser California Condors sein, die hier in den Lüften kreisen und sich hinab in die Schlucht stürzen. Auch ein paar Elche habe ich gesehen. Der Grand Canyon ist ein weltweit einzigartiger Ort, den ich irgendwann einmal gerne wieder besuchen würde, dann aber entweder um bis an seinen Grund zu wandern oder ihn mit Rafting Boot zu bezwingen.

Die Wetterkapriolen sind leider noch nicht vorbei. Der Forecast klingt eher furchterregend. Anscheinend wird der ganze Westen morgen von einem Schnee- und Regensturm heimgesucht. Ich muss zusehen, dass ich von diesem Hochplateau wieder runterkomme, sonst bleibe ich noch hier stecken. Hoffentlich fällt über Nacht nicht zu viel Schnee. Mein Plan ist, morgen bis Tucson in Südarizona vorzudringen. Ich lasse zwar ein paar schöne Straßen und Gegenden dabei aus, doch bei diesen Bedingungen hat das keinen Sinn. Im Süden, nahe Mexiko, ist es warm und trocken. Dorthin muss ich morgen irgendwie gelangen. Fünf Stunden wär die Fahrt bei Idealbedingungen. Mal sehen.

Heute werde ich hier im Hotel noch speisen und mich dann noch eine Weile in den heißen Jacuzzi-pool legen. Gestern war ich dort ganz allein.

On the road – Tag 8

Eben kehre ich von einem nächtlichen Spaziergang durch Tucson zurück. In den europäischen Medien war diese Stadt ja höchstens durch das Attentat auf Julia Giffords präsent. Tatsächlich handelt es sich bei Tucson um eine weltoffene, multikulti Universitätsstadt mit an die 40.000 Studierenden. Eine liberale Oase im ansonsten sehr konservativen Bundesstaat Arizona.
Der Tag war wohl fahrtechnisch einer der anstrengendsten meines Roadtrips. Vor Schnee und Eis blieb ich verschont, aber der Regen… Ganze Wolkenbrüche stürzten da in Zentralarizona auf mich hernieder. Zuerst gings noch recht gut. Nach der angenehmen Landstraße vom Grand Canyon nach Süden erreichte ich einmal mehr die Route 66, auf der ich vorgestern schon ein paar Stunden unterwegs gewesen war. Bei Flagstaff bog ich dann auf die Interstate nach Süden ab. Da Autobahnfahren bei Regen und auch sonst nicht sehr angenehm ist, fuhr ich auf der Landstraße durch den schönen Oak Creek Canyon in Richtung Sedona. Letzteres hat wunderschöne, rote Felsformationen. Auch der Canyon war schön, erinnerte fast an manches Alpental, nur dass die Steine rot sind. Es regnete allerdings die ganze Zeit und an eine Fahrt über die Gebirgsstraße nach Prescott bzw. ein paar Wanderungen durch rote Steine war nicht zu denken. Ich musste zusehen, so weit wie möglich nach Süden zu kommen, um dem Regen zu entgehen. Also fuhr ich weiter auf der Interstate. Dort erwischte mich der Regen dann aber voll, vor allem beim Durchqueren von Phoenix. Wenn man auf einer siebenspurigen Autobahn bei ca. 100 km/h und viel Verkehr nur mehr Wasser sieht, dann ist das gar nicht so nett.

Südlich von Phoenix hörte dann endlich der Regen auf und ich fand die Sonne wieder. Da noch Zeit blieb wählte ich den längeren Weg über Landstraßen. Dabei machte ich am Casa Grande Monument halt. Beeindruckend. Es handelt sich dabei um ein dreistöckiges Gebäude aus dem frühen 14. Jh. – erbaut von einem Indianerstamm, der schon nicht mehr existierte, als die Spanier die Gegend erkundeten. Und die Sonora Wüste war einst grün und voller Leben, was den weitläufigen Bewässerungsgräben der Ureinwohner zu verdanken war. Heute sieht hier überall vor allem eine Pflanzenart: riesige Kakteen, wie ich sie nur aus Lucky Luke Comics kannte. Es gibt sie wirklich, bis zu fünf Meter in die Höhe ragend. In der Wüste ging mir dann kurz vor Tucson beinahe noch das Benzin aus. Zum Glück zeigte mir mein GPS eine gerade noch erreichbare Tankstelle.


Der morgige Tag verspricht wieder angenehmer zu werden. Der Regen dürfte vorbei sein. Ich besuche die WildWest-Orte Tombstone und Bisbee (bin dort teilweise nur mehr Minuten von der mexikanischen Grenze entfernt), sowie die bizarren Gesteinsformationen des Chiricahua National Parks. Und dann gehts weiter nach New Mexico, wo ich in Silver City nächtigen und mir davor noch die Oscar Verleihung ansehen werde.

On the road – Tag 9

Nach einem sehr schönen Tag liege ich eben im Bett meines Motels in Silver City und genieße es, den Schauspielern zuzusehen, wie sie sich freuen, ihre Oscars zu kriegen.

Der heutige Tag hatte zwei Hauptattraktion: Tombstone und Chiricahua. Dazwischen viele Meilen leerer Landstraßen durch beschaulich schöne Gegenden. Das Fahren hat heute wieder so richtig Spaß gemacht.
Tombstone war wunderbar kultig. Besonders der Friedhof, der die Besuchenden unmittelbar mit dem Damals konfrontiert. Auf den meisten Grabsteinen stehen Name und Todesursache. “Shot by Indians”, “Shot by the Clanton Brothers”, “Murdered”, “Hanged”, “Lynched by Mistake”, “Drowned”, “Killed by a Chinamen”, “Suicide“, „Shot while playing cards“. Auf vielen Gräbern steht einfach nur: „Unknown“. Ich habe viele davon fotografiert. Ach … Wie passend. Bei den Oscars zeigen sie eben – wie jedes Jahr – die Bilder der im letzten Jahr verstorbenen Größen des Films. Peter O’Toole, Maximilian Schell, Philip Seymour Hoffmann. Zurück nach Tombstone. Man fühlt sich zurückversetzt in eine wilde Zeit. Am OK Corrall kann man den genauen Ort des berühmten Gunfights besichtigen. Auch ein gut inszeniertes Shooting mit kultigen Schauspielern wurde dort aufgeführt. Und die Straßen, die Saloons, die Landschaft … Dann gab’s noch eine alte Historama-Show mit Film und Puppenspielelementen, dazu die wunderbare Erzählerstimme von Vincent Price! Ein bisschen kitschig, aber schön. Man fühlt sich sehr an den Film „Tombstone“ erinnernt. Ich habe heute große Lust bekommen, ihn mir wieder einmal anzusehen. Kurt Russell als Wyatt Earp und Val Kilmer als Doc Holliday sind einfach grandios. In einem etwas zu touristischen Saloon habe ich gespeist und bin wieder losgefahren, ganz nahe der mexikanischen Grenze. Schon bald wurde ich an einer grimmigen Border Patrol Kontrollstelle angehalten. Die haben hier regelmäßige Checkpoints. Man ließ mich nach Durchsicht des Reisepasses aber gleich weiterfahren. Nicht einmal in den Kofferraum wollte man blicken.

Auf einsamen Straßen ging’s dann weiter zum Chiricahua Park. Lange bin ich dort herumgeklettert und habe Felsen bestiegen, die rein optisch eigentlich schon vom Zusehen umfallen sollten. Defying Gravity. Schön. Mit der versinkenden Sonne im Rückspiegel raste ich dann über die Grenze nach New Mexico und hinauf in die Hügel von Silver City. Die Stadt klingt schöner als sie ist.

Morgen werde ich nördlich von hier die Gila Cave Dwellings erkunden und dann auf schönen Landstraßen im Zickzack und über den Emory-Pass fahren um zum Sonnenuntergang bei den Radioteleskopen des Very Large Arrays zu sein. Hm, „Gravity“ hat eben den Oscar für beste Filmmusik bekommen. Jedenfalls werde ich morgen zwischen den Radioteleskopen die Sonne untergehen sehen. Ein schöner Plan.

