Auf dem Facebook-Account eines Familienmitglieds erschien am gestrigen Tage ein geteilter Beitrag, in welchem die Waffenlieferungen an die Ukraine verurteilt werden – und zwar ohne, dass betreffendes Familienmitglied diesen Beitrag je selbst geteilt hätte, da solche Inhalte ganz entschieden nicht seiner Meinung entsprechen.
Die plausibelste Erklärung ist wohl, dass irgendwelche mit Russland sympathisierenden Hacker oder Propaganda-Bots sich in Facebook-Konten mit leicht zu knackenden Passwörtern einloggen und dort gezielt Inhalte platzieren, die dem russischen Kriegserfolg dienlich sind. Es ist schon sehr spannend und auch beängstigend, welche Mechanismen da am Werk sind. Immer wieder kommt es vor – und das wird wohl auch unterhalb dieses Beitrags geschehen – dass ukrainefeindliche Kommentare von Konten gepostet werden, die zwar einheimisch klingen, aber bei näherer Hinsicht Fake sind. Dass sich die russische Propagandamaschinerie aktiv in die letzten beiden US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfe eingemischt hat, ist hinlänglich bewiesen. Dass sie überdies versucht, europakritische Parteien (Rassemblement National, AfD, FPÖ, etc.) zu unterstützten und den europäischen Zusammenhalt zu unterminieren, leuchtet ein. Und nun wird eben gezielt versucht, die öffentliche Meinung gegen die Unterstützung der Ukraine zu richten. Man kann nur hoffen, dass möglichst viele Menschen dieses falsche Spiel durchschauen und mehr auf objektiven Qualitätsjournalismus als auf dubiose Online-Konten und Portale vertrauen.
Diese kläglichen Propagandaversuche sind wohl auch Ausdruck der Verzweiflung eines Regimes, das sich in eine Sackgasse manövriert hat, aus der es nicht mehr herauskommt. Auch das in den letzten Tagen so verbreitete Gerücht, dass jene Nationen, die nun Waffen liefern, selber Kriegsparteien würden, ist schlichtweg falsch. Eine von außen überfallene Nation wie die Ukraine hat nach Artikel 51 der UN-Charta ein Recht auf Selbstverteidigung, bei dessen Wahrnehmung Hilfe von außen legitim und völkerrechtlich vertretbar ist. Aber ganz unabhängig davon, welcher Grenzverlauf am Ende dieses Kriegs herauskommen wird, hat Russland jetzt schon verloren. Die enge wirtschaftliche Verknüpfung nach Europa ist dahin. Nie wieder werden die Gewinne durch den Gasexport das Vorkriegsniveau erreichen. Die Bevölkerungszahlen sinken dramatisch. Hunderttausende Künstler:innen, Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Geschäftsleute haben längst das Land verlassen. Die enge wissenschaftliche Zusammenarbeit mit russischen Universitäten ist dahin. Auch auf Tourist:innen aus westlichen Ländern wird Russland wohl auf lange Jahre verzichten müssen. Russland schadet nicht nur der Ukraine, sondern vor allem sich selbst, seiner Bevölkerung, seinem Ansehen in der Welt und nicht zuletzt seiner Kultur. Als großer Freund der russischen Literatur, als eifriger Leser und Verehrer von Tolstoi, Puschkin, Gogol, Tschechow, vor allem aber Dostojewski blutet mir das Herz in Anbetracht dieses massiven Zugrunderichtens des russischen Ansehens in der Welt. Auch diesen Autoren würde das Herz bluten, vor allem Tolstoi. Doch das Land, das einst Solschenizyn einsperrte und dann vertrieb, fährt weiter fort, Andersdenkende einzusperren, zu dämonisieren und zu diskreditieren. So fern von Europa war Russland noch nie. Schuld hat nicht Europa. Schuld hat nicht das russische Volk. Schuld hat ein Diktator. Wo ist der Chaplin von heute, der es wagt, sich einmal richtig lustig über ihn zu machen?
Das Video zeigt eine humoristische, weihnachtlich angehauchte Lesung ausgewählter Hassbotschaften, die mich im Kalenderjahr 2022 erreicht haben. Sei es mein Engagement pro Covid-Impfung, meine Warnungen vor dem Klimawandel, die Verwendung gender-neutraler Sprache, meine Initiative zur Aufarbeitung der Kufsteiner Heldenorgel oder ganz generell mein kommunalpolitisches Engagement – all dies hat bei einigen unserer Zeitgenoss:innen zu heftigen Reaktionen geführt. Hier ein Best-of der kuriosesten Nachrichten, die mich dieses Jahr erreicht haben.Viel Spaß 🙂
Im folgenden Beitrag möchte ich den Text des Kufsteiner Stadtrats Walter Thaler im Stadtmagazin vom Oktober 2022 analysieren, welcher ein hervorragendes und lehrreiches Beispiel gezielter Polemik auf kommunalpolitischer Ebene darstellt.
Der Text beginnt damit, dass meiner Person Worte in den Mund gelegt werden, die ich niemals gesagt und niemals geschrieben habe – und dies nicht als Paraphrase, sondern in Form der direkten Rede. Die Aussage, dass Kameraden nicht mehr zeitgemäß wären, wurde niemals von mir geäußert. Mir eine solche Wortmeldung in direkter Rede zuzuschreiben, grenzt an den Strafbestand der „Üblen Nachrede“ und wäre eigentlich klagbar. Ich habe lediglich ein paar Gründe genannt, warum ein Lied mit starkem soldatischen Kontext, das das Wort „Kamerad“ im Titel trägt, nicht mehr jeden einzelnen Tag von einem Instrument gespielt werden soll. Daraus folgt aber nicht im geringsten die unsinnige Behauptung, dass Kameraden an sich nicht mehr zeitgemäß wären. Natürlich sind sie das. Statt auf meine Argumente einzugehen, legt man mir hier Dinge in den Mund, die ich nie gesagt habe, um mich moralisch zu diskreditieren. Diese Vorgehensweise ist unredlich, unfair und unwürdig.
Ähnlich absurd und unwahr ist die Behauptung, ich würde Feuerwehren, Musikkapellen, Traditionsvereine oder gar Pflegepersonal in irgendeiner Art und Weise gering schätzen oder sie gar als unzeitgemäß ansehen. Das ist doch Unsinn. Zahlreiche Traditionsvereine Kufsteins, bei deren Versammlungen ich immer wieder zu Gast bin, wissen nur zu gut, wie sehr ich sie persönlich schätze und wie wichtig ich ihren ständigen, ehrenamtlichen Einsatz für Kufstein erachte. Feuerwehren, Sicherheitskräfte, Pflegekräfte – sie alle haben für unsere Gesellschaft einen unschätzbaren Wert und ich applaudiere allen, die Teil dieser Stützen unserer Gesellschaft sind. Es gehört schon viel geistige Verrenkung dazu, aus dem Vorschlag, die Geschichte eines Musikinstrumentes aufzuarbeiten, ableiten zu wollen, dass ganze Berufsklassen nicht zeitgemäß wären. Mir so etwas zu unterstellen, ist haarsträubend.
