Gedanken zu Raoul Schrott: ERSTE ERDE EPOS

File 22.01.18, 20 43 09

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Fast acht Monate lang bin ich in Abständen immer wieder zu diesem Buch zurückgekehrt. Ich habe es nicht nur gelesen, ich habe jede einzelne Zeile LAUT gelesen – so wie es sich für gute Lyrik gehört. Oft habe ich die Verse meinen Arbeitszimmerwänden zugeflüstert, gelegentlich geraunt und gerufen, stellenweise habe ich Worte dieses Buches auch gebrüllt, meine Lesepult damit zum Beben gebracht und wild gestikulierend meinen Leser-Schatten über die die Wände flattern lassen.

Man darf begeistert sein. Raoul Schrotts „Erste Erde Epos“ ist die erste wunderschöne Antwort auf jene Sehnsucht aller Freunde des Realen, die einst Richard Feynman so schön in folgende Worte fasste:

„Unsere Dichter schreiben nicht über die besondere Art von religiöser Erfahrung, die Wissenschaftler machen; unsere Künstler versuchen nicht, deren staunenerregende Erkenntnisse anschaulich werden zu lassen. Ich frage mich, weshalb. Wird denn keiner von unserem heutigen Bild des Universums inspiriert? Der Wert der Wissenschaft bleibt unbesungen.“

Nicht mehr. Raoul Schrott wird hier zum ersten Sänger, der den Wert der Wissenschaft, den Reiz des Realen und die Magie der Wirklichkeit in gebührender Weise besingt. Feynman hätte seine Freude dran gehabt, ebenso Dawkins, der eine ähnliche Sehnsucht ausspricht, während er seinen Regenbogen entwebt, ebenso Sagan, der gegen die Dämonenheimsuchung der Welt ankämpfte, ebenso Darwin. Wo sind die Poeten der Wissenschaft, jene, die nicht den Schein besingen, sondern das Bild der Welt, wie sie sich uns zeigt? Wo sind die Gedichte über den Urknall, wo ist die Lyrik der Evolution, wo die Lieder, die Homo erectus und Neandertaler besingen? Hier sind sie. Hier in diesem Buch.

Vom Urknall bis zur Erfindung der Schrift werden Jahrmilliarden durchschritten, mühelos die scheinbaren Grenzen von Physik, Chemie, Geologie, Biologie, Paläontologie, Anthropologie und anderer Disziplinen untertaucht und überflogen – meist in wunderschöner Lyrik, manchmal auch lyrischer Prosa. Und stets teilt man den Blick in die Tiefe des Seins mit den Menschen der einzelnen Geschichten, die die Naturerkenntnis in ihr Fühlen, ihr Lachen und Leiden einweben. Liebende, einsame, verlassene, hassende, hoffende, forschende, sterbende, trauernde, schaffende Menschen, die allesamt das Meer der Zeit durchwaten und Welt spüren. Wie wunderbar das alles ist.

Man kann Philosophie und Physik studieren, um dem Wesen der Welt auf die Spur zu kommen. Man kann auch Kunst schaffen. Doch all dies zu vereinen, Naturwissenschaft mit Poesie zu verweben und dabei so herrlich gottlos zu bleiben wie der Dichter namens Schrott es tut – nichts lässt uns intensiver spüren, wie Milliarden Neutrinos uns durchfluten, wie einst die Sterne strahlten, deren Staub wir heute sind, wie endosimbiontische Zellen uns formen und verändern, wie das Leben seinen Weg von Kragengeisslern zu Pfeilschwanzkrebsen zu kleinen Nagern und zu Hominiden fand – chaotisch, reich an Zufällen und Massensterben. Schon lange kennt man die Theorien und ihre vielen Belege, doch noch nie waren sie in Form von Poesie zu lesen. Erst dies macht sie fassbar wie eine Melodie, ein Lied des Seins, eine Arie des Lebens und des Leblosen.

Oft hörte ich leise zum Lesen Clint Mansells herrliche Kompositionen zum Jungbrunnen im gleichnamigen Film. Ähnlich wie die Zeilen Schrotts versuchen sie Raum und Zeit zu durchmessen.

Die Welt muss wohl erst begreifen, was Raoul Schrott hier geschaffen hat. Kaum ein Buch hat mich je so beeindruckt. Nichts, was er vorher schrieb, kommt dem gleich. Bravo. Bravo. Bravo. Irgendwann in Jahrzehnten werde ich dies Buch wohl noch einmal lesen müssen. Dann vielleicht von hinten nach vorn. Auch dies ist hier möglich. Ich freue mich schon jetzt darauf.

Zu guter Letzt habe ich (falls Raoul Schrott oder einer seiner Vertrauten dies lesen sollte) nach all der Begeisterung auch noch zwei kleine Fehler zum Ausbessern für die hoffentlich notwenige zweite Auflage bemerkt:

  • Auf Seite 703 muss es „700 000 km vom Kern der Sonne bis zu ihrer Oberfläche“ heißen, nicht „700 000 km vom Kern der Sonne bis zur Oberfläche der Erde“. Das wären dann wohl eher 150 Millionen Kilometer.
  • Auf Seite 724 muss es heißen „ergeben Datierungen, die erst bei 4,1 Milliarden Jahren beginnen“, nicht „ergeben Datierungen, die erst bei 4,1 Millionen Jahren beginnen“.

Das konnte ich als alter Astrophysiker einfach nicht übersehen.

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Ein Gedanke zu “Gedanken zu Raoul Schrott: ERSTE ERDE EPOS

  1. mtreffem Dezember 15, 2018 / 8:59 am

    Ich lese Erste Erde Epos gerade als „Adventskalender“ und muss zugeben, dass ich anfange Lyrik zu verstehen und mein kleines Physiker- und Philosophenherz jeden Tag ein wenig aussetzt vor Freude. Trotzdem gebe ich auch zu, dass ich froh bin jeden Tag nur etwa 30 Seiten dieses Monuments lesen zu „können“ und gleichzeitig jeden Tag weiterlesen zu „müssen“, denn ich bin mir nicht sicher, ob und in welchem Zeitrahmen ich es sonst lesen würde. Tatsächlich habe ich seit ein paar Tagen auch aufgehört den großartigen wissenschaftlichen Anhang zu lesen.
    Ich musste das hier einfach kommentieren, da das hier gefühlt die einzige Rezension dieses großartigen Werkes ist.

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