On the road – Tag 10

Eben bin ich in Socorro, einer eher uninteressanten Stadt, die aber praktisch gelegen ist, um als Nachtquartier zu dienen. Sogar eine Universität gibt es hier. Eben, als ich in einem Diner zu viel aß, unterhielt ich mich mit zwei gestressten Mathematik-Studenten, die über ihren bösen Professor Dr. Stone lästerten.

Ansonsten war der Tag von einsamen Straßen und von Weiderosten (an die 100 cattle guards) dominiert. Von Silver City aus ging’s zuerst zwei Stunden nach Norden zu den abgeschiedenen Cliff Dwellings am Oberlauf des Gila Flusses. Die Straße dorthin führt über hohe Berge, teilweise nur einspurig, also ohne Mittelstreifen. Der Schnee kroch manchmal bis auf den Asphalt. Schöne Ausblicke. Und letztlich: eine schöne halbstündige Wanderung zu den Höhlen und den Bauten darin, die bis zu 1500 Jahre alt sein sollen. Später fuhr ich über den verschneiten Emory-Pass wieder ins flache Land hinab.

Auf dem Weg zum VLA schlägt mein Lonely-Planet Reiseführer die Scenic Route New Mexico 52 vor. Was das Buch vergisst zu erwähnen, ist, dass 70% der Strecke nicht asphaltiert sind. So fuhr über eine Stunde lang durch beschauliche Landschaft über Schotterpisten und wich Kühen, Rehen und irgendwelchen antilopenähnlichen Tieren aus. Kein einziges Fahrzeug kam mir entgegen. Da es auf der Straße anscheinend keine Geschwindigkeitsbegrenzungen mehr gab und ich teils bis weit vor mir den Weg überblicken konnte, fuhr ich mit über 100 km/h auf dem Schotter dahin. Spannend. Indes kleidete sich mein Chevy mehr und mehr in Schlamm ein.
Kurz vor Sonnenuntergang fuhr ich über eine weitere Hügelkuppe und hatte plötzlich das VLA vor mir. Ich erwanderte eines der Teleskope und genoss von dort das Ende des Tages und den Untergang einer blutroten Sonne. Nach einer Stunde Fahrt bei Nacht erreichte ich Socorro. Anhalter bin ich bis heute übrigens noch keinem einzigen begegnet.

Morgen habe ich zum Glück wieder weniger Strecke vor mir, dafür ein besonders Highlight: den White Sands National Park.

On the road – Tag 11

White Sands war schön. Drei Stunden lang bin ich über Dünen gewandert. Der Himmel war wolkenverhangen, also so weiß wie auch der Boden. Alles war weiß. Und inmitten all der Weiße: ich als schwarzer Punkt im Nichts. Man freute sich über jeden Strauch und jeden andern dunklen Fleck, der Abwechslung bietet. Ich habe im Sand gegraben und bin die steilen Dünen hinabgesprungen. Meine Schuhe sind immer noch voll Sand.

In östlichen Texas, wo meine lange Fahrt ein Ende finden wird, gab es gestern einen Eissturm. Die ganze Ostküste wird derzeit von extremem Winterwetter heimgesucht. Hoffentlich legt sich das, bis ich dort bin.

Morgen besuche ich den 40-Einwohner Ort Lincoln, in welchem Billy the Kid erschossen wurde. Noch einmal Wildwest-Romantik. Nächtigen werde ich in Roswell, dem Mekka der Verschwörungstheoretiker. Ob ich dort wohl UFOs seh?
Für Donnerstag steht noch etwas ganz Besonderes an. Eben hab ich mir eines der letzten Tickets für eine dreistündige geführte Höhlenwanderung durch jene Regionen der Carlsbad Caverns gesichert, die sonst nicht für Besucher zugänglich sind.


On the Road – Tag 12

Der heutige Tag war eher ruhig. Beschauliche Fahrt auf leeren Straßen. In der Beinahe-Geisterstadt Lincoln sah ich ein paar Einschusslöcher von der Flucht des Billy the Kid, sowie die beiden Stellen, an denen die Hilfssherriffs zu Grunde gingen, die ihm in den Weg kamen. Zwei Museen geben Einblick in die spannende Geschichte des Lincoln County Wars. Es gab auch einen sehr gut gemachten Info-Film. Die Dimensionen sind herrlich. Lincoln-County war Ende des neunzehnten Jahrhunderts in etwa so groß wie Irland und hatte genau einen einzigen Sherriff, um nach dem Rechten zu sehen. Lawless land. Ein weiteres kurioses Detail hat mich amüsiert. Der damalige Gouverneur von New Mexico, Lew Wallace, der mit Billy the Kid brieflich korrespondierte und ihn auch insgeheim persönlich traf, da man gemeinsame Feinde hatte, ist überdies auch Schriftsteller gewesen. Sein bekanntestes ist „Ben Hur“, Vorlage für den Monumentalfilm. Kuriose Zusammenhänge.

Roswell ist eher langweilig. Das UFO-Museum und „Research Center“ bietet sehr viel pseudowissenschaftlichen Kitsch, inklusive Däniken und allem, was dazu gehört. Mit der Geschichte des berühmten Roswell-Incidents habe ich mich früher einmal eingehend beschäftigt – als ich zwölf war, glaube ich. Schon damals erschien mir die Wetterballon-Erklärung als plausibel, aber manche Leute sehen eben gerne Schatten (oder Aliens), wo keine sind. Überraschend gut fand ich das hiesige Kunst- und Kulturmuseum. Schöne Werke, modern und klassisch, schöne kulturgeschichtliche Details.
Morgen aber wird ein absolutes Highlight werden. Ich freu mich auf die Höhlen.

Bei Betrachten diverser Facebook-Bilder wurde mir gerade bewusst, wie passend doch der Zeitpunkt meiner Abwesenheit ist. Ich habe es geschafft dem ganzen Faschingsfirlefanz zu entgehen.

Zwei Motel-Nächte noch, zwei Nächte bei meiner einstigen Gast-Familie in Texas, eine Nacht im Flugzeug und schon bin ich zu Hause.

On the Road – Tag 13

Eben habe ich mich ins letzte Motel dieser Reise eingecheckt. Die meisten waren recht okay. Vor allem das gratis WLAN überall hat seine Vorzüge. Kultigste Residenz dieser Reise ist und bleibt aber das Amargosa Opera House. Morgen bin ich dann bei M. und C.,  meiner Gast-Familie von damals. Irgendwie schade, dass die beiden nicht mehr auf derselben Farm wohnen. Es wäre schön gewesen, den von einst vertrauten Ort, wo ich als Fünfzehnjähriger zehn Monate verbrachte, wiederzufinden und wiederzuentdecken, wieder über dasselbe Grundstück zu reiten. Ob die beiden wohl noch Pferde haben und Hühner schlachten? Ich werde es feststellen. Bis dahin liegt aber noch viel Straße vor mir, viel eintönige Straße. Ich werde morgen früh aufbrechen und in knapp acht Stunden Fahrt drei Viertel des nördlichen Texas zu durchqueren. Flaches, flaches Land. Kaum Sehenswertes. Da muss ich morgen durch.

Ach, die Höhlen. Schön wars. Zwar sind die Carlsbad Caverns bei weitem nicht so ästhetisch reizvoll wie die Grottes de Choranche, die wir vergangenen Sommer gemeinsam bestaunten, doch war ich noch nie zuvor in einem so weiträumigen, großen Höhlensystem. Riesige Kavernen. Die Führung war recht nett. Störend daran waren nur die andern elf Leute. So gern würde man dort unten alleine sein. Und im schönsten Moment, als man in einem niedrigen Schacht gemeinsam alle Lampen ausmacht, um die absolute Dunkelheit zu genießen, muss natürlich jemand sagen: „Oh not, I can’t do that. Let’s turn the lights back on. Please“ Grrrr. Witzig war der alte, hyperaktive Holländer, der am liebsten überall hin gekrochen wäre und die Nacht in der Höhle verbracht hätte. Ein Höhlenfreak, sonders gleichen. Überall gewesen. Auch in Laos, in jenen wunderschönen Höhlen, die wir beide nächstes Jahr besuchen werden.

