Anstoß zur demokratischen Erneuerung

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Der Gedanke ist nicht neu. Er ist alt – so alt wie die Demokratie. Einst war er ihr Herzstück. Doch dann geriet er in Vergessenheit – wurde vom Staub zweier Jahrhunderte verschüttet. Nun beginnt man, ihn allmählich wieder auszugraben. Kann er dazu dienen, die Demokratie zu stärken, neu zu beleben, zu retten gar? Ich denke schon. Graben wir mit!

Das Gefühl, etwas sei faul im System der elektoral-repräsentativen Demokratie, gewinnt an Stärke. Jene Volksvertreter*innen, die alle Jahre wieder von medial aufgebauschten Wahlritualen in die Parlamente und Räte der demokratischen Welt gespült werden – vertreten sie wirklich „das Volk“? Will heißen: Sind sie legitime Repräsentant*inn*en der Menschen, die sie gewählt – oder nicht gewählt – haben? Im amerikanischen Kongress findet man hauptsächlich Milliardäre, Unternehmer und Anwälte. Wo ist der Rest der Gesellschaft? Wo sind die Arbeiter*innen, die Künstler*innen, die Wissenschaftler*innen, wo die Bauern und Bäurinnen? Wo ist der Rest des Lebens? In vielen europäischen Parlamenten sieht es kaum besser aus.

Längst hat ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft dies satt. Man übt sich in Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit. Man mag nicht mehr wählen. Man wettert gegen die Elite in den Gremien der Obrigkeit, glaubt sich nicht mehr vertreten, sondern verraten und verkauft. Man hetzt gegen den ungeliebten Typus des Berufspolitikers, den kaum mehr etwas mit den tatsächlichen Ängsten und Nöten der Bevölkerung zu verbinden scheint.Von rechts und links außen kommt immer häufiger die Forderung nach Volksabstimmungen, nach mehr „direkter Demokratie“. Hin und wieder wird dem auch stattgegeben, was oft in Katastrophen endet (z.B. Brexit, Ablehnung des kolumbianischen Friedensabkommens, etc).

Dass eine Volksabstimmung – ein Referendum zu einem heiklen, komplexen Thema – von vornherein eine höchst fragwürdige und bedenkenswerte Angelegenheit ist – zu dieser Einsicht bedarf es wirklich keiner hohen kognitiven Leistung. Man kann doch nicht das Bauchgefühl der großteils uninformierten Masse über Themen entscheiden lassen, zu deren Begreifen und Abwägen es intensiver Ausandersetzung bedarf. Viel zu viel Macht fließt dabei den populären Stimmungsmachern und Sensationsmedien zu. Eine Volksabstimmung zu einem komplexen Sachverhalt wird so meist zum Sieg des Postfaktischen, zum Triumph von Mythen über Fakten, zur Niederlage des Intellekts.

Was weiß man als Durchschnittsbürger*in schon von CETA und TTIP, was wusste man als  Durchschnittsbrite oder -britin über die Risiken des Brexit? Und doch kann man ihm sein Nichtwissen nicht zum Vorwurf machen.

Eine Frechheit wäre es, der breiten Masse zuzumuten, sich neben alltäglichen Sorgen, mit den komplexen Zusammenhängen mancher Brennpunktfrage unserer Zeit zu beschäftigen.

Naiv und kurzsichtig. Das Einarbeiten in die Komplexität der Gegenwart, um zu Entscheidungen zugunsten der Allgemeinheit zu gelangen – genau das ist der Job der Volksvertreter*innen, der Repräsentant*inn*en in den Parlamenten. Doch diese tun dies oft nur schlecht, sind gelähmt von Clubzwang und Parteipolitik, von Wählerstimmenfang und vom Interesse der politischen Karrieren. Legitime Repräsentant*inn*en der Allgemeinheit sind Parlamentarier*innen kaum mehr. Vielleicht sind sie es auch nie gewesen.

Was also tun? Angesichts der Unwegbarkeiten der demokratischen Praxis fällt vielen wohl nichts anderes ein, als einmal mehr den abgedroschenen Spruch zu bemühen, dass die Demokratie eine schlechte Regierungsform sei – aber leider die beste, die wir haben. Noch vor ein paar Wochen hätte ich wohl ähnlich räsoniert. Doch heute denke ich: Eine funktionierende Demokratie ist eine gute Regierungsform. Doch leider ist die Regierungsform, unter der wir heute leben, eben keine funktionierende Demokratie.

Was? Aber wir haben doch freie Wahlen. Sind Wahlen nicht der Inbegriff einer funktionierenden Demokratie? Nein.

