Edwin Abbott: Flatland

Ein schöner Klassiker von mathematischer Eleganz und fein zugespitzter Gesellschaftskritik. Wie ein Buch es nur selten vermag, spielt Flatland mit der Vorstellungskraft der Lesenden und führt sie aus einer zweidimensionalen Welt hinaus in die Möglichkeitsräume von Raum und Zeit. Man mag beim Lesen kaum glauben, dass dieses Buch tatsächlich schon im Jahre 1884 verfasst wurde, so modern scheint die Kritik, so unkonventionell die Sprache, die eine wunderschöne Balance von mathematischer Prägnanz und poetischem Charme hält. Die vielen versteckten Shakespeare-Zitate, die alle Dimensionen durchdringen, tun ihr Übriges, um dem Werk eine überzeitliche Bedeutung zu verleihen.

Viel Wahrheit steckt in diesen Worten. Weder physikalisch noch mathematisch ist die dreidimensionale Welt eine Notwendigkeit. So wie der Held dieser Geschichte – ein etwas biederes Quadrat – anfangs nicht vermag, sich mehr als zwei Dimensionen vorzustellen („Upwards, but not northwards“), so scheitern auch wir daran, Vier- und Fünfdimensionalität zu imaginieren. Und dabei zeigt uns doch spätestens seit 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie die Möglichkeit auf, dass der dreidimensionale Raum des Kosmos in eine vierte Dimension gekrümmt sein könnte. Mathematisch kein Problem, doch unsere Vorstellungskraft, die evolutionär darauf getrimmt ist, von Baum zum Baum zu springen, kommt da leider nicht mehr mir. Für alle, die es doch riskieren wollen und den Weg zur Mehrdimensionalität suchen, bietet Edwin Abbott in Flatland wunderbare Analogien. Denn erst wenn man sich wirklich vorstellen kann, wie eine Welt in nur einer oder zwei Dimensionen aussehen würde und von dort jeweils den Schritt in die nächste Dimension vollzieht, erst dann vermag man zu erahnen, was denn nötig wäre, um den Schritt aus der 3D-Welt zur 4D-Welt zu machen.

Schwer zu glauben, dass Abbott sein Flatland geschrieben hatte, ohne noch irgendeine Ahnung davon zu haben, dass wenige Jahrzehnte später die Physik Wegweiser in eben jene Möglichkeitsräume finden würde, die er hier beschreibt. Ob Einstein wohl Flatland gekannt hat? Es würde mich nicht wundern.

Spannend ist auch der Umstand, dass die Gesellschaft der zweidimensionalen Welt, aus welcher der Protagonist stammt, eine Art klerikale Diktatur ist. Die Progression von Dreiecken zu Polygonen im Laufe der Generationen mit der ständigen Gefahr der Irregularität und damit einhergehenden Ächtung verhindert weitgehende soziale Umwälzungen. Die Unterdrückung der spitzwinkligen Dreiecke erinnert an Sklavenhaltung oder die Repression der Arbeiterschaft. Die höherdimensionale Welt, aus welcher das Quadrat (dessen Vater ein gleichseitiges Dreieck war, dessen Söhne Pentagone und dessen Enkel schon Hexagone sind) besucht wird, scheint eher demokratisch gesinnt zu sein. Doch auch diese Kugel wirkt beschränkt, wenn es vom Quadrat mit der Möglichkeit der Vierdimensionalität konfrontiert wird. Auch die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, welches in Flatland, nur aus Linien besteht, wird thematisiert. Letztlich geht es um die Überwindung der eigenen Hybris – egal in wie vielen Dimensionen.

Kurzum: Allen, die mit erzählerischer Brillanz begreifen wollen, warum ein Hyperwürfel sechzehn Ecken und acht Seiten haben muss, sei dieses Büchlein wärmstens empfohlen.