On the Road – Tag 14

Hier bin ich, in einem bequemen Zimmer im Hause von M. und C. Wir verbrachten einen kurzweiligen Abend mit irgendwelchen Bekannten in einer Weinschenke. Anschließend zeigte ich den beiden unsere Videos von Grenoble, Montreux und Zürich. Sie sind ganz begeistert von dir, weniger begeistert von Haggard. Mehrmals wurde mir gesagt: „You two have to get married in Texas.“, was ich kommentarlos stehen ließ. M. und C. sind genauso wie ich sie in Erinnerung habe.

Die Fahrt des Tages war problemlos zu meistern, hat beinahe Spaß gemacht. Pferde haben M. und C. leider keine mehr, dafür drei neue Hunde, die mich schon ordentlich voll gesabbert haben. Der größere Hund ist nach einem Bürgerkriegsgeneral der Südstaaten benannt. Herrlich.
Morgen folgt ein ruhiger Tag. M. will mir ein paar neue Waffen zeigen. Abends fahren wir dann Sushi essen. Irgendwie schön, wieder hier zu sein. Ich bin dir überigens schon wieder eine Zeitzone näher gerückt.

On the Road – Tag 15

Nach problemloser Rückgabe meines Chevy  sitze ich nun im regen Treiben des Dallas Flughafens und warte auf den Abflug. Ein kurzer und ein langer Flug stehen mir bevor. Der gestrige Abend war noch recht nett. Wir gingen gemeinsam Sushi-Essen und sahen uns den legendären Film „Don’t go in the woods“ an – ein grotesk-schlechter Horror-Streifen, bei dem man einfach nur mehr lachen muss. Nach zwölf Jahren war er wieder anschaubar.

Nun fliege ich bald und freue mich sehr darauf 1) zu fliegen, 2) zu dir zu fliegen und 3) das nächste Mal mit dir zu fliegen.

Japan 2017

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Tag 1

Der Flug von München nach Tokio war herrlich. Ich genoss die Aussicht. Vom Flieger aus sah ich viel von Europa, Sibierien und Japan. Ein erstes Highlight war Wien, das wir genau überflogen. Der Hauptbahnhof wirkte geradezu winzig. Gut zu erkennen waren auch der Zentralfriedhof, Donauinsel und Donau, der grüne Auen ich bis zur Mündung der March an der slowakischen Grenze überblicken konnte. Bald nach Bratislava konnte man auf Polen und Weißrussland hinabblicken. Schließlich auf Russland und den Ural. Obwohl wir abends starteten und morgens landeten, wurde es nie ganz dunkel. Dazu waren wir zu weit im Norden. Der Flügel, den ich von meinem Fenster aus, war den ganzen Flug lang von der Sonne beschienen. Die Nacht kam nie. Nach sechs Stunden Abendrot begann es einfach wieder hell zu werden. Währenddessen blickte ich hinab auf den mäandernden Ob und auf den mächtigen Jenissei. Unglaublich wie dünn besiedelt diese Landstriche sind. Kaum Straßen und Lichter, keine Brücken und Städte. Nur vereinzelte Seen und Schneeflächeln. Viel Flachland, vereinzelte Hügel, wunderbare Wildnis. Die Lena verschlief ich, als ich über dem östlichen Sibirien etwa eine Stunde lang die Augen schloss. Umso wacher war ich beim Überflug des weiten, verästelten Amurs, an dessem östlichen Ufer endlich wieder mehr Zivilisation zu sehen war. Ein Stück nördlich von Wladiwostok erreichten wir nach zehn Stunden Flug über Land endlich die Japanische See. Wir überflogen das zentrale Honshu. Vom Fenter aus konnte ich bald den Fuji sehen und die Bucht von Tokyo, die wir in großem Bogen umkreisten, um hernach sanft in Haneda zu landen.

Gleich am ersten Tag besuchte ich zwei schöne Extreme der Stadt, zuerst den herrlich ruhigen Meiji-jingu, den großen, von hohen, dichten Bäumen umgebenen Shinto-Schrein, wo Kaiser Meiji und seine Gemahlin ihre letzte Ruhestädte haben. Soviel Grün inmitten der Stadt ist wahrlich erfrischend. Die Teiche, die Blüten und Vögel des Refugiums bilden ein beschauliches Ganzes. Die hohen hölzernen Tore und breiten Aleen zwischen die Baumriesen sind wahrlich erfurchtseinflößend. Abends besuchte ich den Stadtteil Shibuya, der mit seinen Unmengen an leuchtenden Farben, seiner bei Grün von tausenden Fußgänger*innen gleichzeitig gefluteten Kreuzung, seinen hohen Türmen, seinen riesigen Bildflächen und abertausend Shops und Restaurants zum Staunen anregt. Ich aß in einer tradiotenellen japansichen Kneipe, drehte meine Runden durch die Fülle des Ortes und genoss die Aussicht hinab auf dies alles von einem der Wolkenkratzer. Schön.

 

Tag 2

Am zweiten Tage meiner japanischen Reise – noch vor Beginn der Konferenz zu variablen galaktischen Gammastrahlenquelle, verbrachte ich den Morgen damit, durch den ruhigen Stadtteil Yanaka zu schlendern, der von den Umwälzungen, Katastrophen und Bauplänen des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend verschont geblieben ist – ein letztes Stück ursprünglichen Tokios: mit niedrigen Häusern, kleinen Läden und Flair. Nahebei liegt der große Friedhof von Yanaka-reien. Auch Yoshinobu Tokugawa – der letzte Shogun – liegt hier begraben. Ich wanderte zwischen den schriftzeichenreichen Gräbern umher, beobachtete die riesenhaften Krähen, die sich gerne auf den Grabsteinen niederlassen und manch Katze, die hier ihre Runden dreht. Östlich des Friedhofs erstrecken sich kleine Gassen mit Kunstgalerien – unter anderem auch der Workshop des bekannten Malers Allan West. In einem beschaulichen Kaffee machte ich Pause. Ein Stück weiter östlich liegt der riesenhafte Ueno-Park mit seinen Tempeln, Wäldern und Wasserwegen. Auch das wohl beste Museum der Stadt – das Tokyo National Museum – ist hier zu finden. Eben dieses zu Besuchen war mein Plan gewesen. Doch ich hatte übersehen, dass die meisten Museen Tokyos am Montag geschlossen hatten. Stattdessen besuchte ich den Shinto-Tempel von Ueno Tosho-gu, wo neben den beschaulichen Schreinen auch eine Flamme des Feuers der Atombombenexplosion von Hiroshima brennt. Sie soll solange weiterbrennen, bis alle nuklearen Waffen der Welt vernichten worden sind. Nach weiterem Wandeln im Park und endlich seinen südlichen Teichen, gönnte ich mir ein schmackhaftes Fischgericht nahe Ueno-Station und floh dann vor der Hitze des Tages zurück ins Hotel.

