Von meinem Balkon aus sah ich der Sonne über dem Meer beim Aufgehen zu. Dann brach ich auf, um die Weltkulturerbestätten des Ortes zu erkunden. Allesamt stammen aus der Zeit des Königreichs von Pallava, das hier im heutigen 17,000 Einwohner Dorf seinen wichtigsten Hafen hatte. Die Bauten zeugen von der einstigen Macht dieses Reiches aus dem siebten Jahrhundert. Die beiden Türme des Küstentempels, dem ich zuerst besuchte, sind nur ein erster Vorgeschmack. Leuchtturmartig auf einer felsigen Halbinsel gelegen ist der Küstentempel dem Seewind schutzlos ausgeliefert. Die stark verwitterten Skulpturen von Nandi, Shiva und anderen zeigen sehr anschaulich, was Wind und Wetter binnen dreizehn Jahrhunderten anrichten können. Die Konturen sind nur mehr verschwommen erkennbar. Nur im Innern der Tempel sind Shiva und auch Vishnu noch scharf zu sehen.
Nach gutem Frühstück erkundete ich den Hügel von Mamallapuram, welcher mit bizarren Gesteinsformationen überrascht, in welche die Künstler von einst faszinierende Figuren und Höhlungen gemeißelt haben, allen voran „Arjunas Buße“, einem etwa sieben Meter hohen, fünfzehn Meter breiten Ensemble in Stein gehauener Figuren (an die hundert an der Zahl). Neben Nagas, die aus einer Felsspalte schweben, Elefanten, einer Katze, die vor Mäusen ihre Taten büßt und anderen Figuren sieht man einen Mann, der auf einem Bein steht. Dieser wird als Arjuna, dem Helden der Mahabharata, identifiziert. Das Stehen auf einem Bein symbolisiert die mühseligen Entbehrungen, denen er sich unterwirft, um von Shiva die mächtige Pasupata Waffe zu erlangen. (Die nützt ihm allerdings recht wenig, da man damit nur Götter umbringen kann, Arjunas Feinde, die Kauravas, aber menschlich sind.) Shiva mit himmlischem Gefolge und Waffe ist ebenfalls in den Stein gemeißelt. Da ich das entsprechende Kapitel in der Mahabharata erst vor ein paar Tagen gelesen hatte (Was für ein Timing!), kam mir die Szene sehr bekannt vor. Man kann hier lange stehen und staunen (und wird dabei leider ständig von Leuten abgelenkt, die einem irgendwelchen Ramsch verkaufen möchten). Jedenfalls gilt „Arjunas Buße“ als eines der größten Kunstwerke des antiken Indiens.
In den hohen Felsen und kleinen Schluchten, die sich dahinter erstrecken, kletterte ich mehr als eine Stunde lang umher und fand weitere in Stein gehauene Tempel und Figuren. Eine Wand zeigt Pfaue und Elefanten, eine andere Brahma, Shiva und Vishnu, die Dreifaltigkeit an der Spitze der hinduistischen Götterwelt. Besonders imposant ist Krishnas Butterball, ein etwa fünf Meter hoher, fast kugelrunder, freistehender Felsen, der so aussieht, als würde er jederzeit den Hügel hinabrollen. Ein paar Bauten, sowie ein ein weiteres Figurenensemble ähnlich groß wie „Arjunas Buße“ wurden nie fertiggestellt und zeugen vielleicht vom plötzlichen Niedergang des Pallava-Königreichs. Als einziges modernes Gebäude inmitten von steinernen Zeugen der Vergangenenheit findet man Mamallapurams beschaulichen Leuchtturm.
Ein kleines Stück südlich der Stadt erreichte ich die fünf Rathas. Es sind dies fünf kleinere (bis zu zehn Meter hohe) steinerne Strukturen, die wie Tempel aussehen und unterschiedlichen Göttern gewidmet sind. Das Beeindruckende daran ist, dass alle fünf nicht „gebaut“, sondern jeweils aus einem einzelnen Felsen gehauen wurden. Über tausend Jahre lang lagen sie im Sand begraben. Erst vor zwei Jahrhunderten brachten die Briten sie wieder ans Licht. Seltsamer Gedanke. Was wohl noch so alles im Sand schlummert? Im Jahre 2004 mussten die fünf Rathas teilweise erneut ausgegraben werden, da der Tsunami (der auch hier Verheerung brachte) sie wieder zugedeckt hatte.
Benannt sind die fünf Rathas nach den fünf Pandava Brüdern und ihrer gemeinsamen Gattin Draupadi, die mir aus meiner Lektüre inzwischen sehr vertraut sind. Draupadis Ratha ist der Göttin Durga gewidmet. Ein riesiger, steinerner Löwe bewacht den Eingang. Arjunas Tempel gehört Shiva. Ein freundlicher Nandi Stier aus Stein sonnt sich hinter dem Tempel. (Ich orte hier starke Shiva-Voreingenommenheit der Namensgeber. Jeder, der die Mahabharata kennt, weiß doch, dass Vishnu Arjuna viel näher steht. Wenn man aber glaubt, dass Shiva der mächtigste Gott ist, muss man wohl auch seinen Tempel nach dem mächtigsten Pandava benennen.) Der unvollendete Tempel des starken, aber einfältigen Bhima ist Vishnu geweiht. (Passt gar nicht.) Yudhisthiras Tempel scheint keine klare Haupgottheit zu haben, zeigt aber an der Außenwand einen eigenartigen Shiva-Parvati Hybriden. Der schöne Tempel der Zwillinge Nakula und Sahadeva ist Indra gewidmet. (Das passt genau.) Der kunstvolle, lebensgroße Steinelefant davor ist wirklich famos. Die Proportionen stimmen. Indra ist übrigens eine sehr interessante Gottheit. Alte Schriften wie das Ramayana bezeichnen ihn noch als König der Götter, während er später nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Man geht davon aus, dass Indra einer viel älteren Götterwelt entstammt, die nach und nach vom Vishnu-Shiva-Brahma Kult verdrängt und doch teils auch in diesen integriert wurde. Über Indra sinnierend schritt ich den Strand entlang zurück zu meinem Hotel.
Mittag, Nachmittag und Abend galten reiner Erholung. Ich schwamm im Meer, sprang durch die Wellen, las Mahabharata, aß Fisch und Pizza und schlenderte durch das Fischerdorf. Erwähnt werden sollte noch, dass einige Restaurants sehr eigenartige Namen und Slogans haben. So heißt ein Lokal „Freshly ’n‘ hot“, was grammatikalisch überhaupt keinen Sinn macht. Ein anderes schreibt groß „Pizza is our new Yes!“. Aha. Your words are aenigmatical.
Interessant ist auch, dass die meisten Lokale hier zwar Bier haben, sich aber davor scheuen dies in der Karte oder sonst wo zu erwähnen. Dazu sind die nahen hinduistischen Stätten wohl doch zu heilig und die Worte der Mahabharata zu gegenwärtig: „Jene aber, die der Schlacht den Rücken kehren, jene, die verschlagen sind, jene, die den Göttern nicht geopfert, die nicht auf Alkohol und Fleisch verzichtet, die nicht in heiligen Flüssen gebadet haben, jene werden die himmlischen Gärten von Nandana niemals erreichen.“ Das mit dem Fleisch lass ich ja noch gelten und verschlagen bin ich auch nicht. Aber der Rest … Hypothetische Gärten können mir gestohlen bleiben. Die Gärten der Wirklichkeit sind schön genug. Zum Wohl.