Lukrez: De rerum natura

Es ist schwer in Worte zu fassen, wie großartig und unschätzbar wertvoll für die Nachwelt dieses über zweitausend Jahre alte Werk aus der Spätphase der römischen Republik uns erscheinen sollte. Seit vielen Jahren ist mir Lukrez in Zitaten und Verweisen immer wieder untergekommen (z.B. bei Bertrand Russell, aber auch in Büchern über Poesie und Naturwissenschaft). Leider hatte ich bisher nie die Zeit gefunden, De rerum natura in voller Länge zu lesen. Es war dafür schon reichlich spät. Aber dafür habe ich es nun mit umso lauterer Stimme gelesen und die alten Worte in meinem Wohnzimmer oder beim Wandern im Wald erklingen lassen.

Obwohl wir fast gar nichts über das Leben des Lukrez wissen, geht aus seinen Worten doch ganz klar hervor, dass er ein scharfer Beobachter der Natur, ein Kombinierer par excellence und ein famoser Dichter war. Er hat in seinem Werk so vieles behauptet, das seine Zeitgenossen als absurd bezeichnet haben, das in späteren Jahrhunderten als ketzerisch und gefährlich gebrandmarkt wurde und das sich doch fast zwei Jahrtausende später als goldrichtig erwies. Seine Atomtheorie ist sehr ähnlich dem, was man heute noch unter dem Begriff versteht. Achtzehn Jahrhunderte vor Robert Brown beschrieb er schon recht akkurat die Brown‘sche Molekularbewegung. Neunzehn Jahrhunderte vor Charles Darwin umriss er schon ansatzweise die Funktion von Genen und nahm in manchen Passagen Aspekte der Evolution vorweg. Er schrieb über Magnetismus, die Physik der Sinne, über Erdbeben und Vulkanausbrüche, Donner und Blitz, über den unendlichen Kosmos, über ferne Sterne und Planeten… sogar kosmische Strahlen werden schon angedeutet. Es ist direkt unheimlich, wie viel dieser Mensch vor über zweitausend Jahren schon richtig erriet. Erraten ist aber das falsche Wort; er rätselte ja nicht ins Blaue hinein, sondern begründete all seine Behauptungen mit Analogien aus der Natur. Sein Scharfsinn ist dabei ungemein faszinierend. Und das Beste an all seinen Thesen: Er schrieb sie in Versen. Nicht nur das, er erklärt uns sogar, warum er das tut. Weil komplexe Wahrheiten leichter bekömmlich sind, wenn man sie in Geschichten und schönen Worten verpackt. Oh ja. Die moderne Wissenschaft sollte sich dies zu Herzen nehmen.

Natürlich liegt Lukrez auch oft falsch. Seine Erklärungen des Sehens und Hörens sind falsch, seine Erklärungen des Riechens und Schmeckens dafür goldrichtig. Seltsamerweise bezweifelt er die Kugelgestalt der Erde. Auch bei anderen Phänomenen liegt er weit daneben. Und doch ist manches – so falsch es im Licht moderner Erkenntnisse auch scheint – immer noch bei Weitem richtiger als konkurrierende Erklärungsmodelle seiner Zeit. Seine Polemik, mit der er sich über den Glauben an die griechisch-römische Götterwelt amüsiert, ist grandios. (Wieso wartet Zeus immer auf schlechtes Wetter, bevor er seine Blitze schleudert?) Seine Religionskritik lässt sich aber ebenso gut auf das Christentum anwenden. Man meint an vielen Stellen gar, er würde sich auf selbiges beziehen. Allerdings gab es dieses zur Zeit der Abfassung von De rerum natura noch gar nicht.

