75 Fort Cochin III

Am Morgen meines dritten Tages in Fort Cochin schlenderte ich nach gutem Obstfrühstück im Art Café einmal mehr entlang der alten Hafenanlagen ins jüdische Viertel. Zumindest der alte „Dutch Palace“ hatte heute geöffnet. Eigentlich wurde das Gebäude schon 1555 von den Portugiesen errichtet. Sie schenkten es der lokalen Herrscherfamilie für einen Reigen von Gefälligkeiten. Hundert Jahre später wurde das Anwesen dann von den inzwischen dominanten Holländern renoviert. Viele Generationen der Rajas von Cochin haben hier residiert und geherrscht. Heute ist das Gebäude ein Museum. Am Beeindruckendsten sind wohl die alten Wandmalereien, die vor allem Szenen der Ramayana zeigen, sogar chronologisch. Ich stand wohl fast eine halbe Stunde davor und führte  mir die noch frisch in Erinnerung befindlichen Szenen einmal mehr vor Augen. Die Darstellung der vielen Dämonen, vor allem von Ravana und Khumbakarna, war faszinierend. Der Rest des Museums war nicht weiter aufregend. Der Besuch hat sich aber auf jeden Fall gelohnt.
Zurück in Fort Cochin saß ich einmal mehr lesend bei den Fischernetzen.
Erst um vier Uhr Nachmittags harrte meiner der nächste Programmpunkt. Um diese Zeit betrat ich nämlich einen schönen Saal mit Bühne. Dort würde ich fünf Stunden lang verweilen und drei sehr unterschiedliche Programmpunkte sehen.

Als erstes war kalarippayat an der Reihe, eine alte, südindische Kampfsportart, die nur mehr von wenigen beherrscht und praktiziert wird. Zu den informativen Erklärungen des Theaterdirektors gingen zwei junge Kämpfer mit Fäusten, Stöcken, Messern und Schwertern aufeinander los. Welch Akrobatik! Welch Geschwindigkeit! Es ist mitunter erstaunlich, daran erinnert zu werden, wie schnell der Mensch sich bewegen kann. Dem westlichen Besucher drängt sich beim Betrachten von kalarippayat unweigerlich der Gedanke auf: ‚Ich dachte, dass geht nur in der Matrix‘ . Dabei fürchtet man als Zuschauer auch ständig um das Leben der zwei Kämpfer auf der Bühne. Das Spiel mit dem Messer war lebensgefährlich. Wirklich beeindruckend.

Die zweite Show zeigte die traditionelle Theaterform des Kathakali. Zuerst geschah eine Stunde lang fast nichts. Die drei Schauspieler kamen auf die Bühne, um sich dort vor Publikum zu leichter Musik zu schminken, bzw. von einem Maskenbildner geschminkt zu werden. Die Maske ist dabei alles andere als naturalistisch. Der böse Kichaka wird in kräftigen Farben schwarz, grün und rot geschminkt und bekommt seltsame kiemenartige Fächer auf die Wangen geklebt. Die schöne Draupadi (gespielt von einem Mann) und ihr Pandavagatte Bhima tragen gelb im Gesicht.
Die Szene, die an diesem Abend gespielt wurde, stammt aus der Mahabharata. Schon wieder war das Timing meiner Lektüre gut. Ich hatte die entsprechende Stelle eben vor zwei Tagen erst gelesen. Die Pandavas und Draupadi leben inkognito am Hof von König Virata. Dessen Schwager Kichaka möchte Draupadi verführen und schlägt zu, als sie sich weigert. Draupadi klagt Bhima ihr Leid. Dieser erschlägt Kichaka. Ende der Geschichte.
Bevor es richtig losging erklärte der Theaterdirektor, dem diese Kunstform anscheinend sehr am Herzen liegt, die Grundzüge des Kathakali. Die Schauspieler selbst sprechen nicht. In Mimik und Mudras drücken sie die Empfindungen ihrer Charaktere aus. (Trotzdem darf Kichaka hin und wieder grunzen.) Ein begleitender Sänger fungiert als Erzähler. Trommeln untermalen das Geschehen. Im Spiel selbst sind es vor allem die Augen, die sprechen. Die Gesichtsbeherrschung der drei Schauspieler, die alle eine sechsjährige Schulung hinter sich haben, war erstaunlich. Ihr Spiel war faszinierend.

Als dritte Show des Abends führten vier junge Frauen traditionelle Tänze aus dem Süden Indiens vor. Schon wieder wurden meine Erwartungen übertroffen. Es war faszinierend. Hinter den meisten Tänzen steckt eine Geschichte, in die der Theaterdirektor jeweils kurz einführte. Die Solo-Nummer, in welcher sich das Mädchen auf den Besuch ihres Liebhabers Krishna freut und im ständigen Schwanken zwischen Vorfreude und Angst, er möge vielleicht doch nicht kommen, ihr Zimmer dekoriert, war atemberaubend gut. Diese Mimik! Dergleichen hab ich auf europäischen Bühnen noch nirgends gesehen.

Nach der Show wollte ich eigentlich mit der Fähre zum Bahnhof nach Ernakulam, wo in tiefer Nacht mein Zug abfahren würde. Diesem Plan kam aber die Freundlichkeit der Belegschaft meines Hotels zuvor. Der etwas chaotische Rezeptionist war angewiesen worden, mich auf seinem Moped mit in Richtung Bahnhof zu nehmen. Das war gut gemeint, doch schlecht getroffen. Ohne Helm mit schwerem Rucksack bei Nacht am Rücksitz eines zu schnell fahrenden Mopeds zu sitzen war nicht sehr angenehm, vor allem dann, als es auch noch zu regnen anfing. Bald ließ ich mich absetzen und nahm mir eine Autoriksha.
Pünktlich kam mein Zug. Ich fand den reservierten Platz und legte mich schlafen.

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