Die Andeutung, dass „unser Steuergeld“ dafür verwendet würde, um Teilnehmer einer Diskussion (pro und kontra Aufarbeitung) zu bezahlen, ist vor allem deshalb interessant, weil dem Verfasser obiger Zeilen zur Zeit ihrer Abfassung längst bekannt gewesen sein muss, dass keiner der vier Diskutanten ein Honorar verlangt. Wider besseren Wissen wird hier also etwas unterstellt, das man als bewusste Täuschung der Leser:innen interpretieren könnte.
Im weiteren Verlauf des Textes beklagt der Verfasser offenbar, dass besagte Diskussionsteilnehmer von mir ausgewählt wurden. Dabei wurde Walter Thaler im Vorfeld angeboten, selbst einen Sprecher oder eine Sprecherin für seine Position zu nominieren. Er hätte also die Möglichkeit gehabt, selbst jemanden auszuwählen, hat dies aber nicht getan. Im Übrigen hielt er es nicht einmal für angebracht, auf besagte Einladungsnachricht meinerseits eine Antwort zu geben.
In der zweiten Spalte wird nun noch der Versuch unternommen, eine Quelle zu diskreditieren, indem darauf verwiesen wird, dass die Festung Kufstein darin fälscherlicherweise als „Geroldseck“ bezeichnet wird. Hätte sich der Verfasser nur ein bisschen mit der Geschichte Kufsteins auseinandergesetzt, so müsste er wissen, dass diese Bezeichnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und unter anderem in den „Innsbrucker Nachrichten“, um die es hier geht, gang und gäbe war. Im Stadtmagazin vom April/Mai 2022 hat unsere Stadtarchivarin Milena Prommegger einen sehr informativen Artikel darüber geschrieben. Auch diesen hat der Verfasser offenbar nicht gelesen. Jedenfalls sagt es nichts über die Verlässlichkeit einer Quelle der damaligen Zeit aus, wenn dieser damals übliche Ausdruck darin Verwendung findet.
Im letzten Absatz argumentiert der Verfasser nun, dass Diskussionsrunden oder Arbeitskreise zu diesem Thema nicht sinnvoll wären und verweigert sich der Teilnahme daran. Dabei sollte einer funktionierenden Diskussionskultur innerhalb einer Demokratie doch ein hoher Stellenwert beigemessen werden. „Beim Red’n kemmen d’Leit z’sam“ heißt es schon im Volksmund. In einer parlamentarischen Demokratie spielt eben das Miteinander Sprechen (parler) eine bedeutende Rolle. Dies zu verweigern oder ins Lächerliche zu ziehen, erachte ich als zutiefst undemokratisch. Wer nicht miteinander redet, verharrt bei vorgefassten Meinungen und hat einfach keine Lust oder Angst davor, sich ernsthaft mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Dies aber gehört zum Aufgabenbereich gewählter Volksvertreter:innen.
Abschließend möchte ich noch festhalten, wie wichtig es ist, einander wertzuschätzen – auch wenn man bei einzelnen Themen anderer Meinung sein sollte. Polemische Texte wie der hier analysierte sind leider fernab jeglicher Wertschätzung. Dennoch hoffe ich, dass wir uns auch weiterhin in die Augen schauen, die Hände schütteln, bei einem Bier miteinander anstoßen und gemeinsam Gutes für Kufstein erwirken können – so wie auch schon in den letzten sechs Jahren.
Es freut mich sehr, dass mein Antrag zum gesellschaftlich-kulturellen Aufarbeitungsprozess in Sachen Heldenorgel so reges Interesse auf sich gezogen hat. Ganz unabhängig davon, wie die Sache ausgeht, ist ein Ziel damit schon erreicht: Die Orgel ist im Gespräch. Ihre Geschichte wird beleuchtet. Man diskutiert darüber, führt spannende Debatten – sei es am Stammtisch oder auf Facebook. All dies ist gewissermaßen schon Teil des erwünschten Aufarbeitungsprozesses. Diese Diskussion tut unserer Stadt sehr gut, da sie viel Unausgesprochenes ans Licht bringt. Ich habe auch den Eindruck, dass sie bei vielen neues Interesse für Kommunalpolitik entfacht und vielleicht einen kleinen Beitrag dazu leistet, bei den nächsten Wahlen eine höhere Beteiligung zu erzielen. Wunderbar.
Da aus vielen Kommentaren leider hervorgeht, dass manche den ursprünglichen Antrag gar nicht kennen, möchte an dieser Stelle noch ein paar Erläuterungen anbringen:
Mein Antrag hat drei Teile: Infotafeln – Umbenennung – Schlusslied. Ich würde es bereits als Erfolg werten, wenn wir in einem oder zwei dieser drei Punkte eine Veränderung erreichen könnten. Manche behaupten hier, mir gehe es allein um die Umbenennung. Das stimmt einfach nicht. Man sollte auch nicht die von mir vorgebrachten Argumente für die einzelnen Punkte in einen Topf zu werfen. So habe ich z.B. den Nationalsozialismus nur in Bezug auf Punkt 1 (Infotafeln) erwähnt. Bei Umbenennung und Schlusslied spielt er keine Rolle. Irrig ist auch die Annahme, es würde um den Begriff „Held“ an sich gehen, da dieser bereits problematisch wäre. Das hab ich nie gesagt. Problematisch ist die bei der Einweihung im Mai 1931 gesetzte Rahmung dieses Begriffes, die rein gar nichts mit Frieden und zivilen Heldentum zu tun hat, sondern eng mit einer ethno-nationalistischen Weltsicht verbunden ist.
Man sollte auch noch einmal betonen, dass ich nicht der Erfinder jener Argumente bin, die ich im Antrag vorbringe. Fast alle wurden in ähnlicher Formulierung schon von akademischer Seite in den letzten Jahren publiziert. Hier möchte einmal mehr auf die 2019 erschienen Schrift „Disposition“ von Lucas Norer verweisen. Da diese unter einer Creative Commons Lizenz steht, erlaube ich mir die pdf unten anzuhängen und sie all jenen ans Herz zu legen, die sich eingehender mit der Geschichte der Orgel beschäftigen wollen. Da das Interesse für das Thema sehr groß ist, hoffe ich auch, dass beim geplanten Vortrag von Dr. Franz Gratl zu Thema „Der Name der Orgel“ am 17. 10. im Kultur Quartier viel Publikum zu erwarten ist. Ich freue mich auf die anschließende Diskussion. Dr. Gratl ist auch Autor von Band 6 der „Edition Kufstein“ im Rahmen des Projektes „Kufstein schreibt Stadtgeschichte“. Dieses wird am 30. November präsentiert und natürlich wird die Orgel – vielleicht aber auch die gegenwärtige Diskussion – darin eine Rolle spielen.