Abends ging es wieder nach draußen. Im östlichen Stadtteil von Asakusa besuchte Tokyos meistbesuchten Temple, den Senso-ji. Dieser beeindruckt vor allem durch sein riesenhaftes Donner-Tor Kaminari-mon, sowie die über fünfzig Meter hohe, wunderschön verzierte Pagode. Zu Fuß näherte mich bei einbrechender Dämmerung schließlich dem letzten Höhepunkt des Tages, einem Bauwerk das man schon von weitem sieht. Der 634 m hohe Tokyo Sky Tree ist nach dem Burj Khalifa in Dubai das zweithöchste Gebäude der Welt, über zweimal so hoch wie der Eiffelturm. Hinzu kommt, dass der Turm nicht von weiteren hohen Gebäuden, sondern im Stadtteil Oshiage östlich des Sumida-Flusses nur von kleinen Wohnhäusern umgeben ist. Umso außerirdischer wirkt dieser Turm. Ich fuhr nicht mit der U-Bahn hin, sondern kreuzte zu Fuß den Fluss und bahnte mir durch stille Straßen meinen Weg in Richtung Sky Tree. Mit dem Lift ging es nach oben. Die Aussicht war mehr als überwältigend. Von zwei mit Bars und Restaurants luxuriös eingerichteten Plattformen auf 350 und 450 m Höhe blickt man hinab auf die größte funktionierende Agglomeration, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Würde man – die von hier sichtbaren – Nachbarorte hinzuzählen, so wäre Tokyo die größte Stadt der Welt. Doch im Unterschied zu vielen anderen Riesenstädten dieser Erde ist Tokyo auch ein Ort, der funktioniert. Die Infrastruktur ist erstklassig. Armut und Arbeitslosigkeit sind auf sehr niedrniedrigenen. Tokyo leuchtet und glänzt. Unweigerlich löst der Blick hinab auf das pulsierende Lichtmeer von High-tech-Tokyo mit seinen tausend Türmen ein starkes Gefühl von Ehrfurcht und Zuversicht aus. Allein die Tatsache, dass so ein System der zig-Millionen Menschen funktionieren kann, ist erstaunlich. Im Südwesten im Abendlicht noch schemenhaft sichtbar, blickt der Fuji hinab auf die Ebene Tokios. Zwischen den Lichtadern der Stadt erstrecken sich mancherorts die dunklen Flächen der Parks und die zwei dunklen Flussläufe von Sumida und Arakawa. Ansonsten strahlten überall die Lichter der Straßenzüge, Türme und Plätze. Hell und bunt leuchtete das Riesenrad von Odaiba über dem blau beleuchteten Wasser der Bucht von Tokio. Gut erkennbar waren die einzelnen Stadtteile von Shibuya, Shinjuki, Ikebukuru und Central-Tokyo. Zwei Stunden lang blieb ich im Turm und genoss den Blick in alle Richtungen. Keine andere Stadt strahlt so hell in die Nacht hinaus. Die nächtliche Metro brachte mich schließlich ins Hotel nach Ikebukuru.

In den nächsten Tagen würde keine Zeit für Sightseeing bleiben. Der Zweck dieser Reise war schließlich nicht Urlaub.

 

Tag 3

Am Vorabend des letzten Tages der Gammastrahlenkonferenz – dem eigentlichen Hauptzweck dieser japanischen Reise – fuhr ich in den südlich von Ikebukuru gelegenen Stadtteil Shinjuku. Hier befinden sich die imposanten Gebäude des Tokyo Metropolitan Government. Über voluminöse unterirdische Korridore wurde ich auf Laufbändern unter dem halben Viertel hindurchgeschleust und erreichte schließlich die Regierungsgebäude. Ein Lift brachte mich ins oberste Stockwerk eines der zwei Türme. Ein weiteres Mal konnte ich Tokio in der hereinbrechenden Abenddämmerung von weit oben betrachten – diesmal jedoch aus einem ganz anderen Blickwinkel. Statt im Osten – wie auf dem Tokyo Sky Tree – war ich nun eher im äußeren Westen der Metropole. Dennoch fiel es mir inzwischen schon leicht, die einzelnen Wolkenkratzerinseln, Flüsse und Parkflächen zu identifizieren. Auch ein Restaurant gab es hier im Turm. Bei gutem Essen genoss ich den Blick auf Tokio, das stets heller strahlte, je dunkler die Nacht wurde.

Zurück am Boden schritt ich zu Fuß durch die Straßen, querte die Bahnlinie und erreichte das lautschrille Vergnügungsviertel von Kabukicho. Bunter und voller können Straßen kaum sein. Riesige Spielhallen voll klassischer und futuristischer Videospielarten, Restaurants, Karaokebars, dubiose Etablissements mit Manga-Erotik und mehr säumten die engen Straßen. Mittendrin steht ein einsamer Shinto-Tempel. Schöne Kontraste. Eine Stunde lang schritt ich hier umher, studierte die Straßen, Menschen und Speisekarten, kehrte dann zurück zum Bahnhof und fuhr zurück ins nördlich gelegene Ikebukuru, wo die letzte Nacht im Hotel und der letzte Vormittag voller Gammastrahlen folgte.

Am nächsten Tag gegen ein Uhr nachmittags verließ ich Ikebukuru endgültig. Auch wenn ich in acht Tagen noch einmal nach Tokio kommen würde – hierher würde es mich nicht mehr verschlagen. Da war die Bäckerei, wo ich jeden Morgen gefrühstückt hatte. Da war der Weg zur Uni von Rikkyo, den ich so oft zurückgelegt hatte. Schon ein paar Tage können reichen, um beim Abschied nostalgisch zu werden.

Eine spannende Fahrt lag vor mir. Zuerst suchte ich Tokyos südlichem Bahnhof von Shinagawa auf, wo ich den Shikansen nach Kyoto besteigen wollte. Also funktionierte wunderbar. Eine noch besser organisierte Infrastruktur wie die japanische ist kaum vorstellbar. Pünktlich auf die Sekunde fuhr der Shikansen – der japanische Hochgeschwindigkeitszug mit seiner langen, flachen, aerodynamischen Nase am Gleis ein. Ich fand einen schönen Fensterplatz und wurde sogleich mit über 350 km/h nach Süden getragen. Die Aussicht war schön. Zum ersten Mal seit drei Jahren sah ich den Pazifik – diesmal von der anderen Seite. Ich sah Wälder, Flüsse, Städte und den Ozean. Die 480 km lange Fahrt dauerte knapp über zwei Stunden. Als der Zug aus einem Tunnel schoss und das Becken von Kyoto erreichte, war er sogleich von heftigem Regen umgeben. Zu Fuß zu meiner Unterkunft zu gelangen war vorerst nicht ratsam. Zum Glück ist Kyotos futuristischer Bahnhof schön für sich eine Sehenswürdigkeit, die ich in aller Ruhe erkunden konnte, während draußen der Sturm niederging.

Als die Straßen trocken genug schienen, begab ich mich auf die Suche. Einen Teil des Weges konnte ich unterirdisch zurücklegen. Ich kreuzte den Fluss Kamo und erreichte den historisch bedeutsamen Stadtteil Higashiyama. Eben als ein neuerliches Gewitter die Stadt erreichte, fand ich meine Unterkunft. Eine nette, alte Japanerin zeigte mir die Räumlichkeiten und erklärte mir alles in gebrochenem Englisch. Ich war zufrieden. Ein gemütliches Zimmer, das ich die nächsten sechs Tage über bewohnen sollte, erwartete mich. Gleich gegenüber liegt ein buddhistischer Tempel. Beschaulich ruhige Straßenzüge. Schön.

Bald hörte der Regen auf. Ich verbrachte den Abend bei einem Spaziergang durch Süd Higashiyama, entlang dem Rand der Hügelkette über historische Straßen mit so manchem Schrein und manchem Tempeltor. Im Westen konnte ich die untergehende Sonne sehen, im Osten bald darauf den aufgehenden Vollmond. Morgen würde ich hier in dieser Gegend die schönsten Tempel der alten Hauptstadt mit ihren Gärten erkunden. Heute war es dafür schon zu spät. Die Luft noch frisch vom Gewitter. Überall hörte man den Gesang der Zikaden. Welch ein Kontrast zu meinem gestrigen Abend im lauten Shinjuku.

Über einen kleinen Park mit steinernen Brücken über fischreiche Teiche erreichte ich einen nachts bunt beleuchteten Schrein mit tausenden farbigen Lampions. Treppen führten mich hinab in den Stadtteil Gion, der vor allem für die Tradition der Geishas Berühmtheit erlangt hatte. Hier aß ich in einer authentischen Stube ein paar gute Udon-Nudeln mit Fisch. Durch nächtliche Straßen entlang roter Laternen und durch das Gelände eines fast dunklen Tempels hindurch kehrte ich zurück in meine Unterkunft.

 

Tag 4

Kyoto ist sehenswert. Selten gibt es so eine schöne Dichte an Historie und Schönheit, an UNESCO-Weltkulturerbestätten (17) und Wohlfühloasen, an Natur und Kultur zugleich.

