Les Houches, Diderot et Grenoble

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Von einer kurze Reise wiederkehrend schreibe ich Gedanken nieder.

Es waren schöne Tage in Les Houches, dem kleinen Dorf mit seiner wunderbaren Aussicht auf die Kette des Mont-Blanc. Im Ort selber war ich kaum. Die meiste Zeit verbrachte ich mit 50 anderen Astrophysikern und Astrophysikerinnen in der dreißig Marschminuten oberhalb des Orts gelegenen École de la Physique, wo auch Pauli und Dirac schon weilten. Die Vorlesungen waren gut, die Zuhörerschaft international, die Einsichten durchaus von Nutzen – auch für meine eigene Forschung.

Doch im Vordergrund stand dieser hypnotisierende Blick auf die höchsten Gipfel Europas, der einen in jeder Pause, am frühen Morgen und nachts unter Sternen immer wieder still stehen und staunen ließ. Ein kleiner Rundweg führt für 10 Minuten durch zauberischen Märchenwald. Vogelgesang und fröhliches Krötengequake. Am Gipfel des Hausbergs Le Prarion watete ich noch durch Schnee und sah weit in die Ferne, doch längst nicht so weit wie von der Nadel des Mittags, der Aiguille du Midi. Dort hinauf, auf 3842 m, führt von Chamonix aus eine Seilbahn und der Blick, der sich bietet, ist einzigartig in der Welt. Man sieht die weiße Kuppe des Mont-Blanc – zum Greifen nah. Und ferner sieht man Matterhorn und Monterosa, Jura, Chaîne des Aravis und tausend andere Berge dreier Länder. Lange stand ich dort am Gipfel, höher als jeder Gipfel Österreichs, und blickte auf das Dach Europas. Chamonix selbst ist ein Genuss. Trotz Tourismus blieb Beschaulichkeit bewahrt. Die Statuen der großen Gestalten seiner Geschichte ragen am Ufer der Arve empor – und alle blicken sie hinauf zum Mont-Blanc. Die kleine Eisenbahn, die Martigny in der Schweiz und St. Gervais in Frankreich verbindet rattert im Stundentakt gemächlich durchs Tal, welches unten so saftig grün und oben so ewig weiß ist. Ich erfreute mich einmal mehr an französischer Kultur, am Klang der Sprache und an der Küche. Die Mahlzeiten in der École de physique waren wirklich famos, auch der Charme und Humor des Koches war ein Spektakel. Auf kleinen Wanderungen erkundete ich, teils allein, teils mit anderen, die Gegend. Der Ort Les Houches, das Dorf Servoz, der Gipfel des Prarion und die beschauliche Ruine aus dem 13. Jahrhundert unten am Fluss, die auch schon Victor Hugo mit Versen bedachte – all diese Orte bleiben mir im Gedächtnis. Auch das Krähen des Hahnes am Morgen, das Zirpen der Grillen am Nachmittag und das ewige Rufen der Schafe auf der Weide gleich unterhalb unserer Unterkünfte. Das Wetter zeigte sich abwechslungsreich in allen Facetten. Neben sommerlicher Wärme, neben Starkregen und Sturm, überraschte uns eines Morgens auch ruhiger, beschaulicher Schneefall und für einen Vormittag war die Welt tief winterlich.

Ich las viel in jenen Tagen. Zuerst beschäftigte ich weiter mit Faulkner und seinem düsteren Roman „Absalom, Absalom“, dessen Ende mich packte und mit dem Anfang versöhnte. Dies Buch ist ein Schälen der Zwiebel, deren wahre Gestalt hinter vielen Schichten des Scheins verborgen liegt. Welch eine Enthüllung in den letzten Kapiteln. Und welch ein Kontrast in französischen Bergen ein amerikanisches Südstaatendrama zu lesen. In einer Buchhandlung in Chamonix stieß ich auf Denis Diderot und seine Geschichten. Allein im Wald las ich laut von Freude und Leid seiner Figuren, die zum Teil gar wirklich lebten. Schön war es, im Wald Diderot zu lesen.