Jedenfalls zielt es ins Leere, wenn man mir mangelndes historisches Bewusstsein vorwirft, wo ich mich doch auf Historiker und Musikwissenschaftler berufe und diese klar zitiere. Als Physiker und Philosoph maße ich mir selbst kein historisches Urteil an, sondern vertraue den Experten, die ich in meinem Antrag angeführt habe. Schon Sophokles sagte: Don’t shoot the messenger.
Ansprechen möchte ich auch die Zeitungsumfrage, die in diesem und anderen Kommentar-Threads schon öfters verlinkt wurde. Diese verwundert mich gar nicht. Um ehrlich zu sein, hätte ich noch vor einem Jahr selbst für eine Beibehaltung des Namen „Heldenorgel“ gestimmt, da mir dieser eigentlich immer sehr gut gefiel. Ich kann also gut verstehen, dass viele Menschen diese Option wählen. Vor einem Jahr hätte ich auch noch dazugehört.
Aber dann wurde ich gebeten, mich der Sache anzunehmen. Ich habe gelesen, recherchiert, Gespräche geführt. Sehr frappierend war die Lektüre jener Reden, die zur Einweihung der Orgel 1931 geschwungen wurden und die man in der Nr. 101 der „Innsbrucker Nachrichten“ aus dem Jahr 1931 nachlesen kann. Es war ein langer Prozess: Aber je mehr ich darüber in Erfahrung brachte, desto klarer wurde mir, dass hier etwas geschehen sollte.
Es wundert mich also überhaupt nicht, dass eine Mehrheit jener Menschen, die diesen Rechercheprozess nicht selbst mitgemacht haben, der Meinung sind, die Orgel solle ihre Namen behalten. Ohne fundierte Recherche ist die Problematik eben schwer zu sehen. Aber bei vielen Fragen kommt es eben nicht auf das Bauchgefühl an, sondern darauf, in die Meinung von Experten (und hier meine ich nicht mich, sondern Gratl, Norer, et al.) zu vertrauen.
Ich bin der Meinung, dass viele Menschen, die für den Verbleib beim ursprünglichen Namen gestimmt haben, anders denken würden, wenn sie sich die Zeit nehmen würden, dieselben Quellen zu studieren und Gespräche zu führen, wie ich es getan habe. Deshalb bin ich auch ein großer Fan von ausgelosten Bürgerräten, in denen die Menschen sich zuerst fundiert informieren und hernach zu Entscheidung gelangen. Eine einfache Abstimmung, in der oft ohne die nötige Vorinformation aus dem Bauch heraus entschieden wird, eignet sich im vorliegenden Fall jedenfalls nicht. Man vertraut ja auch auf einen Piloten, wenn man in ein Flugzeug steigen. Kann man nicht auf Historiker und Musikwissenschaftler vertrauen, wenn es um den Namen einer Orgel geht? Bei einer Umfrage wie dieser, kommt übrigens noch hinzu, dass bekannte politikwissenschaftliche bzw. psychologische Phänomene wie die sogenannte Status-quo Verzerrung zu tragen kommen.
Jedenfalls freut es mich sehr, dass ich in den letzten Tagen auch viel Zustimmung für meinen Vorschlag erhalten hatte. Bei dem aggressiven Ton, der auf Facebook herrscht, verstehe ich aber gut, dass viele mir ihre Zustimmung direkt zukommen lassen, als sie hier zu posten. Ich danke aber auch jenen, die klar gegen meine Vorschläge sind, dies hier aber in sachlich Ton vorbringen.
Jenen, die hier versuchen mich zu beleidigen oder zu diffamieren, möchte ich ein bisschen Gelassenheit empfehlen. Man kann auch sachlich und höflich miteinander diskutierten, ohne einer Meinung zu sein. Attackieren Sie Argumente, nicht Menschen. Das sogenannte „Argumentum ad hominem“ – also der versucht ein Argument zu entkräften, indem man die Person, die es vorgebracht hat, diskreditiert – gilt nicht umsonst als Scheinargument. (https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_hominem). Es spielt doch überhaupt keine Rolle, ob Sie meine Theaterstücke oder mich nun mögen oder nicht. Das hat rein gar nichts mit dem Thema zu tun. Es erstaunt mich auch, was manche Leute über mich zu wissen glauben. Etwa, dass ich nie Soldat gewesen wäre (Stimmt nicht.) oder, dass ich nie als Physiker wissenschaftlich tätig gewesen wäre (Sieben Jahre lang.). Aber selbst, wenn etwas davon wahr wäre, hätte das doch überhaupt nichts mit der Validität meiner Argumente zu tun. Dennoch: Diese Aussagen offenbaren zumindest, dass es um die Recherchefähigkeit jener Leute, die mir dergleichen unterstellen, nicht allzu gut steht. Wenn sie es nicht zu Wege bringen, meinen öffentlichen einsehbaren Lebenslauf durchzulesen, so kann man wohl zurecht auch an ihren Ausführungen in Sachen Orgel zweifeln.
In einem Punkt haben alle Kritiker:innen natürlich recht: Es gibt wichtigere Themen (z.B. den Klimawandel). Aber: Die Existenz wichtigerer Themen ist kein Argument dagegen, sich auch den nicht ganz so wichtigen zu widmen – besonders dann nicht, wenn kein anderes Thema deshalb später behandelt wird. Wer glaubt, irgendetwas würde in der Kufsteiner Gemeindepolitik langsamer vonstattengehen, nur weil man nebenbei über die Orgel redet, der irrt. Das Thema wurde an mich herangetragen, ich habe mir die Faktenlage angesehen und es entsprechend vorgebracht. Das würde ich auch bei anderen Themen, weil ich es als meine Aufgabe als Gemeinderat und Kulturreferent dieser Stadt ansehe, nicht nur still in Ausschüssen und Räten zu sitzen, sondern aktiv daran mitzuarbeiten, dass sich die Perle Tirols am grünen Inn eines blühenden, bunten kulturellen Lebens erfreut, das mutig auf Vergangenheit und Zukunft blickt. Dazu leiste ich gern meinen Beitrag – und das werde ich auch noch die nächsten fünfeinhalb Jahre tun.
Antrag gemäß §41 TGO an den Gemeinderat der Stadt Kufstein
Antragsteller: Klaus Reitberger
„ORGEL-RELAUNCH“
Der Gemeinderat möge beschließen:
Unter wissenschaftlicher Beratung ist ein gesellschaftlich-kultureller Aufarbeitungsprozess einzuleiten, dessen erklärtes Ziel 1) eine überarbeitete Darstellung der Geschichte der Kufsteiner Freiluftorgel auf Infotafeln und Internetseiten, 2) eine Umbenennung des Instrumentes sowie 3) die Auswahl eines anderen, am Ende des täglichen Mittagskonzertes gespielten Musikstückes, ist. Punkt 2) und 3) sollen dabei auf basisdemokratischem Wege mit möglichst breiter Beteiligung der Kufsteiner Bevölkerung geschehen.