Es war ein langer Tag. Tempel für Tempel, Garten für Garten bahnte ich mir meinen Weg den östlichen Waldrand entlang nach Norden, zuerst durch südliche Higashiyama, dann durchs nördliche Higashiyama, dann hinauf in die Berge. Dabei sah ich und erlebte ich vieles. Die schönsten, sorgsamst verzierten, zierlichsten Gärten, die wohl auf der Welt zu finden sind, findet man in Kyoto, wo mancher schöne Shinto-Schrein oder manch buddhistischer Tempel von kunstfertigen Oasen, von Meisterwerken sowohl von Menschhand wie auch von natürlicher Entfaltung geschaffen, verborgen liegen. Vor allem die Gartenlandschaften von Shoren-in, Honen-in und Ginkaku-ji sind hier hervorzuheben. Schön sind aber auch jene Tempel, die durch ihre großen Hallen und imposanten Bauten beeindrucken, etwa Kiyomizu-dera, Chion-in, und Nanzen-ji. Letzterer bleibt mir in besonderer Erinnerung. Zum einen genoss ich dort allein in einem stillen Raum mit Blick auf einen kleinen Wasserfall eine Tasse hervorragenden grünschäumenden Tee. Man sitzt da, betrachtet den Lauf des Wassers und hat all die Zeit der Welt. Wandert man hinter Nanzen-ji ein Aquädukt entlang und dann kleines Tal hinein in die Wälder, so findet man schöne, alte Schreine und einen größeren Wasserfall unter den sich manch Mönch auch im eiskalten Winter gestellt haben soll.

Die vielen buddhistischen Tempel, die ich hier in Kyoto sah, wirkten auch in gewisser Weise wie alte Bekannte. In so vielen Ländern hatte ich schon buddhistische Tempel besucht und die verschiedenen Eigenarten lokaler Ausprägungen des Buddhismus kennengelernt. Gerne denke ich zurück an das nepalesische Lumbini, Buddhas Geburtsort mit seinen vielen Tempeln vieler Länder. Aber auch Sarnath und andere Orte Indiens, die tibetischen Bergklöster Sikkims, die großen Buddhas von Ayuthaya oder Sukothai in Thailand, die vielen beschaulichen Tempel von Laos und Kambodschas – all diese Stätten, die ich meist bei – wie heute sehr hohen Temperaturen – erkundet hatte, flammten mir im Gedächtnis auf.

Mittags aß ich hervorragende Soba-Nudeln. Entlang eines gurgelnden Bach schritt ich danach den sogenannten Philosophen-Pfad entlang zu den nächsten Tempeln und Gärten. Mancherorts herrschte viel Betrieb. Andere Tempel blieben von den Horden gemieden. Teils war ich ganz allein dort. Hoch über dem Ginkaku-ji erhebt sich der Berg von Daimon-ji Gozan. Etwa dreißig Minuten stieg ich den steilen, dichten Wald empor und erreichte dann einen kleinen überdachten Schrein, von wo ich eine wunderbare Aussicht über ganz Kyoto hatte. Ich wollte noch weiter, stieg weitere zwanzig Minuten hinauf zum Gipfel und konnte nun auch weit in Richtung Osten und Süden blicken, fast schon bis nach Osaka. Hier, vierhundert Höhenmeter über der Stadt in den Wäldern war der Blick ins Tal atemberaubend schön. Ich sollte ihn noch länger genießen, als mir lieb war. Am Weg abwärts hörte ich schon bald das Nahen eines Gewitters. Und dann sah ich auch schon wie ein dunkler Regenschleier über der Stadt lag und sich langsam in meine Richtung bewegte. Gerade noch rechtzeitig erreichte ich den überdachten Schrein am Aussichtspunkt. Hier – gemeinsam mit fünf Japanern – brachte ich mehr als eine Stunde lang zu – kämpfte mit dem teils waagrecht einfallendem Regen und bewunderte Blitze, Donner und wandernde Wolkenmassen. Nur wenige so schöne Gewitter habe ich in voller Länge bestaunen können. Schön wars.

Sehr viel später schritt ich talwärts, fuhr mit dem Bus ins Zentrum der Stadt, wo ich die schöne, restaurantreiche Gasse von Ponto-cho durchschritt und auf ein gutes Mahl eingekehrte. Sehr müde aber froh erreichte ich meine Bleibe.

 

 

 

Tag 5

Auch heute wollte ich wieder wandern gehen. Zuerst aber galt es, noch ein weiteres Weltkulturerbe (einige der Tempel des gestrigen Tages waren auch welche gewesen) aufzusuchen. Im nördlichen Kyoto im Mündungsdreieck der Flüsse Takano und Kamo liegt der Schrein von Shimogamo-jinja. Tief im Wald verbergen sich die alten bis ins achte Jahrhundert zurückdatierbaren Bauten. Ein japanisches Paar feierte eben Hochzeit und stand in traditioneller Kleidung zwischen den Torbögen. Ein paar Mönche zogen umher. Beschaulich. Am Weg zurück wählte ich statt der ruhigen Allee zwischen den Bäumen die laute Allee parallel dazu. Hunderte Händler boten hier in kleinen Ständen ihre Waren an. Ich verkostete ein paar Leckerbissen, trank einen ausgezeichneten French Vanille Tapioca Tee und bestaunte potentielle Souvenirs.

Mit einer kleinen Bahnlinie ging es hernach weiter nach Norden, hinaus aus der Stadt, hinein in die Berge. Beim vorletzten Stopp stieg ich aus und schlenderte einem Wildbach entlang nach Nordwesten zur winzigen Ortschaft Kibune. Erfrischend ist es, ausnahmsweise einmal wieder keine Millionenstadt um sich zu haben, sondern waldreiche, saftig grüne Berge. In Kibune gibt es zahlreiche Ryokans. Man kann diese vielleicht am besten als kleine meist familiengeführte Spa-Hotels mit heißen Thermalbecken und exzellenter, traditioneller Küche beschreiben. Der Restaurantbereich ist hier in Kibune bei vielen Ryokans auf einer Bambusplattform direkt über den Fluss gebaut. Gemeinsam mit den roten Lampions schafft dies ein bezauberndes Ambiente.

Im schönen Tempel von Kibune übten sich viele Besuchende im Brauch spezielle Papierblätter auf die Wasseroberfläche eines Teiches zu legen. Dabei wurden nicht nur die Schriftzeichen einer Prophezeiung sichtbar, sondern auch ein QR-Code, den man sogleich einscannen und so eine Übersetzung in ,odernem Japanisch bzw. Englisch bekam. Eigens zu diesem Zweck gab es hier im Bergtempel auch WLAN. Faszinierend.

Von Kibune aus wanderte ich dann über steile Pfade die östlichen Berge hinauf. Ein alter Pilgerweg führt über einen Pass zum nahe dem Gipfel gelegenen Kurama-dera Tempel. Am steilen Aufstieg passierte ich so manchen Schrein. Ein Schild warnte vor wilden Bären. Im heißen, feuchten Klima des Tages war der Aufstieg recht beschwerlich. Aber schön war es auch – hier im Bergwald fernöstlicher Fauna und Flora. Ich erreichte den Tempel, bestaunte seine hohen Hallen, seine Ziergärten und Tigerstatuen. Vor allem beindruckt hier aber die Lage. Weit war die Aussicht über bewaldete Berge und Täler. Auf historischen Steintreppen mit vielen Toren und Türmen stieg ich bald tiefer hinab ins Bergdorf Kurama. Riesige Bäume und sprudelnde Bäche säumten den Weg. Angekommen in Kurama speiste ich in hervorragendes, vegetarisches Mittagsmahl in einem traditionellen Wirtshaus. Anschließend durchwanderte ich das Dorf und erreichte den hiesigen Onsen – so heißen die traditionellen Thermalbäder Japans. Das Konzept Spa hat hier eine lange Tradition. Der Boden des pazifischen Feuerrings ist reich an heißen Quellen. Ich bekam einen Kimono und Handtücher zur Verfügung gestellt. Etwa vier Stunden verbrachte ich hier, teils im heißen, von Bäumen umgebenen Außenbecken, teils im Innenbecken, in der Sauna oder im Ruheraum, wo man auf weichen Matten am Bambusboden liegt, die Aussicht genießt, oder auf großem Flatscreen Sumo-ringen schaut. Beim Baden im Onsen gilt es ein paar Regeln zu befolgen. Gebadet wird grundsätzlich nackt, Herren- und Damenbereiche sind streng getrennt. Den Kopf sollte man nicht unter Wasser tauchen, darf sich aber jederzeit mit eigens dafür am Beckenrand stehenden Bambuseimern das heiße Wasser über den Kopf gießen. Das kleinere der beiden Handtücher balanciert man während dem Bad auf dem Kopf. Es war herrlich entspannend. Viel war nicht los. Teilweise hatte ich die Becken für mich allein. Am späten Nachmittag ließ ich mich im Ruheraum von einem Massagestuhl massieren. Die rein japanischen Zeichen auf der Fernbedienung machten dies zum Ratespiel. Doch am Ende war es herrlich entspannend. Als ich später zum zweiten Mal im Außenbecken lag, kam es wie am Vortag zu wolkenbruchartigem Regen mit reichlich Blitz und Donner. Diesmal machte es mir allerdings nichts aus, nass zu werden. Im heißen Becken ließ ich den Regen auf mich niederprasseln, goss mir gelegentlich heißes Wasser über den Kopf und blickte hinauf in den regengepeitschten Wald, den hin und wieder ein Blitz durchzuckte.