Dass wir dieses Buch haben, dass es den Jahrhunderten nicht gelang, es zu vernichten, haben wir wohl historischen Zufällen zu verdanken. Viele Jahrhunderte lang geriet es in Vergessenheit, bis es im fünfzehnten Jahrhundert in einer deutschen Klosterbibliothek zufällig wieder zum Vorschein kam. Dass die katholische Kirche keine rechte Freude damit hatte, ist kein Wunder. Für Lukrez ist die Seele ein physisches Phänomen und daher genauso sterblich wie der Leib, göttliche Intervention ist blinder Aberglaube, religiöse Ideologie ein Übel, das Familien und Staaten in Kriegen zerreißt. Explizit spricht er auch von Sexualität und anderen Tabuthemen der Theologie des Mittelalters. Lukrez möchte jenen, die sein Werk lesen, die Angst vor Göttern und vor dem Tod nehmen. Der Weg dazu liegt für ihn mitunter in der Naturwissenschaft, in der Erkenntnis der Natur der Dinge, die einher geht mit tiefem Staunen und aufrichtiger Faszination für die Phänomene des uns umgebenden Kosmos. Jener Philosoph der griechischen Antike, auf den sich Lukrez dabei am meisten beruft, ist kein anderer als Epikur, welcher ja bekanntlich bei Dante ganz tief unten in der Hölle sitzt. Beide – Lukrez und Epikur – sind Fackelträger der Diesseitsbejahung.

Trotz aller Widerstände schafften es die Worte des Lukrez bis in die Gegenwart. Und auf dem Wege inspirierten sie viele große Geister jüngerer Vergangenheit: Giordano Bruno, Montaigne, Molière, Goethe und viele mehr. Es ist spannend zu erspüren, wie sich die Spuren dieses Werks durch die Geschichte ziehen.

Man kann Lukrez primär als Dichter sehen – oder als Proto-Naturwissenschaftler – oder als beides. Ich wäre schon geneigt, dieses Buch als frühes Beispiel naturwissenschaftlicher Welterklärung zu betrachten und es etwa in einer Reihe mit Newtons so viel späterem Philosophiae Naturalis Principia Mathematica zu nennen. Der Anspruch der schlüssigen Welterklärung bleibt derselbe. Die Methode allerdings verlagerte sich von der Poesie zur Mathematik, wobei sich letztere als die viel tauglichere Sprache entpuppte – zumindest für die Ziele der Naturwissenschaft.

Neben Poesie und Wissenschaft sollte man natürlich nicht darauf vergessen, den philosophischen Aspekt dieses Werkes hervorzuheben. Es entstand zu einer Zeit als sich die einzelnen Naturwissenschaften noch nicht von der Zwiebelstruktur der Philosophie abgeschält hatten, als z.B. Physik mangels naturwissenschaftlicher Methodik noch Naturphilosophie hieß. Die Lukrez’sche Methode des Erkenntnisgewinns birgt etwas Urphilosophisches in sich. Der menschliche Geist selbst wird hier zum Mess- und Analyseinstrument, mit dem gelang, was sinnerweiternden Geräten noch jahrhundertelang nicht gelingen würde.

Zwei besonders prägende Stellen im Werk des Lukrez möchte ich noch herausgreifen. Seine Beschreibung der Attischen Seuche (jene Epidemie, die Athen von 430–426 v. u. Z. heimsuchte und von der uns schon Thukydides erschütterndes Zeugnis liefert) gehört wohl zu den frappierendsten Schilderungen in Vers, die je über Krankheit und Tod geschrieben wurden. Vor allem, wenn man selbst gerade eine Pandemie durchlebt, hören sich diese Zeilen aus längst vergangener Zeit so erschreckend aktuell und vertraut an.

Und dann wäre da noch jene Stelle, die das Herz aller Science-Fiction Freunde schneller schlagen lässt. Seit wann träumen die Menschen von der Existenz außerirdischen Lebens auf fremden Welten im All? Seit ein paar hundert Jahren? Nein, schon Lukrez hält es für wahrscheinlich, dass wir nicht allein im All sind. Denn ist die Zeit nur lang genug, so wiederholt sich, was sich auf Erden ereignet hat, wohl auch anderswo. Hier die nämliche Textstelle in der großartigen Übersetzung von Alicia Elsbeth Stallings:

Besides, when matter is available in great supply,
Where there is space at hand, and nothing to be hindered by,
Things must happen and come to pass. That is a certainty,
In all the time Life has existed for, the full amount,
If the same Force and the same Nature abide everywhere
To throw together atoms just as they’re united here,
You must confess that there are other worlds with other races
Of people and other kinds of animals in other places.

Lucretius, ~60 BCE

Gänsehaut pur.