Begründung:
Im Stadtalbum „Kufstein im 20. Jahrhundert“ stellt der Musikwissenschaftler und Leiter der Musiksammlung des Tiroler Landesmuseums Dr. Franz Gratl auf S. 175 fest, dass
„angesichts der problematischen Geschichte wohl ein ‚ideologischer Relaunch‘ des Instruments und eine gründliche, kritische und tabulose Dokumentation seiner Geschichte im Festungshof dringend geboten [wären].“[1]
In der Publikation „Disposition“ des Jahres 2019, die sich speziell mit der Kufsteiner Freiluftorgel beschäftigt und u.a. auch Texte von Franz Gratl und Michael Gerhard Kaufmann enthält, schreibt der preisgekrönte Kunstwissenschaftler und Künstler Lucas Norer:
„Das Spiel der Heldenorgel fußt auf einem Gedankengut, das ein totalitäres, völkisches und militantes Hörerlebnis intendierte. Sind das nicht Gründe genug in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft hellhörig zu werden? Die Heldenorgel benötigt dringend eine gesellschaftlich-kulturelle Aufarbeitung.“[2]
Ausgehend von diesen beiden Stellungnahmen, hab ich mich selbst eingehend mit der Thematik beschäftigt und folgende Argumente für die im Antrag erwähnten Maßnahmen gefunden:
Gründe für die überarbeitete Darstellung der Geschichte der Kufsteiner Freiluftorgel:
Kufsteins Leistungen in Sachen Vergangenheitsbewältigung sind in meinen Augen vorbildhaft. Mit der Publikationsreihe „Kufstein im 20. Jahrhundert“ sowie diversen Vorträgen von Seiten des Heimatvereins bzw. den wertvollen Arbeiten des Film- und Videoclubs wird und wurde hier viel geleistet. Umso frappierender ist der blinde Fleck, den die Kufsteiner Freiluftorgel in all dem einnimmt:
Auf den Informationstafeln im Bürgerturm, aber auch auf den dazugehörigen Internetseiten der Stadt und Festung Kufstein, wird die Geschichte des Instruments vereinfacht und verfälscht dargestellt. So steht etwa im Bürgerturm geschrieben, dass die Orgel ursprünglich zum Gedenken der Opfer des 1. Weltkrieges errichtet worden wäre. Den wichtigen Zusatz, dass es dabei nur um Soldaten ging – genauer gesagt, nur um deutsche bzw. deutschsprachige Soldaten, und etwa nicht um alle anderen für die Donaumonarchie gefallenen Soldaten nichtdeutscher Volksgruppen – wird verschwiegen. Über die spätere Vereinnahmung der Orgel durch die Nationalsozialisten findet man kein Wort.
Noch problematischer ist die Infotafel über den Orgel-Initiator Max Depolo. Weder werden seine kriegsverherrlichenden, deutschnationalen und antiitalienischen Gedichte, noch seine spätere Mitgliedschaft in der NSDAP erwähnt.
Überhaupt wird die spätere Vereinnahmung der Orgel durch den Nationalsozialismus nirgends thematisiert. Der Umstand etwa, dass dieses Instrument zum Geburtstag Adolf Hitlers deutschlandweit im Reichsrundfunk zu hören war[3], sollte nicht einfach unerwähnt bleiben. Unbequeme Wahrheiten wie diese sollte man nicht ängstlich verschweigen, sondern mutig thematisieren und in den rechten Kontext rücken.
Jemand der vor diesen Infotafeln steht und ein bisschen der Recherche fähig ist, wird diese Auslassungen merkwürdig finden und der Stadt Kufstein hier mangelnde Fähigkeit zur Vergangenheitsbewältigung vorwerfen können. Zurecht. Eine Überarbeitung dieser beiden Infotafeln, eine Ergänzung durch eine Infotafel zur späteren Vereinnahmung der Orgel durch den Nationalsozialismus (etwa basierend auf dem entsprechenden Text in der Publikation „Disposition“) wäre auch in meinen Augen dringend geboten.
Auch für Punkt zwei und drei dieses Antrags – die Umbenennung des Instrument und die Wahl eines neuen Liedes – lassen sich durchaus gute Argumente finden. Nennen wir jeweils drei.
Argumente für die notwendige Umbenennung des Instrumentes
Völlig unabhängig von irgendwelchen geschichtlichen Verfänglichkeiten ist es ein logisch-semantischer Widerspruch, ein Instrument als „Heldenorgel“ zu bezeichnen und gleichzeitig sein Spiel als Gedenken an die Opfer aller Kriege und Gewalt – wie es auf Infotafeln und im Internet zu lesen ist – interpretieren zu wollen. Damit wird suggeriert, dass alle Opfer aller Kriege und aller Gewaltakte schon „Helden“ wären. Die eigentliche Bedeutung des Wortes Held geht dabei vollkommen verloren und wird gewissermaßen entwertet. Jedem Menschen, der Logik und Semantik hochhält, sollten hier die Haare zu Berge stehen.
Auch wenn die Orgel heute den Opfern aller Kriege gedenken soll, so schwingt in ihrem Namen dennoch die ursprüngliche Intention mit, eben nur „als Heldenmal des deutschen Volkes […] dem Andenken aller im Weltkrieg gefallenen deutschen Helden“[4] zu dienen, so wie es Orgelbaumeister Oscar Walcker 1931 im einem Zeitungsartikel ausdrückte. Von zivilen oder gar nicht-deutschen Opfern war damals nie die Rede und der Begriff „Held“ erinnert daran. Schon 1924 wollte Max Depolo die geplante Orgel als Kulturdenkmal des deutschen Volkes verstanden wissen, welches geschlossenes Volksempfinden, Deutschlands Größe, Macht und Stärke wiedererwecken sollte.[5] Bundespräsident Wilhelm Miklas stellte in seiner Rede zur Einweihung der Orgel am 3. Mai 1931 klar, dass sie dem Gedächtnis „aller im Weltkrieg gefallen Kriegshelden deutschen Stammes“[6] geweiht ist und daher den Namen Heldenorgel trägt. Ein klare Abgrenzung von dieser ursprünglich streng ethno-nationalistischen und militaristischen Ausrichtung der Orgel kann in meinen Augen nur durch eine Umbenennung erzielt werden. Der derzeitige Name des Instruments ist zu eng mit einer chauvinistischen, nationalistischen Ideologie und der ursprünglichen Intention der Orgel verbunden.
Als drittes Argument für eine Umbenennung der Orgel sei noch genannt, dass sich gegenwärtig große Teile der nicht-männlichen Bevölkerung beim generischen Maskulinum „Helden“ nicht mehr mitgemeint fühlen und auch darum eine inklusivere Benennung angebracht wäre.
Argumente für die notwendige Wahl eines anderen, am Ende des täglichen Mittagskonzertes gespielten Musikstückes
Das Lied vom „Guten Kameraden“ ist in erster Linie ein soldatisches Lied. Wenn man die Orgel aber als Mahnmal an die Opfer aller Kriege und aller Gewalt interpretieren will – also ausdrücklich auch an die zivilen Opfer – so steht dies im Widerspruch damit, dass das Instrument täglich sein Konzert mit einem soldatischen Lied endet.