Als der Regen später nachließ, stieg ich in die Lokalbahn und fuhr aus den dunklen Bergen zurück nach Süden ins helle Herz von Kyoto.

 

Tag 6

Dieser Tag begann mit Theater. Per Bahn fuhr ich nach Osaka, welches nur dreißig Minuten entfernt liegt und doch nach Tokyo und Yokohama die drittgrößte Stadt Japans ist. Im südlichen Stadtteil von Dotombori enstieg ich der U-Bahn. Schon die Station selbst war eine Attraktion. Neben unzähligen Shops und Restaurants gab es da etwa auch eine Kunstgalerie mit Nachbildungen franzödischer Meister wie Renoir und Monet. Ich staunte.

Wieder oberirdisch stand ich schon bald vor der wunderschönen, hoch aufragenden Fassade des Shochiku-za Theaters. Hier erwarteten mich fast vier Stunden Kabuki-Theater. Unter den vielen Formen traditionellen japanischen Theaters (Kabuki, Rakugo, Bunraku und Noh) ist Kabuki mit seinen schönen Bühnenbildern und seinen prächtigen Kostümen die wohl bekannteste. Schön war es. Ich verstand zwar sehr wenig (höchstens ein paar gelegentliche „Arigatos“ aber die Ausdrucksstärke der Spieler, die andauernde Untermalung mit traditioneller Musik und die durchdachte Bühnentechnik  waren beeindruckend genug. Hier kann man sich einiges abschauen. Bei Kabuki stehen übriges nur Männer auf der Bühne. Zwar wurde diese Form des Theaters von Frauen erfunden, jedoch dachte die Machthaber des späten siebzehnten Jahrhunderts, dass Frauen auf der Bühne zu Aufruhr und Chaos führen. Seither werden bei Kabuki alle Rollen von Männern gespielt.

Erst letzten Herbst hatte ich mit meinen students im Theaterunterricht der ISK einiges über Kabuki recherchiert, was mir nun sehr zugunsten kam. Die Bedeutung so mancher Symbolik auf der Bühne erschließt sich erst mit ein wenig Vorwissen.

In den zwei Pausen der Performance verköstigte ich mich am Buffett. Und auch nach dem Theater ging es kulinarisch auf hohem Niveau weiter. (Auch das Frühstück war schon vorzüglich gewesen: heiße Matcha-Waffel. Hmmmm. Und so grün.) Osaka ist berühmt für seine hervorragende Küche. Im bunten Szene-Viertel von Dotombori gönnte ich mir ein hervorragendes Okonomiyaki. Diese Spezialität der Region – eine Art Pfannkuchen gefüllt mit Fisch oder Fleisch – wird vor den Augen der Gäste mit viel Show zubeteitete. Gekonnt spritze der Kellner in hoher Parabel noch Sauce über das vor mir liegende Gericht. Köstlich.

Ich verbrachte den restlichen Nachmittag mit gemütlichem Schlendern entlang dem Dotombori Kanal, durch die überdachte, prallgefüllte Einkaufsstraße Shinsaibashi-suji und durch das beschauliche Viertel Amerika-mura mit seiner Straßenkunst. Vor allem die Laternen in Strichmännchengestalt bleiben in Erinnerung. Als es dämmerte und all die vielen Lichter, Monitore und Leuchtreklamen von Dotombori viel stärker zur Geltung kamen, wurde das Viertel noch spannender und offenbarte einen Hauch von Science-fiction.

Ein kleines Kamera-Team eines japanischen Senders fragte mich im Vorbeigehen um ein Interview. Sie stellten Fragen zu meinen Reiseerfahrungen und Erlebnissen in ihrem Land. Wahrheitsgemäß lobte ich Küche, Landschaft und Infrastruktur. Es ist schön, hier zu reisen.

Mit Regionalzügen kehrte ich zurück nach Kyoto. Eine Bento-Box mit bestem Sushi aus Dotombori leistete mir Gesellschaft. Die Heimfahrt zog sich. Der Andrang auf die Züge am großen Bahnhof von Osaka war beträchtlich. Man kann nur froh sein, hier nicht zur Arbeit pendeln zu müssen.

Morgen stand ein viel weiteter Ausflug bevor. Doch der würde zugtechnisch viel abgenehmer sein. Ich freute mich schon auf den Shinkansen.

 

Tag 7

Zwei Ziele gänzlich verschiedener Art standen auf dem Programm dieses Tages: die schöne Burganlage von Himeji und – noch weiter im Südwesten – die Stadt Hiroshima mit ihrer dunklen Geschichte. Dazwischen lagen jeweils angenehme Hochgeschwindigkeitszugfahrten im Shinkansen.

Nach gutem Frühstück am Bahnhof von Kyoto brachte mich der Hikari Shinkansen binnen einer Stunde nach Himeji. Schon vom Zugfenster aus erblickte ich den weißschimmernden Turm der schönen Festung. Eine breite Allee verbindet Bahnhof und Burganlage. Durch schöne Ziergärten näherte ich mich dem Monument. Die Baumeister der Burg von Himeji verstanden es, Funktionalität und Ästhetik wundersam zu vereinen. Mit allen ihren Schießscharten und Schächten zum Abwurf von Steinen bleibt der Gesamteindruck der Burg ungetrübt schön. Ich passierte mehrere mittelalterliche Tore und näherte mich dem Hauptturm. Bis zur höchsten Kammer kann man diesen besteigen. Die Aussicht auf das umliegende Land war schön, der Blick hinab auf kleinere Türme und verborgene Innenhöfe ebenso. Typisch japanisch galt es beim Betreten der Burg, die Schuhe abzulegen und die Erkundung barfuß fortzusetzten.

Amüsanterweise war zeitgleich mit mir eine Gruppe niederösterreichischer Musikschüler*innen mit ihren Lehrern in der Burg. Ein Austauschprojekt hatte sie zwölf Tage lang nach Japan geholt. So wurde die Burg von Himeji für etwa eine Stunde klar von Österreicher*inne*n dominiert und Sätze wie „Oida, mir is haaß.“ und dergleichen mehr erfüllten die altehrwürdigen japanischen Hallen. Da die Musikschüler*innen in Eile waren, verpassten sie die schönen Burggärten mit herrlicher Aussicht, die ich fast für mich alleine hatte.

Wieder zurück am Bahnhof fuhr ich mit dem Shinkansen nach Okayama, wo ich mir eine Bento-Box lokaler Spezialitäten holte. Der nächste Shinkansen brachte mich nach Hiroshima. Schön war die grünhügelige Landschaft des südlichen Honshus, die ich speisend hinter dem Zugfenster sah.