Schon Aristoteles bezeichnete die Wahl nicht als demokratisch, sondern oligarchisch. Rousseau und Montesquieu sahen in ihr ein Perpetuieren der Aristokratie. Demokratisch aber sei ein anderer, ein besserer Weg, ein Weg, der einen echten, repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung in Entscheidungsprozesse miteinbeziehe und dabei zugleich verhindere, dass unreflektiert und uninformiert entschieden werde; ein Weg, welcher Eliten und volksfremden Berufspolitikern das Wasser abgrabe, ein Weg, der so alt sei, wie die Demokratie selbst. Es gibt ein Mittel, ein demokratisches Werkzeug, das – weit besser als Wahlen – zu einer Neubelebung demokratischer Werte und demokratischen Denkens führen kann: das Los!

Ich sehe große Fragezeichen in den Köpfen der Lesenden. Nehmen wir ein Beispiel und machen einiges klar.

Schwierige Entscheidungen stehen an. Home-Ehe, Cannabis-Legalisierung, TTIP – ja oder nein? Mehr öffentliche Videoüberwachung auf Kosten der Privatsphäre – ja oder nein? Natürlich könnte einfach ein Parlament über die Köpfe der Bürger*innen hinweg entscheiden. Man würde dabei viele Proteste und Demonstrationen in Kauf nehmen, Hass schüren, Politikverdrossenheit mehren – oder aber man macht es so:

Per Los werden bundesweit (etwa aus Wählerregistern) insgesamt 101 Bürger*innen bestimmt. Jeder und jede ab dem sechzehnten Lebensjahr sei dazu geeignet. Diese Gruppe – nennen wir sie den „Rat der 101“ – wird nun für ein paar Wochen oder Wochenenden in die Hauptstadt berufen. Diese Tätigkeit ist selbstverständlich mit einer großzügigen Aufwandsentschädigung in der Höhe so manchen Politiker*innen*gehalts verbunden.

Der Rat der 101 ist ein echter Querschnitt der Bevölkerung: Jung und alt, arm und reich, Arbeiter*innen und Ba*uer*inne*n, Pflegekraft und Firmenleitung, homo und hetero, rechts und links – die zufällige Wahl stellt die Heterogenität – die Verschiedenartigkeit – des Rates sicher. Es bedarf keiner ausgefeilten Alogrithmen um sicherzustellen, dass die verschiedenen Gesellschaftsschichten darin vertreten sind – das Los allein reicht aus, um alle mit der ihrer Anzahl gemäßen Wahrscheinlichkeit in den Rat zu wählen. Nichts ist repräsentiver als die Hand des Zufalls – als das Los.

Mehrere Tage lang wird sich der Rat der 101 mit den einzelnen Themen beschäftigen. Vom Rat frei wählbare Fachleute und Kenner*innen der einzelnen Themen informieren ihn intensiv über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Gesetzesentwürfe. Für und wider sollen gehört und in all ihren Facetten beleuchtet werden. Vor allem aber wird viel diskutiert. Man tauscht sich viel aus. Der Rat der 101 symbolisiert eine Art Idealbild der Demokratie. Vertreter verschiedener Gesellschaftsschichten treten miteinander in engen Kontakt, tauschen sich aus, lernen die Ängste und Bedürfnisse des jeweils anderen kennen. Man lernt zu verstehen, lernt, sich eine fundierte Meinung zu bilden.

Nach mehreren Tagen der ausführlichen Diskussion und der Anhörung einer Schar von Expert*inn*en, kommt ein Gesetzesentwurf schließlich zur Abstimmung. Der Rat der 101 stimmt ab. Die Entscheidung soll bindend sein. Nach einer gewissen Zeitspanne von etwa einem halben Jahr endet die Amtsperiode des Rats der 101. Es kommt zum nächsten Losverfahren. Ein neuer Rat wird gezogen.

Dieses Verfahren bietet mehrere Vorteile, die uns in unserer politikmüden Zeit ein Segen sind:

  • Entscheidungen des Rates haben große Legitimität, da sie nicht von einer sogenannten Elite, sondern von einfachen Bürger*inne*n getroffen werden
  • Entscheidungen werden nicht uninformiert auf Basis unreflektierter Emotionen, sondern nach gründlicher Information und Beratung getroffen
  • Da ein jeder und eine jede damit rechnen muss, eines Tages in den Rat der 101 gelost zu werden, steigt das generelle Interesse für Politik und die Themen der Zeit. Größeres Vertrauen in die demokratischen Institutionen sind die Folge. Der Wutbürger hat ausgedient.

Bedenken und Einwände:

  • Aber kann man wirklich darauf vertrauen, dass X-beliebige Bürger*innen zu kompetenten Entscheidungen fähig ist?

Ja. Pilotprojekte dieser neuen/alten Variante der Demokratie in Irland haben gezeigt, dass ein Rat wie der Rat der 101 sehr wohl die große Verantwortung fühlt, die auf seinen Schultern lastet. Der Einzelne spürt die Bürde seiner Aufgabe, versucht so viel wie möglich über das Thema in Erfahrung zu bringen, um eine informierte Entscheidung zu treffen. Dazu gibt ihm die Befreiung vom Alltagsstress ausreichend Zeit. Vor allem aber die Diskussion mit Andersgesinnten anderer Bevölkerungsschichten vermag vieles zu bewirken. Im Versuch andere zu überzeugen, wird man leicht selbst überzeugt. Eine fundierte Entscheidung setzt sich durch.