Die dritte Strophe des Liedes erzählt davon, wie ein Soldat seinem von einer Kugel getroffenen Freund nicht die Hand reichen kann, weil er nachladen muss. Das Nachladen ist darin wichtiger als das Helfen des Freundes. Vaterlandstreue und Befehlsgehorsam werden hier klar zu höheren Werten als Freundschaft und Mitgefühl erklärt. Man fragt sich, ob dies die richtige Botschaft für unsere Zeit ist.
Man sollte auch bedenken, woher Menschen, die nach Kufstein kommen und die Orgel hören, das Lied vom „Guten Kameraden“ kennen, bzw. was sie damit verbinden. In der Populärkultur der Gegenwart ist dieses Lied durchaus präsent. Viele kennen es aus der deutschen Fernsehserie „Babylon Berlin“, welche eine der erfolgreichsten und teuersten Serien im deutschen Sprachraum ist. Laut Statistiken wurde sie via sky über 10 Millionen mal gesehen[7]. Dazu kommen circa. 8 Millionen Zuseher:innen im ARD[8]. Da diese Zahlen nur bis 2018 reichen, kann man inzwischen von über 20 Millionen Konsument:innen ausgehen. Diese Serie spielt in den Jahren 1929 und 1930, also genau zu jener Zeit, als in Kufstein die Orgel kurz vor der Realisierung stand. Teil der Handlung ist auch eine Fraktion von militanten Nationalisten, welche im Zuge der ersten Staffel mehrere politische Morde und sogar Bombenanschläge verüben. In mehreren Folgen ist man Zeuge von Zusammenkünften dieser Fraktion; dabei wird stets gemeinschaftlich das Lied vom „Guten Kameraden“ gesungen. An die 20 Millionen deutschsprachige Serienfreunde kennen das Lied, das die Kufsteiner Orgel täglich spielt, also aus dem Fernsehen als das Lieblingslied von Terroristen.
Zum Thema Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie
Bei einem Thema wie diesem, das vielen Bürger:innen nahegeht, ist es wichtig, dass die Bevölkerung Teil des Entscheidungsprozesses ist. Eine konkrete Vorgehensweise könnte sein, dass alle Kufsteiner Bürger:innen Vorschläge zur Namensgebung der Orgel und zum täglichen Musikstück beim Stadtamt einbringen dürfen und hernach in einem auszuarbeitenden Abstimmungsprozess darüber entscheiden. Es soll auch unterstrichen werden, dass der Umbenennungsprozess der Orgel keinesfalls als traditionsfeindlich verstanden werden soll. Gewiss finden sich einige der lokalen Tradition verbundene Namensvorschläge, die frei von ideologischer Vorbelastung sind. So könnte die Wahl zum Beispiel auf den Begriff „Freiheitsorgel“ fallen, der einerseits als Würdigung der Tiroler Freiheitskämpfe von 1809, sowie auch als Verweis auf das Streben nach Freiheit von Diktatur und Fremdbestimmung verstanden werden kann. Zudem würde der Begriff „Freiheitsorgel“ gut zum Namen der „Friedensglocke“ in Kufsteins Partnerstadt Roverto passen. Die Alpenpassage von Süd nach Nord würde somit von Frieden zu Freiheit führen. Dies sei aber nur als Beispiel, als möglicher Vorschlag von vielen zu verstehen. Auch für die Wahl des Liedes gäbe es viele Möglichkeiten, manche mit stark traditionellem Bezug. Ob es nun aber das „Kufsteiner Lied“ von Karl Ganzer oder die Europahymne oder ganz etwas anderes sein soll – die Kufsteiner Bevölkerung soll darüber befinden. Nicht zur Wahl stehen soll freilich der ursprüngliche Name und das ursprüngliche Musikstück, da es gegen diese, wie oben ausgeführt, klare Argumente gibt.
Fazit:
Ich freue mich, in einer Stadt zu leben, in der täglich von der Festung ein wunderbares Instrument erklingt. Ich freue mich auch, in einer Stadt zu leben, der man kein fehlendes historisches Bewusstsein vorwerfen kann, in einer Stadt, die mutig auf Vergangenheit und Zukunft blickt. Die größte Freiluftorgel der Welt hätte sich jedenfalls eine ehrliche, auslassungsfreie Darstellung ihrer Geschichte und einen würdigeren Namen verdient. Auf dass sie noch Jahrhunderte lang klingen möge!
Dieser Antrag, sowie die pdf zur Publikation „Disposition“ wird umgehend der Presse und allen Gemeinderäten zugesandt.
Am Ende dieser langen, doch hoffentlich nicht langweiligen Begründung, soll in Anlehnung an Bertolt Brecht noch folgender Satz stehen, denn mit ihm ist eigentlich alles gesagt:
Unglücklich die Stadt, die Helden nötig hat.
Kufstein, 8.6.2022 Unterschrift des Antragstellers
[1] Gratl, F. (2021). Klangdenkmal, Kuriosum, Relikt – die Heldenorgel. In Stadtgemeinde Kufstein (Hrsg.), Vom Stadtl zur Stadt. Kufstein im 20. Jahrhundert. Ein Stadtalbum (S. 174f).
[2] Norer, L. (2019). Zur Disposition. In L. Norer (Hrsg.), Disposition (S. 31-36).
[3] vgl. Gratl F. (2019). Entstehung und Geschichte der Kufsteiner Heldenorgel. In L. Norer (Hrsg.), Disposition (S. 9-13).
Jeder und jede, die dieses Buch zur Hand nehmen, werden frappiert sein, wie viel strukturelle Ungleichkeit sie bisher gar nicht bemerkt haben. Ob im Alltagsleben, am Arbeitsplatz, in Designfragen, beim Arztbesuch, im öffentlichen Leben und sogar im Katastrophenfall – die Autorin deckt überall grobe Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung der Geschlechter auf. Fern von Geschwafel wird anhand von Fakten mit klarer Datenlage aufgezeigt, wie durchsetzt das herrschende System von gravierenden Missständen und über die Jahrhunderte kaum hinterfragte Vereinfachungen ist. Wer nun glaubt, dass der Pfeil des Fortschritts klar in die richtige Richtung weist, dem mögen die problematischen Auswüchse von einseitigen Datenlagen in immer mächtiger werdenden Algorithmen zu denken geben. „Big Data“ beruht auf Historie und ist daher leider vor allem „Male Data“. Ein Computerprogramm kann noch so neutral ist – basiert es auf Input mit männlicher Schlagseite, so sind auch die Ergebnisse von denselben Stereotypen durchzogen, wie die klassischen Verfehlungen des alten, weißen Mannes an der Spitze von Wirtschaft und Politik.
Jedenfalls ist dieses Buch sehr zu empfehlen. Manchen Leuten möge man es einfach auf den Schreibtisch werfen und laut „Lies das!“ rufen. Hoffentlich wirkt’s.