In Horishma hatte ich vor allem ein Ziel, den Gedächtnispark rund um Ground Zero des Atombombenabwurfs von 1945. Hier gibt es viel zu entdecken, viel zu bedenken, viel zu betrauern. Es ist einer jener Orte, der von den unbestreitbaren Dunkelstunden der Menschheit zeugt, die uns alle mit Scham, Trauer und Wut erfüllen. Ich verbrachte viele Stunden an diesem Ort. Das Friedensmuseum ist hervorragend und vermittelt besser, als man es für möglich hält, all jenes Wissen, das es möglich macht, möglichst tief in das Elend jenes dunklen Sommertages anno 1945 zu tauchen. Die Bombe explodierte als eben zehntausende Kinder zur Schule gingen. Viele kamen nie nach Haus, viele kamen verbrannt und verstrahlt nur um Stunden oder Tage später ihr Leben zu beenden. In vielen Bildern und Zeitzeugenberichten wird die Katadtrophe von Hiroshima verständlich gemacht. Das Kalkül hinter dem Bombenabwurf wird ebenso analysiert, wie das Elend der Zivilbevölkerung und die heutigen Bemühungen hin zum Ende des Zeitalters nuklearer Waffen. Mehr als 140.000 Menschen starben an den Folgen dieser einen Bombe. Erschütternd sind vor allem die Worte der Überlebenden, ihre grausamen Erinnerungen von aschweißen Straßenzügen voll rotverbrannter Leichen und halbverbrannter, blutender Verletzter, die wie Zombies durch die Straßen wankten und immerzu schrieen – nach ihren Eltern, nach ihren Kindern und nach Wasser. Dann fiel schwarzer, radioaktiver Regen und wer noch konnte, trank davon.

Ein erschütterndes Beispiel, das sich mir besonders eingeprägt hat: „Father and I dig single-mindedly beneath the tiles of our fallen roof, looking for mother. Oh no! Mother’s bones. Oh no! Her bones turn into ashes when I try to pick them up and are blown away with the wind. The taste of mother’s ashes in my mouth.“

Ich hörte diese und noch viele andere Geschichten unsagbaren Leids. Auf meinen Reisen ist mir bisher nur ein anderer Ort untergekommen, der ein ähnliches Gefühl von Wut und Trauer zu vermitteln vermag: Tuol Sleng – das Foltergefängnis der Roten Khmer im Kambodscha.

Heute hat Hiroshima eine zentrale Botschaft: nie wieder. Die Stadt wird nicht müde, starke Symbole für den Frieden zu setzen. Jedes Jahr am 6. August um 8:15 verharrt man hier in Stille. Man gedenkt der Opfer. Japans Premierminister ist auch immer dabei, zuletzt auch die Außenminister der G7. Als erster amerikanischer Präsident kam Barrack Obama nach Hiroshima. Vetschiedene Friedensinitiativen wie „Mayors for peace“ fanden in Hiroshima ihren Anfang. Die Stadt ist wieder zum Leben erwacht und floriert.

Im Gedächtnispark gibt es viel zu sehen, auch die Flamme des Friedens, die solange brennt, bis keine Nation mehr über Nuklearwaffen verfügt. Traurig und schön sind auch die tausend und mehr Papierkraniche, die eine Säule umgeben. Zehn Jahre nach der Katastrophe erkrankte ein japanisches Mädchen, das als Kleinkind in Hiroshima gewesen war, an Leukämie – ein damals typisches Schicksal. Sie nahm sich vor, im Krankenbett tausend Papierkraniche zu falten und somit am Leben zu bleiben. Als sie dann doch starb, machten ihre Klassenkameradinnen weiter. Auch heute bringen japanische Schulklassen Papierkraniche nach Hiroshima.

Am anderen Ufer des Flusses neben dem Gedächtnispark steht der sogenannte Atombombendom- die Ruine eines Jahrzehnte vor 1945 errichteten Industriegebäudes mit Kuppeldach. Als eines von ganz wenigen Gebäuden innerhalb der Zweikilometerzone war es nicht eingestürzt – vielleicht auch deshalb,  weil die Schockwelle direkt von oben und nicht seitlich kam. Als mahnendes Zeichen steht die Ruine am Ufer des Flusses.

Es gibt noch mehr zu sehen und zu erzählen. Kurzum: Hiroshima zu sehen, ist erschütternd und wichtig. Es lohnt, so viel wie möglich über Hergang und Folgen der dunkelsten Stunden der Menschheit zu wissen. Umso besser kann man vielleicht seinen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Dunkelstunden immer weniger werden und es umso mehr Sternstunden gibt.

Bei der nächtlichen Heimfahrt im Shinkansen sah ich als Erinnerung an den Vormittag die festlich beleuchtete, weiß strahlende Burg von Himeji an mir vorüberziehen. Eine gänzlich andere Welt.

 

Tag 8

Am Vorabend meines letzten Tages in Kyoto – unmittelbar nach meiner Rückkehr von Hiroshima – verbrachte ich noch geraume Zeit am riesigen Bahnhof von Kyoto. Dieser lädt zur ausgiebigen Erkundung ein. Vor allem nachts, wenn alle Lichter leuchten, zeigt dieses Gebäude eine ungeahnte Schönheit. Von Rolltreppen vorbei an Glitzerskulpturen bis in den zehnten Stock getragen, hat man immer bessere Sicht hinab in die Haupthalle mit ihrem gewölbten Dach. Auf dem Skywalk kann man ebendiese Halle nun elf Stockwerke über dem Boden überschreiten und auf das winzige Geschehen dort unten hinabblicken. Gleichzeitig hat man beste Aussicht auf das nächtliche Kyoto in Norden, vor allem auf den in allen Farben strahlenden Kyoto Tower.

Noch ein bisschen höher liegt der weitläufige Skygarden. Im schummrigen Licht der Laternen kann man ihr die Silhouetten so manchen japanischen Pärchens zwischen den Palmen ausmachen. Eben erhob sich der Mond orangefarbenen über den östlichen Hügeln. Ein weiteres Licht unter vielen. Ruhige, schöne Musik drang aus versteckten Lautsprechern. Der Wind wehte durch die Palmen. Wie romantisch doch so ein Bahnhofdach sein kann. Nahebei liegt die bunte Restaurant-Meile „The Cube“, wo man sich glänzend verköstigen kann.

Über breite, mit abertausenden LED-Lichtern bestückte Treppen hüpfte ich zurück nach unten. Dabei hatte ich stets, das allmählich näher rückende, doch immer noch winzige Treiben der Haupthalle vor mir. Ein Blick zurück hinauf vom Fuße der Treppe ließ innehalten. Die vielen LED-Leuchten ließen diese nicht nur strahlen, sondern schier lebendig werden. Eben waren alle Stufen in glitzerndes Blau getaucht. Dann, plötzlich, stürzt sich von oben her eine Welle aus Türkis hinab in die Tiefe. Und dieses Meer, das nun entsteht, wird plötzlich von leuchtenden Fischen bevölkert, die fröhlich über die Stufen gleiten. Auch das Wasser selbst bewegt sich in gemächlichen Wogen. Und unten stehen die Menschen am Fuße der Treppe mit offenen Mündern. Fantastisch.

In meinem Ranking der schönsten Bahnhöfe der Welt, schob sich Kyoto Station in diesen Augenblicken ganz nach oben, zumindest was den Gesamteindruck betrifft. Würde man allein die Außenansicht des Gebäudes als Kriterium nehmen, so liegt ein anderer Bahnhof wohl uneinholbar an erster Stelle. Nichts kann wohl mit dem dunklen, monumentalen Charme von CST mithalten – dem Chhatrapati Shivaji Terminus von Mumbai, den ich vor zweieinhalb Jahren erkunden durfte.

Es wurde Nacht und es wurde Tag. Ich machte auf, meinen letzten in Kyoto zu verbringen. Es gibt noch viel zu sehen. Man könnte noch eine Woche bleiben und hätte längst noch nicht alles gesehen, das Sehenswert war. Selbst für alle Weltkulturerbestätten würde man viel mehr Zeit benötigen, als ich zur Verfügung hatte. Es galt also zu wählen. Gewiss gab es noch genug schöne Tempel, doch der Tempel war ich überdrüssig. Viel reizvoller fand ich jene Stätten, die Natur- und Kulturerlebnis miteinander verbinden. So traf ich also eine Wahl.