In einer Schlucht liegt eine kleine Bahnstation. Der Wanderweg endet dort. Es gibt nur ein kleines Häuschen aus Holz. Der Zug hält nur, wenn man die Hand hebt. Über ein altes Viadukt quert er die Arve und passiert die einsame Station. Und erst gestern stand ich da, hob meine Hand und der Zug hielt.

Und so verließ ich nach zehn Tagen das schöne Arvetal. Aber noch ging es nicht zurück in die Heimat. Zu nahe lag ein sehr vertrauter, altbekannter Ort. Ich kam nicht umhin, ihn zu besuchen. Über Saint-Gervais und Bellegarde fuhr ich nach Grenoble. Eine Beobachtung am Weg: In der schönen, runden Bahnhofshalle von Bellegarde steht einfach so ein Klavier und lädt alle wartenden zum Spielen ein. Pour vous à jouer. Ah, c’est la France!

Bald sah ich vom Fenster des Zuges Le Rhône, bald den wunderbaren Lac du Bourget, bald auch die Isère, den Dent de Crolles und die Chartreuse. Alles Bekannte von einst. Und schon war ich da – in Grenoble. Vor drei Jahren hab ich hier ein halbes Jahr lang gelebt. Wie schnell die Zeit vergeht. Ich schlenderte durch die Straßen, fuhr mit der Seilbahn hinauf zum Fort de Bastille, genoss einmal mehr den vertrauten Blick hinab in die Stadt und hinüber auf die Gebirgsmassive von Belledonne und Vercors. Viele Gipfel der Umgebung hatte ich damals erklommen, die Moucherotte, die Chamechaude, den Néron. Ich wanderte weiter die Straße hinab nach La Tronche. Hier steht das Haus, wo ich ein halbes Jahr wohnte, das Fenster zum Zimmer, wo ich so viel las und schrieb, wo ich schwitzte und fror. Alle Fenster waren zu, die Jalousien geschlossen. Ob meine Vermieterin wohl noch hier wohnte?

Da war mein Waldweg hinab in die Altstadt, der Baumstamm, wo ich einst mit Maria desnachts grünen Chartreuse trank, die Porte Saint Laurent, die Rue Saint-Laurent, die Pont Saint-Laurent, der Löwenbrunnen mit seiner Schlange. Auch der E4 verlief genau hier. Die Altstadt, die Brunnen, der Place Victor Hugo – alles wie damals. Nur die vierte Straßenbahnlinie ist endlich fertig geworden. Nach gutem Essen ging ich ins Kino, wo ich damals zahlreiche Filme gesehen hatte. Gleich daneben stand der dunkle Turm von Perrin, unter dem ich am 14. Juli 2013 das schönste Feuerwerk meines Lebens sah, untermalt mit Vivaldi.

Morgens ging ich zum Markt, kaufte Obst so wie damals, nur kein Gemüse. (Das eignet sich nicht so gut für die Zugfahrt.) Ich saß lang mit Croissant und Chocolatine im Café am Place de Saint-Claire. An so vielen Sonntagen war ich hier damals gesessen und hatte hier viele Bücher gelesen. Stendhal und Voltaire, Dumas und viel mehr. Der Kellner ist derselbe geblieben, doch er kennt mich nicht mehr. Wie damals blieb ich lange hier, zwei Stunden fast – und las den Diderot zu Ende. Mehr als seine traurigen Kurzgeschichten, die wirklich schön und berührend sind, begeisterte mich aber ein kurzer Text im Anhang: seine Éloge sur Richardson. Als der englische Autor Richardson gestorben war, widmete Diderot ihm eine Eloge und nie noch habe ich einen Autor so über einen anderen Autor schreiben sehen. Diderot verehrt und verherrlicht das Werk von Richardson derart, dass mir eine baldige Lektüre seiner Werke unvermeidlich scheint. Eine Eloge, die sich zu lesen lohnt und die dazu anspornt, neue literarische Gefilde zu erkunden. Ô Richardson, tu ne mens jamais.

Und wieder vorbei am schönen Lac du Bourget, am großen Taubenschlag und an den weinrebenreichen Hängen des Léman gleite ich nun der Heimat entgegen. La France, je reviendrai.

 

 

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