Wenn man als in Österreich lebender Mensch nur Zeit genug hat, um ein einziges Buch über den Klimawandel zu lesen, dann sollte man dieses wählen. Selten hat jemand die internationale und regionale Dimension dieser größten Krise unserer Zeit so gut auf Papier gebannt, wie Katharina Rogenhofer es in diesem spannenden, ergreifenden und sehr informativen Sachbuch tut.
Ich habe schon viele Werke zum Klimawandel gelesen. Manche versteigen sich in Details, andere verlieren sich im Vagen ohne je konkret zu werden. Manche wecken falsche Hoffnung und spielen den Ernst der Lage herunter, andere wiederum räumen der Hoffnung überhaupt keinen Platz ein und hinterlassen die Lesenden in untätiger Starre. Rogenhofer kann es besser. Mit ihrem persönlich Einsatz, mit ihrem beeindruckenden Engagement beim Klimavolksbegehren, macht sie vor, wie der einzelne Mensch einen großen Unterschied machen kann. Sie lässt keinen Zweifel am Ernst der Lage, sieht aber auch die positiven Trends, welche allmählich die viel zu späte Kehrtwende doch noch in den Bereich des Möglichen rücken.
Mit einer leicht verständlichen Sprache, die dennoch reich an passenden Metaphern und beeindruckenden Analogien ist, führen Rogenhofer und ihr Co-Autor Florian Schlederer in die Problematik des Klimawandels ein und beleuchten diesen von verschieden Seiten: wissenschaftlich, wirtschaftlich, sozial, politisch, auch familiär. Alle Lebensbereiche werden vom Klimawandel berührt. Alle vermögen wiederum auch, auf ihn einzuwirken. Jedes Zielpublikum nimmt aus diesem Buch die richtige Botschaft mit. Ohnehin schon für Klimaschutz engagierte Menschen fühlen sich bestätigt und werden mit neuer Motivation bestärkt. Jene, die an der Schwelle zum Engagement stehen, werden über ebenjene Schwelle getragen. Und jene, die noch nicht begriffen haben, wie ernst die Lage ist, erleben während der Lektüre hoffentlich einen Sinneswandel. Schön ist auch, wie die unterschiedlichen Generationen im Buch Beachtung finden und wie klar und stark der Gedanke zum Vorschein kommt, dass sie alle einen Beitrag zur Lösung der Krise leisten können.
Es bleibt zu hoffen, dass viele Menschen, auch viele Entscheidungsträger:innen dieses Buch lesen. Gerade die Kapitel, in denen die Berührungspunkte zwischen Aktivist:innen und noch oder nicht mehr aktiven Politiker:innen erzählt werden, habe eine besondere Spannung in sich. Vieles, das in den Medien berichtet wurde, macht nun, vor dem beleuchteten Hintergrund, den dieses Buch liefert, mehr Sinn.
Jedenfalls rate ich ausdrücklich zur Lektüre dieses Buches und hoffe, dass Katharina Rogenhofer noch genug Gelegenheit bekommt, ihr Engagement und ihr Wissen im Dienste der guten Sache einzubringen. Aber nicht nur sie. Viele Österreicher:innen mögen in ihrem Windschatten zu ihr und ihren Mitstreiter:innen aufschließen und bald selbst an vorderster Front daran erinnern, dass noch viel zu tun ist und noch viel zu wenig getan wurde.
Auf persönlicher Ebene freut es mich jedenfalls sehr, dass wir Katharina Rogenhofer im Herbst 2021 bei uns in Kufstein in der Reihe der Kufsteiner Nachtgespräche auf der Bühne des Kultur Quartiers hören durften. Einige im Publikum haben das Buch ja an diesem Abend auch nach Hause genommen.
Es ist schwer in Worte zu fassen, wie großartig und unschätzbar wertvoll für die Nachwelt dieses über zweitausend Jahre alte Werk aus der Spätphase der römischen Republik uns erscheinen sollte. Seit vielen Jahren ist mir Lukrez in Zitaten und Verweisen immer wieder untergekommen (z.B. bei Bertrand Russell, aber auch in Büchern über Poesie und Naturwissenschaft). Leider hatte ich bisher nie die Zeit gefunden, De rerum natura in voller Länge zu lesen. Es war dafür schon reichlich spät. Aber dafür habe ich es nun mit umso lauterer Stimme gelesen und die alten Worte in meinem Wohnzimmer oder beim Wandern im Wald erklingen lassen.
Obwohl wir fast gar nichts über das Leben des Lukrez wissen, geht aus seinen Worten doch ganz klar hervor, dass er ein scharfer Beobachter der Natur, ein Kombinierer par excellence und ein famoser Dichter war. Er hat in seinem Werk so vieles behauptet, das seine Zeitgenossen als absurd bezeichnet haben, das in späteren Jahrhunderten als ketzerisch und gefährlich gebrandmarkt wurde und das sich doch fast zwei Jahrtausende später als goldrichtig erwies. Seine Atomtheorie ist sehr ähnlich dem, was man heute noch unter dem Begriff versteht. Achtzehn Jahrhunderte vor Robert Brown beschrieb er schon recht akkurat die Brown‘sche Molekularbewegung. Neunzehn Jahrhunderte vor Charles Darwin umriss er schon ansatzweise die Funktion von Genen und nahm in manchen Passagen Aspekte der Evolution vorweg. Er schrieb über Magnetismus, die Physik der Sinne, über Erdbeben und Vulkanausbrüche, Donner und Blitz, über den unendlichen Kosmos, über ferne Sterne und Planeten… sogar kosmische Strahlen werden schon angedeutet. Es ist direkt unheimlich, wie viel dieser Mensch vor über zweitausend Jahren schon richtig erriet. Erraten ist aber das falsche Wort; er rätselte ja nicht ins Blaue hinein, sondern begründete all seine Behauptungen mit Analogien aus der Natur. Sein Scharfsinn ist dabei ungemein faszinierend. Und das Beste an all seinen Thesen: Er schrieb sie in Versen. Nicht nur das, er erklärt uns sogar, warum er das tut. Weil komplexe Wahrheiten leichter bekömmlich sind, wenn man sie in Geschichten und schönen Worten verpackt. Oh ja. Die moderne Wissenschaft sollte sich dies zu Herzen nehmen.
Natürlich liegt Lukrez auch oft falsch. Seine Erklärungen des Sehens und Hörens sind falsch, seine Erklärungen des Riechens und Schmeckens dafür goldrichtig. Seltsamerweise bezweifelt er die Kugelgestalt der Erde. Auch bei anderen Phänomenen liegt er weit daneben. Und doch ist manches – so falsch es im Licht moderner Erkenntnisse auch scheint – immer noch bei Weitem richtiger als konkurrierende Erklärungsmodelle seiner Zeit. Seine Polemik, mit der er sich über den Glauben an die griechisch-römische Götterwelt amüsiert, ist grandios. (Wieso wartet Zeus immer auf schlechtes Wetter, bevor er seine Blitze schleudert?) Seine Religionskritik lässt sich aber ebenso gut auf das Christentum anwenden. Man meint an vielen Stellen gar, er würde sich auf selbiges beziehen. Allerdings gab es dieses zur Zeit der Abfassung von De rerum natura noch gar nicht.
