Manche der besten Bücher der Weltliteratur haben die Eigenschaft, nur schwer zugänglich, nur bedingt „lesbar“ zu sein. Sie sind so dicht geschrieben, so voller Referenzen und Anspielungen, so reichhaltig an verschiedenen Erzählstilen, so assoziativ und dissoziativ in ihrer Sprachgewalt, dass man ohne einen hohen Grad von Konzentration und Vorwissen Gefahr läuft, seitenweise so ziemlich gar nichts zu verstehen. Man denke etwa an den ersten Teil von Faulkners „The sound and the fury“. Vor allem aber die großen Romane von James Joyce – „Ulysses“ und „Finnegans Wake“ – sind hier als Beispiele zu nennen. Anscheinend gibt es in Dublin und anderswo eigene Reading-Societies, in denen man an einem Abend nur eine einzelne Seite eines dieser beiden Bücher liest und dann stundenlang darüber diskutieren kann. Gerne wird auch gesagt, bei diesen beiden Werken handle es sich um die „hardest to read“ Bücher der ganzen Literaturgeschichte. Bisher konnte ich diese Aussage nur bestätigen. Nun muss ich widersprechen.
Die letzten drei Monate kämpfte ich mich (unterbrochen von anderwärtiger Lektüre) durch einen Roman, der noch dichter, noch zerrissener, noch assoziativer, noch rätselhafter ist, als alle Literatur, die ich bisher in meinem Leben kennengelernt habe. Ich muss gestehen: Seitenweise war ich völlig ratlos, was hier eigentlich passiert. Und doch erschloss sich die Geschichte nach und nach. Die Charaktere sind faszinierend – auch wenn sie aus dem Nichts auftauchen und plötzlich zurück ins Nichts verloren gehen. Die Welten des Romans erstrecken sich vom zerbombten London des Winters 1944 über die befreite Côte d’Azur bis in „the zone“ des besetzten Deutschlands (nun schon Ende 1945). Briten, Russen, Amerikander, Franzosen, Deutsche – doch auch Hereros, Kasachen und Argentinier – wanken teils stark berauscht durch die verzerrte Albtraumwelt dieses Romans. Und alles dreht um die V2, die große Rakete, das ominöse „Schwarzgerät“ – whatever that may be. Wow.
Trotz seiner Schwerzugänglichkeit brachte dieser Roman aus dem Jahre 1973 dem kuriosen Autor Weltruhm ein. Immer wieder wird dieser sperrige Text mit seinen 900 dicht beschriebenen Seiten als bedeutendstes Buch amerikanischer Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt. Die Jury des Pulitzer-Preises entschied sich im Jahre 1974, dieses Werk mit dem begehrten Preis zu küren. Allerdings kam es nie dazu. Die Vergabekommission stellte sich quer, weil sie den Text als zu obszön erachtete. So wurde der Pulitzer-Preis in jenem Jahr nie verliehen. Und in der Tat: Selten haben ich Literatur gesehen, die so fäkal und pornographisch, so drogenverseucht und schnapsversifft ist. Und trotzdem ungemein gut.
Der Stil ist atemberaubend. Innere Monologe wechseln mit schwärmerischer Landschaftsbeschreiben, mit Staccato-Dialogen, mit eingefügten Gedichten und sinnlosen Blödeleien. Aber nicht nur das: Auch mathematische Formel, auch Physik, auch Schmierereien an Toilettenwänden finden sich mitten im Strudel des Textes. Und dazwischen: Allerlei populärkulturellen Referenzen, die man in ihrer Gesamtheit wohl nur verstehen kann, wenn man die 40er und 50er in Amerika erlebte und zugleich politikbesessener Kosmopolit ist.
Wenn man diesen Roman mit irgendetwas anderem in der Literatur vergleichen möchte, so könnte man neben James Joyce wohl auch die Theaterstücke der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nennen. Auch in ihren Stücken findet man solche rastlose Wortgewalt, solch einen schwer erschließbaren Strudel der Eindrücke. Und in der Tat: Ich musste laut lachen, als ich las, wer den besagten Roman Anfang der Achtziger ins Deutsche übersetzt hat: niemand anderes als Elfriede Jelinek. Da wird einem einiges klarer. Immer schön, wenn man ungeahnte Inspirationsketten in der Literatur entdeckt.
Ich komme zum Schluss: Alle Leserinnen und Leser, die sich nach einer wahren Herausforderung sehnen, sollten zu diesem Buch greifen. Ihr werdet seitenweise ratlos sein. Ihr werdet eure Stirnen runzeln wie selten zuvor. Und doch werdet ihr fantastische Momente erleben und tief eintauchen in eine bizarre Welt.
„Gravity’s Rainbow“ von Thomas Pynchon wird noch in Jahrhunderten ein gefeiertes Werk der Weltliteratur sein. Die „Enden der Parabeln“ – so der deutsche Titel – enden so bald nicht.
Für meinen Teil reicht es mir fürs erste mit Pynchon. Ich wende mich wieder leichterer Lektüre zu. Mal sehen, was sich findet. Vielleicht Marcel Proust, oder Thukydides, oder die Gedichte von Sheikh Musharrif ud-din Sadi.
Und zum Schluss noch ein Zitat aus „Gravity’s Rainbow“:
„They walked till that winter hid them and it seemed the cruel Channel itself would freeze over, and no one, none of us, could ever completely find them again. Their footprints filled with ice, and a little later were taken out to sea.”
