Der Segen der Erde

„Den langen, langen Pfad durch die Moore und in die Wälder, wer hat ihn ausgetreten? Der Mann, der Mensch, der Erste, der hier war. Vor ihm gab es keinen Pfad.“

Mit diesen Worten beginnt Knut Hamsuns Roman „Der Segen der Erde“, für den ihm im Jahre 1920 der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Auch hundert Jahre später lohnt sich die Lektüre dieses Werkes sehr. „Bodenständig“ ist wohl das Adjektiv, das am besten zur Beschreibung dieses Textes gereicht. Das einfache Leben am Land, das Leben vom Land, Viehzucht und Ackerbau, organisches Wachstum, die Schönheit des Einfachen – dies sind die Kernmotive der Geschichte.

Der starke Isak geht tief in den Wald und fängt an, ein Stück Land zu bestellen. Er baut eine kleine Hütte. Damit fängt es an. Bald gesellt sich eine Frau hinzu. Bald gibt es Kinder. Mehr Wald wird gerodet, mehr Moor wird trockengelegt. Isaks Reich wächst beständig, Feld um Feld, Tier um Tier, Gebäude um Gebäude. Andere folgen. Es sind nicht nur Bauern; Telegrafenmasten, Händler und Minenarbeiter hinterlassen bald ihre Spuren im Wald und im Leben der Protagonisten. Doch alle sind sie dem Autor verdächtig. Das gute, unverfälschte Leben findet sich nicht in der Stadt, nicht in Bildung, Handel und Wissenschaft, sondern nur im bodenständigen Landleben – so die leider nicht gut genug versteckte Botschaft, die Hamsun den Lesenden mitgeben möchte.

Doch auch, wenn man dieser Botschaft widerspricht, muss man die stilistische Schönheit und stellenweise Monumentalität dieses Romans freudig anerkennen. Wurde jemals sonst in so bewegenden Worten von einfachen Dingen berichtet – etwa davon, wie Isak das Korn aussät oder wie er gemeinsam mit seiner Frau Inger einen großen Stein aus dem Boden stemmt? Das alles kommt in Hamsuns Worten so bildgewaltig und emotional daher, dass es bei manchen die ein oder andere Träne entlockt.

Stetiges, organisches Wachstum basierend auf harter, ehrlicher Arbeit – dieses beständige Grundthema des Romans erinnert beim Lesen in gewisser Weise an manch altes Computerspiel à la Anno 1602. Wildes Land wird urbar gemacht und gibt Platz frei für Glück und neues Leben. Dieses Glück, dass die Menschen in Hamsuns Welt erleben, wird allerdings kaum in Worten artikuliert. Es findet sich nur in Handlungen, nur zwischen den Zeilen. Denn die Figuren des Romans sind allesamt kaum fähig, ihre Emotionen, ihr wahres Befinden in Worte zu fassen und einander zu offenbaren. Sie sind sprachlich stark eingeschränkt. Sagt Isak „Ach ja, mein Gott …“, so gilt es, aus dem Zusammenhang zu erschließen, was er damit wirklich sagen möchte und nicht kann.

Doch nicht nur stetiges Wachstum herrscht in Isaks Reich. Es gibt auch Rückschläge; Bürokratie, Kindsmord, rivalisierende Nachbarn, körperliche Missbildungen, Krankheit, Gefängnisstrafen und mehr drohen immer wieder, das harte und einfache, doch schöne Leben in seinem Wald zu trüben. Teilweise tun sie das auch.

An Tiefe gewinnt das Buch auch durch die vielen schön gezeichneten Figuren, die neben Isak und Inger ihre Spuren im Wald hinterlassen; die ungleichen Söhne Sivert und Elesius, die zwielichtige Oline, der dubiose und erfolglose Nachbar Brede, der brave Aksel Strøm, die zügellose Barbro, der Händler Aronsen, die Lappen, die gelegentlich durchs Land ziehen und andere.

Die vielleicht einprägsamste und gewiss rätselhafteste Figur des Romans bleibt aber der ehemalige Lehnsmann Geissler, der in unerwarteten Momenten immer wieder in die Geschichte eingreift und sie entscheidend zu beeinflussen weiß. Er ist mit Abstand auch jene Figur, die sich am besten zu artikulieren weiß und mitunter unerwartet tiefschürfend und poetisch über das Leben und die Rolle der Menschen sinniert.

„Ich bin etwas, ich bin der Nebel, bin hier und dort, ich schwimme, manchmal bin ich Regen an einem trockenen Ort.“

Getrübt wird das Lesevergnügen durch die drei oder vier Textstellen, an denen uns der Autor offensichtlich rassistische und antisemitische Vorurteile offenbart. Dies ist sehr schade. Hamsuns spätere Befürwortung des Nationalsozialismus ist aber kaum überraschend.

Und dennoch: 103 Jahre nach seiner Veröffentlichung sollte man den Roman unabhängig von den Irrungen des Autors als das nehmen, was er ist: eine monumentale Ode an das einfache Landleben und den Verdienst harter Arbeit.

„Wächst hier nichts? Hier wächst alles: Menschen, Tiere und Feldfrüchte. Isak sät. Die Abendsonne scheint auf das Korn, es fliegt im Bogen aus seiner Hand und sinkt wie ein Goldregen in die Erde. […] Wald und Berge schauen zu, alles ist Hoheit und überwältigend, hier ist Zusammenhang und Ziel. […] Dann wird es Abend.“