Dass wir dieses Buch haben, dass es den Jahrhunderten nicht gelang, es zu vernichten, haben wir wohl historischen Zufällen zu verdanken. Viele Jahrhunderte lang geriet es in Vergessenheit, bis es im fünfzehnten Jahrhundert in einer deutschen Klosterbibliothek zufällig wieder zum Vorschein kam. Dass die katholische Kirche keine rechte Freude damit hatte, ist kein Wunder. Für Lukrez ist die Seele ein physisches Phänomen und daher genauso sterblich wie der Leib, göttliche Intervention ist blinder Aberglaube, religiöse Ideologie ein Übel, das Familien und Staaten in Kriegen zerreißt. Explizit spricht er auch von Sexualität und anderen Tabuthemen der Theologie des Mittelalters. Lukrez möchte jenen, die sein Werk lesen, die Angst vor Göttern und vor dem Tod nehmen. Der Weg dazu liegt für ihn mitunter in der Naturwissenschaft, in der Erkenntnis der Natur der Dinge, die einher geht mit tiefem Staunen und aufrichtiger Faszination für die Phänomene des uns umgebenden Kosmos. Jener Philosoph der griechischen Antike, auf den sich Lukrez dabei am meisten beruft, ist kein anderer als Epikur, welcher ja bekanntlich bei Dante ganz tief unten in der Hölle sitzt. Beide – Lukrez und Epikur – sind Fackelträger der Diesseitsbejahung.
Trotz aller Widerstände schafften es die Worte des Lukrez bis in die Gegenwart. Und auf dem Wege inspirierten sie viele große Geister jüngerer Vergangenheit: Giordano Bruno, Montaigne, Molière, Goethe und viele mehr. Es ist spannend zu erspüren, wie sich die Spuren dieses Werks durch die Geschichte ziehen.
Man kann Lukrez primär als Dichter sehen – oder als Proto-Naturwissenschaftler – oder als beides. Ich wäre schon geneigt, dieses Buch als frühes Beispiel naturwissenschaftlicher Welterklärung zu betrachten und es etwa in einer Reihe mit Newtons so viel späterem Philosophiae Naturalis Principia Mathematica zu nennen. Der Anspruch der schlüssigen Welterklärung bleibt derselbe. Die Methode allerdings verlagerte sich von der Poesie zur Mathematik, wobei sich letztere als die viel tauglichere Sprache entpuppte – zumindest für die Ziele der Naturwissenschaft.
Neben Poesie und Wissenschaft sollte man natürlich nicht darauf vergessen, den philosophischen Aspekt dieses Werkes hervorzuheben. Es entstand zu einer Zeit als sich die einzelnen Naturwissenschaften noch nicht von der Zwiebelstruktur der Philosophie abgeschält hatten, als z.B. Physik mangels naturwissenschaftlicher Methodik noch Naturphilosophie hieß. Die Lukrez’sche Methode des Erkenntnisgewinns birgt etwas Urphilosophisches in sich. Der menschliche Geist selbst wird hier zum Mess- und Analyseinstrument, mit dem gelang, was sinnerweiternden Geräten noch jahrhundertelang nicht gelingen würde.
Zwei besonders prägende Stellen im Werk des Lukrez möchte ich noch herausgreifen. Seine Beschreibung der Attischen Seuche (jene Epidemie, die Athen von 430–426 v. u. Z. heimsuchte und von der uns schon Thukydides erschütterndes Zeugnis liefert) gehört wohl zu den frappierendsten Schilderungen in Vers, die je über Krankheit und Tod geschrieben wurden. Vor allem, wenn man selbst gerade eine Pandemie durchlebt, hören sich diese Zeilen aus längst vergangener Zeit so erschreckend aktuell und vertraut an.
Und dann wäre da noch jene Stelle, die das Herz aller Science-Fiction Freunde schneller schlagen lässt. Seit wann träumen die Menschen von der Existenz außerirdischen Lebens auf fremden Welten im All? Seit ein paar hundert Jahren? Nein, schon Lukrez hält es für wahrscheinlich, dass wir nicht allein im All sind. Denn ist die Zeit nur lang genug, so wiederholt sich, was sich auf Erden ereignet hat, wohl auch anderswo. Hier die nämliche Textstelle in der großartigen Übersetzung von Alicia Elsbeth Stallings:
Besides, when matter is available in great supply, Where there is space at hand, and nothing to be hindered by, Things must happen and come to pass. That is a certainty, In all the time Life has existed for, the full amount, If the same Force and the same Nature abide everywhere To throw together atoms just as they’re united here, You must confess that there are other worlds with other races Of people and other kinds of animals in other places.
Ein schöner Klassiker von mathematischer Eleganz und fein zugespitzter Gesellschaftskritik. Wie ein Buch es nur selten vermag, spielt Flatland mit der Vorstellungskraft der Lesenden und führt sie aus einer zweidimensionalen Welt hinaus in die Möglichkeitsräume von Raum und Zeit. Man mag beim Lesen kaum glauben, dass dieses Buch tatsächlich schon im Jahre 1884 verfasst wurde, so modern scheint die Kritik, so unkonventionell die Sprache, die eine wunderschöne Balance von mathematischer Prägnanz und poetischem Charme hält. Die vielen versteckten Shakespeare-Zitate, die alle Dimensionen durchdringen, tun ihr Übriges, um dem Werk eine überzeitliche Bedeutung zu verleihen.
Viel Wahrheit steckt in diesen Worten. Weder physikalisch noch mathematisch ist die dreidimensionale Welt eine Notwendigkeit. So wie der Held dieser Geschichte – ein etwas biederes Quadrat – anfangs nicht vermag, sich mehr als zwei Dimensionen vorzustellen („Upwards, but not northwards“), so scheitern auch wir daran, Vier- und Fünfdimensionalität zu imaginieren. Und dabei zeigt uns doch spätestens seit 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie die Möglichkeit auf, dass der dreidimensionale Raum des Kosmos in eine vierte Dimension gekrümmt sein könnte. Mathematisch kein Problem, doch unsere Vorstellungskraft, die evolutionär darauf getrimmt ist, von Baum zum Baum zu springen, kommt da leider nicht mehr mir. Für alle, die es doch riskieren wollen und den Weg zur Mehrdimensionalität suchen, bietet Edwin Abbott in Flatland wunderbare Analogien. Denn erst wenn man sich wirklich vorstellen kann, wie eine Welt in nur einer oder zwei Dimensionen aussehen würde und von dort jeweils den Schritt in die nächste Dimension vollzieht, erst dann vermag man zu erahnen, was denn nötig wäre, um den Schritt aus der 3D-Welt zur 4D-Welt zu machen.