  • Aber werden sich bildungsferne Schichten und notorische Nichtwähler denn überhaupt motivieren lassen, ohne Zwang bei diesem Rat der 101 mitzumachen?

Ja. Die Möglichkeit, plötzlich Entscheidungsträger zu sein, für geraume Zeit bei heiklen Fragen mitzubestimmen hat einen ungeheuren Reiz. In den Rat der 101 gelost zu werden, gilt als Ehre. Teilnehmer*innen sind hochangesehen. Zudem bietet eine angemessen Aufwandsentschädigung einen weiteren Anreiz.

Die oben geschilderte Variante des Rats der 101 ist nur als ein mögliches Beispiel der Anwendung des Losprinzips zu sehen. Es gibt komplexere, vielleicht bessere Varianten. Mehrere Spielarten, auch Kombinationen von Wahl und Los sind möglich. Ich wählte dieses einfache Beispiel der Anschaulichkeit wegen. Für weitere – ausgereiftere – Spielarten werfe man am besten einen Blick in die unten gelistete Literatur.

Als Name dieser Form der Demokratie, in der das Los und nicht die Wahl als oberstes Prinzip gilt, kann man den Ausdruck „aleatorisch-repräsentative Demokratie“ wählen. Namensgeber sind dabei die Würfel – alea. Als die Demokratie im antiken Griechenland erfunden wurde, war sie tatsächlich von aleatorischer Natur. Die Wahl hatte darin nur eine verschwindend geringe Rolle und galt als undemokratisch. Das Los entschied, wer die Entscheidungen traf. Ähnlich war es auch noch im Venedig des Mittelalters. Der Doge wurde per Los gewählt. Erst die Gründerväter Amerikas machen dem Losverfahren – das einst als Inbegriff der Demokratie galt – den Garaus. Die Folge waren Politikerddynastien und ein System, das oft mehr aristokratisch als demokratisch scheint. Denn auch wenn der Bürger der elektoral-repräsantiven Demokratie wählen darf – er darf nicht wählen, wen er wählen darf. Die Namen auf den Listen, die Spitzenkandidaten und ihre Programme werden fertig vorgelegt – und oft fehlen dabei wichtige Alternativen. Zweihundert Jahre lang galt das Losprinzip als vergessen. Wird es Zeit für dessen Wiederentdeckung?

Auch wenn man von der aleatorisch-repräsentativen Demokratie in ihrer Reinform skeptisch gegenübersteht – ein Versuch wäre es wert. Man will ja nicht gleich dafür plädieren, die Parlamente abzuschaffen. Ein Bürger*innen*rat per Los – ein Rat der 101 als Korrektiv zum gewählten Parlament – wäre schon ein Anfang. Auch auf kommunaler Ebene hat man hier viele Möglichkeiten. Steht eine heikle lokalpolitische Frage an – so führt eine generelle Einwohnerbefragung selten zur besten Entscheidung. Die meisten sind uninformiert. Das Bauchgefühl ist ein schlechter Herrscher. Ein ausgelostes, informiertes Gremium wäre da schon eine bessere Variante – eine Variante, die einen Versuch wert wäre.

Wichtig ist: Die Spielregeln der Demokratie sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn die Demokratie erstarrt, dann stirbt sie. Machen wir sie wieder dynamisch. Experimentieren wir. Wenn eine elektoral-parlamentarische Demokratie mit volksfremden Eliten einhergeht und ein Zuviel an direkter Demokratie zu fatalen Beschlüssen gegründet auf uninformiertem Bauchgefühl führt – vielleicht ist es da an der Zeit, jene alte Form des Losverfahrens wieder ins Leben zu rufen. Trauen wir uns, demokratischer zu sein. Experimentieren wird wieder – so wie es die alten Griechen taten. Wagen wir – und würfeln wir. Die beste Regierungsform ist vielleicht doch noch nicht gefunden. Die Demokratie ist gut – aber nicht so, wie wir sie betreiben.

„So gilt es, will ich sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt.“

Aristoteles

 

„Wahl durch Los entspricht der Natur der Demokratie – Wahl durch Abstimmung der Natur der Aristokratie“

Montesquieu

 

„Das entspricht der Natur der Demokratie […]. In jeder wahren Demokratie ist ein Amt kein Vorteil, sondern eine drückende Last, die man gerechterweise nicht dem einen mehr als dem anderen auferlegen darf. Das Gesetz allein darf sie dem auferlegen, auf den das Los fällt.“

Rousseau

 

Weitere (sehr lesenswerte) Lektüre:

B. Berbner, T. Stelzer u. W. Uchatius: Zur Wahl steht: Die Demokratie. DIE ZEIT Nr.4/2017

David van Reybrouck: Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Wallstein Verlag. Göttingen, 2016.

Hubertus Buchstein: Demokratie und Lotterie Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Frankfurt a. M. / New York 2009.

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