Nach gutem Frühstück brachte mich eine Vorortbahn nach Nordwesten, dorthin wo der Hozu-gawa Fluss den Bergen entweicht und sich in das Becken von Kyoto ergießt. Hier gab es einiges zu sehen, vor allem aber die berühmte Bamboo Grove, eine durch dichten Bambuswald führende Straße. Hoch türmte sich der Bambus beidseitig nach oben und schloss sich zum Blätterdach über der Straße. Schön war der Blick die dünnen, harten Bambusstämme entlang in den Wald hinein. Am Ende dieser schönen Bambus-Allee liegt das Anwesen von Okochi Denjiro, einem berühmten japansichen Samurai-Film-Star, der von den dreißiger bis in die sechziger Jahre gewirkt hatte. Hier, am Hügelrand von Kyoto, hatte er sich einen wunderbaren Garten geschaffen, den man heute besichtigen kann. Ein schöner Ort. Über schmale Pfade wandelt man die Gärten empor, genießt schöne Aussicht auf Nah und Fern. An manch schöner Stelle verharrte ich minutenlang, erblickte Pilze und Insekten oder schaute weit in die Ferne, wo man im Osten das Becken von Kyoto und dahinter die östlichen Hügel erblickte. Auch den Daimonji, auf dessen Gipfel ich vor wenigen Tagen gestanden hatte, konnte man sehen. Auch nach Westen hin gab es Aussicht. Man blickte dort weit hinein ins schöne, grüne Tal des Hozu-gawa, sah einen kleinen Tempel am gegenüberliegenden Hügelrand, vor allem aber hochaufragenden, dichten Dschungel. Auch Affen gab es hier. Schilder warten vor ihrer Diebeskunst. Zu Gesicht bekam ich keinen. In der Hitze war es ihnen wohl zu heiß.

Während ich den Garten durchschritt, stellte ich mir oft die Frage, ob seinen Urheber, diesen Filmstar der Fünfziger vielleicht aus dem ein oder anderen Kurosawo-Film kannte. Handelte es sich vielleicht sogar um den Helden aus Yojimbo, jener Film, der ein paar Jahre später als „Eine Hand voll Dollar“ von Sergio Leone neuverfilmt wurde – vom Eastern zum Western gewandelt. Das Original von Kurosawa ist natürlich besser. Oder kannte ich diesen Schauspieler aus den „Sieben Samurai“, aus „Rojimbo“ oder anderen Kurosawa Meisterwerken? Eine schnelle Google-Suche beim nächsten WLAN Hotspot zeigte mir, dass es nicht so war. Okochi hatte nie mit Kurosawa gearbeitet. Schade eigentlich.

Ich beendete meinen Besuch des schönen Gartens mit seinen versteckten Schreinen und kleinen Bambushäuschen mit einer hervorragenden Tasse Grüntee (im Preis inkludiert).

Unweit des Gartens liegt ein großer, schöner Park, den ich bald emporstieg. Einmal mehr hatte ich schöne Sicht auf Kyoto, vor allem aber hinab zum Fluss in der Gegenrichtung. Auf schmalem, steilem Pfad stieg ich nun hinab zu seinem Ufer und ließ meine Füße eine Zeit lang vom Wasser umspülen. Dabei sah ich so manchen Wasservogel und so manch Bewegung im dichten Wald des gegenüberliegenden Ufers. Weiter flussabwärts kreuzt die große Brücke von Togetsu-kyo den Fluss. Oberhalb der Brücke passiert das Wasser eine Staustufe und wandelt seinen Charakter. Bambusboote laden zum Ausleihen und ein und locken aufs Wasser. Viele Menschen queren die Brücke. Wasservögel und Libellen durchschwirren die Luft. Ein beschaulicher Ort. Um ihn ein wenig länger zu genießen, kehrte ich in einer Gaststätte an der Brücke ein, wo ich hinter großen Panoramafenstern hin zum Fluss ein Mittagessen zu mir nahm. Gekonnt schlürfte ich meine Soba-Nudeln, dass es nur so spritze. (Das muss man so machen, um sich nicht die Lippen zu verbrennen.)

Der Höhepunkt des Tages stand aber noch bevor. Mit der Bahn fuhr ich von Nordwest nach Südost. Was hier in den Hügeln verborgen liegt, ist erstaunlich. Viele Strömen dorthin. Zurecht. Ich erreichte den Schrein von Fushimi Inari-Taisha. Dieser ist meinen seinen hohen Hallen zwar sehr schön, jedoch keinesfalls die Hauptattraktion des Ortes. Viel faszinierender ist, was sich dahinter in den Hügeln befindet. Ein Netz von Wanderwegen führt in etwa einer Stunde Marsch hinauf zum Gipfel. Doch es sind keine einfachen Wege. Wege wie diese sah ich noch nie. Abertausend organefarbene, mit Schriftzeichen verzierte Tore (auf japanisch: Tori) überspannen den Weg dicht an dicht – so dicht, dass es fast einer Überdachung gleicht. Alle sind einzigartig. Verschiedene Größen, verschiedene Schriftzeichen. Wie Schlangen schlängeln sich die so umwölbten Wege den Wald hinauf. Es müssen tausende sein. Dazwischen begegnen den hier Wandernden fast ebensoviele Füchse aus Stein. Dem Fuchs kommt in der lokalen Mythologie eine besondere Bedeutung zu. Einerseits ist er ein Bote der Getreidegottheit, andererseits vermag er dämonengleich von Menschen Besitz zu ergreifen, in dem er einem unter die Fingernägel kriecht und dort in den Körper eindringt. Eine Unzahl von steinernen Füchse grinste mich im orangenen Tunnelgang an. Ein jeder einzigartig. Mal neu, mal alt und vom Moos überwuchert. Am Weg liegen auch beschauliche Schreine, Teiche und schöne Aussicht hinab auf die Stadt. Hauptattraktion bleibt aber der Weg selbst mit seinen tausenden Tori. Faszinierend.

Es war viel los. Anfangs war ich noch von Horden von Touristen umgeben und fürchtete, dass dieser Umstand nicht nur ein Fotografieren der Tori ohne Menschen im Bild, sondern auch das Wahrnehmen des wahren Charakters des Ortes unmöglich machen würde. Doch desto weiter man den Wegen folgt, desto höher man den Wald hinauf steigt, umso weniger werden die Menschen, umso spärlicher Werden die Begegnungen. Nahe dem Gipfel hatte ich den orangenen Pfad im dichten Wald stellenweise ganz für mich allein. An manchem Ort verharrte ich, beobachtete Spinnen und Vögel und wartete darauf, dass wieder jemand käme. Dunkle Wolken hatten sich inzwischen vor die Nachmittagssonne geschoben. Gelegentlich grollte der Donner. Mein Weg wurde schummrig. Der mystische, unheimliche Charakter des Pfades unter den Tori zeigte sich stets deutlicher. Daran konnten auch die gelegentlichen Getränkeautomaten am Wegesrand nichts ändern. Hämisch grinsten die steinernen Füchse.

Tempel, Gärten und Bahnhof hin oder her -der Besuch dieser Stätte war unleugbares Highlight meiner Zeit in Kyoto.

Von Südwest fuhr ich abermals nach Norden, wo ich in der Abenddämmerung noch ein wenig durch den Tempelbezirk von Daikotu-ji schlenderte. Ich war ganz allein am Weg. Hohe Hallen und steinerne Mauern säumten einen stillen, schattigen Weg zwischen den Tempeln. Ein ruhiger Abschluss.

Nach einem schmackhaften Okonomiyaki im belebten „The Cube“ am Bahnhof, nahm ich zum letzten Mal den nun schon so vertrauten Bus mit der Nummer 206 zu meiner Bleibe. Morgen früh würde ich Kyoto nach sechs Nächten endgültig verlassen.