Die 1978 erschienene Schrift „Die Macht der Ohnmächtigen“ von Václav Havel gehört zu den faszinierendsten politischen Büchern, die je las. Seine umfassende Analyse des Lebens in einem „post-totalitärem“ System ist keinesfalls mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem damit einher gehenden demokratischen Wandel obsolet geworden. Ganz im Gegenteil. Auch Havel selbst war längst klar, dass seine Kritik sich ebenso auf die in rigidem Kapitalismus erstarrten Systeme manch parlamentarischer Demokratien anwenden lässt; denn auch in diesen ist das von ihm so gekonnt beschriebene „Leben in Uneigentlichkeit “ – um einen Heidegger’schen Terminus zu entlehnen – an allen Ecken und Enden des täglichen Lebens zu konstatieren. Wonach wir aber streben sollten – und wonach Havel und andere Dissidenten der Charta 77 damals offenbar strebten – ist „living within the truth“, was man auch schlichtweg als „Authentizität“ bezeichnen kann. Post-totalitäre Systeme wie die Ostblockstaaten vor der Wende, aber auch manch kapitalistische Systeme würden diese laut Havel nicht zulassen.
Was „Die Macht der Ohmmächtigen“ so ungemein lesenswert macht, ist, dass die Schrift nicht im Theoretischen verharrt, sondern klare Beispiele hautnah am Leben bietet. Die Geschichte des Gemüsehändlers, der sich nicht traut den leeren politischen Slogan eines erstarrten Systems aus seiner Auslage zu entfernen; die Gedanken des Bierbrauers, dessen Verbesserungsvorschläge an den Mauern von Hierarchie und Bürokratie scheitern; aber auch Havels eigenes Ringen, sich als Theatermacher nicht dem System zu beugen, bieten faszinierende Einblicke in eine Welt, die nicht mehr ist und doch in anderen Formen in vielen Gesellschaften weiterlebt.
In vielerlei Hinsicht erinnert „Die Macht der Ohnmächtigen“ an Henry David Thoreaus wegbereitenden Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Auch wenn es viele Unterschiede gibt, lohnt es sich wohl, beide Schriften in rascher Folge zu lesen und zu vergleichen. Auch der Einfluss Heideggers auf das Denken von Václav Havel macht sich immer wieder bemerkbar. Sein nach vielen Jahren des Theaterschaffens ausgefeilter und an Metaphern reicher Schreibstil machen die Lektüre von „Die Macht der Ohnmächtigen“ zum kurzweiligen und erhellenden Genuss. Ein Beispiel wäre die Stelle „There are times when we must sink to the bottom of our misery to see the truth, just as we must descend to the bottom of a well to see the stars in broad daylight.“ Anscheinend unterlag Havel hier dem weit verbreiteten Irrtum, dass man tatsächlich am Tage vom Grund tiefer Brunnen aus die Sterne sehen könnte. Das ist physikalisch gesehen natürlich vollkommener Unsinn. Schön ist die Metapher trotzdem.
Eine frappierende Einsicht, die sich am Ende des Buches auch zeigt, ist die völlige Unberechenbarkeit politischen Wandels. Havel hielt es zu jener Zeit, als er „Die Macht der Ohnmächtigen“ schrieb, wohl für ziemlich unwahrscheinlich, dass kaum mehr als zehn Jahre später eine politische Revolution mehrere Nationen von Grund auf verändern und ihn selbst schließlich zum Staatspräsidenten machen könnte. All das erschien Ende der Siebziger noch völlig aussichtslos, vielleicht ebenso aussichtslos wie der politische Dissens in manchem Land der heutigen Zeit (z.B. im Iran), der womöglich gar nicht so aussichtslos ist und plötzlich zu unerwartetem Wandel führen könnte – einem Wandel, der mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung, mehr Gerechtigkeit und vor allem mehr Authentizität mit sich bringt.