Schwer zu glauben, dass Abbott sein Flatland geschrieben hatte, ohne noch irgendeine Ahnung davon zu haben, dass wenige Jahrzehnte später die Physik Wegweiser in eben jene Möglichkeitsräume finden würde, die er hier beschreibt. Ob Einstein wohl Flatland gekannt hat? Es würde mich nicht wundern.
Spannend ist auch der Umstand, dass die Gesellschaft der zweidimensionalen Welt, aus welcher der Protagonist stammt, eine Art klerikale Diktatur ist. Die Progression von Dreiecken zu Polygonen im Laufe der Generationen mit der ständigen Gefahr der Irregularität und damit einhergehenden Ächtung verhindert weitgehende soziale Umwälzungen. Die Unterdrückung der spitzwinkligen Dreiecke erinnert an Sklavenhaltung oder die Repression der Arbeiterschaft. Die höherdimensionale Welt, aus welcher das Quadrat (dessen Vater ein gleichseitiges Dreieck war, dessen Söhne Pentagone und dessen Enkel schon Hexagone sind) besucht wird, scheint eher demokratisch gesinnt zu sein. Doch auch diese Kugel wirkt beschränkt, wenn es vom Quadrat mit der Möglichkeit der Vierdimensionalität konfrontiert wird. Auch die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, welches in Flatland, nur aus Linien besteht, wird thematisiert. Letztlich geht es um die Überwindung der eigenen Hybris – egal in wie vielen Dimensionen.
Kurzum: Allen, die mit erzählerischer Brillanz begreifen wollen, warum ein Hyperwürfel sechzehn Ecken und acht Seiten haben muss, sei dieses Büchlein wärmstens empfohlen.
Es ist erhebend und erfrischend zugleich, wie die französische Philosophin Corine Pelluchon in ihrer kurzen, doch prägnanten Streitschrift Manifest für die Tiere klar darlegt, dass Massentierhaltung und andere Varianten speziesistischer Neo-Sklaverei der Menschheit kurz- und langfristig weit mehr Schaden zufügen, als sie Nutzen erbringen. Der französische Titel des Werkes Manifeste animaliste trifft den Kern der Botschaft wesentlich besser, ist diese Schrift doch nicht nur ein Manifest für die Tiere, sondern auch für die Menschen – ein anti-speziesistisches Aufbegehren gegen in Tradition verhaftete Ungerechtigkeiten vieler Art, auf welche künftige Generationen wohl mit ähnlicher Scham und Abscheu zurückblicken werden, wie die Menschen der heutigen Zeit es bei Betrachtung des antiken und neuzeitlichen Sklavenhandels tun. Das Anfangszitat von Abraham Lincoln passt in diesem Zusammenhang besonders gut.
Theoretischer Unterbau dieses doch sehr knappen Büchleins ist wohl Pelluchons bisheriges Hauptwerk Wovon wir leben, in welchem sie eine Art neue Existenzphilosophie umreißt, welche den Menschen weniger als geistiges, in seiner Umwelt autarkes Wesen, sondern vielmehr als Tier in seiner Abhängigkeit natürlicher Ressourcen zeigt. Das werde ich wohl noch lesen müssen. Und ich werde es gerne tun.
Das Manifeste animaliste versteht sich als zeitgenössisches Update zu Peter Singers Animal Liberation. Im Unterschied zu Singer gründet Pelluchon ihren „Neo-Animalismus“ aber nicht mehr rein auf utilitaristische Argumentationsketten. Eine ebenso große, wenn nicht größere Rolle spielt eine auf Mitleid und Mitgefühl basierende Ethik, die doch mitunter an Schopenhauer erinnert. Letzterer hätte mit dem Manifeste animaliste wohl seine Freude gehabt.
Das Buch entlarvt die wirkmächtigen Verdrängungseffekte, welche die heutige Massentierhaltung erst möglich machen. Gleichzeitig zeigt es Verständnis für all jene, die aus Tradition oder ökonomischer Notwendigkeit Teil dieser globalen Missbrauchs Maschinerie sind und warnt davor, allzu schnell anzuklagen. Der Animalismus darf nicht selbst zum Dogmatismus werden. Und doch gilt es, an der anti-speziesistischen Forderung festzuhalten, dass die Interessen nichtmenschlicher Tiere ebenso berücksichtigt werden sollten, wie jene der Menschen. Ihr Leben sei für sie ebenso wichtig wie das unsrige für uns.
Die Politisierung der Tierfrage scheine unvermeidbar, um nachhaltige Veränderungen herbeizuführen. Dabei müsse man aber sowohl rationale wie auch emotionale Wege wählen. Die Ratio allein vermöge nicht, ausreichend Menschen zu einer Veränderung ihrer Lebensweise zu bewegen.
Spannend ist auch jene Passage, in der die Autorin den „vollständigen und hemmungslosen Mangel an Achtung vor dem Leben“ beleuchtet, der dem Status-quo-Kapitalismus zu Grunde liege und sogar einen Zusammenhang aufzeigt zwischen „Terrorismus und der Gewalt, die wir gegen andere Menschen und nichtmenschliche Tiere ausüben“.
Der Animalismus wird definiert als „philosophische, kulturelle und politische Bewegung, in der Menschen zusammenkommen, die sich durch ihre Lebensweise und ihr kollektives Handeln für den Schutz der Interessen von nichtmenschlichen Tieren einsetzen“. Er legt nahe, dass eine Aufnahme der Tiere in Ethik und Recht zugleich eine Erneuerung des Humanismus bedeute. Letztlich steuere man auf eine Welt zu, in der es nicht mehr legitim sein werde, ein anderes empfindungsfähiges Wesen auszubeuten.
Im Schlussteil liefert Pelluchons Manifest auch einige konkrete Handlungsvorschläge. Das Ende der Gefangenschaft von Tieren im Zirkus und Tierpark steht dabei nur am Beginn einer langen Kette von Forderungen, denn „Nur mit einem gespaltenen Bewusstsein kann man sich am Anblick anderer empfindungsfähiger Tiere erfreuen, die in Gefangenschaft leben müssen.“ Auch die schrittweise Rückkehr von der intensiven zur extensiven Tierhaltung bei drastischer Verringerung des Fleischkonsums wird als realistische Perspektive erörtert. Auch die positiven Auswirkungen auf die Verhinderung der Erderwärmung kommen hierbei zur Sprache. Die Erweiterung eines vegetarischen und veganen Speisenangebots in allen Städten und Institutionen versteht sich von selbst. All dies sei laut Pelluchon auch mit anhaltender wirtschaftlicher Prosperität vereinbar. Die Rolle von Künstler*innen und Intellektuellen im Zuge dieser Entwicklung wird ebenfalls diskutiert.
Am Ende schließt das Buch freilich mit jenen Worten, die in einem Manifest nicht fehlen dürfen: „Animalisten aller Länder, aller Parteien, und aller Konfessionen, vereinigt euch!“
Die veganen Kasspatzl, die ich gestern gekocht habe, schmeckten nach dieser Lektüre besonders gut.