Abdulrazak Gurnah: Paradise

Eben las ich den Roman „Paradise“ von Abdulrazak Gurnah, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2021, zu Ende. Spannend. Die Genres von Entwicklungs- und Reiseroman sind hier schön miteinander verwoben – und dies vor dem Hintergrund der ostafrikanischen Kolonialgeschichte, in welcher immer wieder deutsche Soldaten und ihre Askaris als handlungsveränderte Begleitumstände fungieren, so wie Stürme im Meer. Das Meer selbst aber ist auch ohne diesen Sturm keine Idylle, sondern ein Fressen und Gefressen werden von gierigen Händlern aus Indien und Arabien, sowie grausamen Indigenen. Das Märchen vom friedlichen Naturzustand, das Rousseau einst träumte, ist für Gurnah eine absurde Chimäre, die niemals Wirklichkeit war. So tritt uns der Kolonialismus in dieser Geschichte nur als ein Übel von vielen entgegen, ein Umstand, der aber keinesfalls dazu dienen mag, ersteren als weniger verheerend zu sehen. Selbst die unberührte Natur Tansanias ist in diesem Roman alles andere als paradiesisch. Die Moskitos, die dort schwärmen, sind nicht weniger blutrünstig als die Menschen.

Vor diesem Hintergrund lernen die Lesenden den Protagonisten Yusuf kennen. Wir erleben sein „Coming of Age“. Wir erleben seine Reisen ans Meer und ins Landesinnere. Handelstreibende Kraft wird er nie. Vielmehr schwimmt er recht passiv auf den Wellen einer unruhigen Zeit und wird mal dahin, mal dorthin getrieben. Dasselbe trifft auch auf andere Charaktere zu. Alles sind sie wie Treibut, das von geschichtlichen Strömungen getragen an irgendwelchen Küsten strandet und sich fragt, was es da soll. Lässt sich irgendein Glück in diesen Gestaden finden? Vielleicht. Jedenfalls hilft es, wenn man einen Garten anlegt. (Und somit wären wir bei Voltaire.) Das Gute in Gurnahs Welt muss man lange suchen. Vielleicht findet man es zwischen den Zeilen.

Alles in allem ist dies ein Roman, der vermag, den westlichen Leser:innen endlich die Augen für die weite Welt der außereuropäischen Literatur zu öffnen. Die Globalisierung ist wirtschaftlich leider viel schneller vorangeschritten als kulturell. Viel zu wenige Menschen Europas kennen die literarischen Schätze Afrikas und Asiens. Viel zu wenige haben Mahabharata und Ramayana kennengelernt. Viel zu selten liest man in Europa die großen Erzählungen Chinas, Indiens und Japans. Zur indischen Literatur der Moderne hat uns vor Jahren schon Salman Rushdie die Pforten geöffnet. In der Tat fühlte ich mich bei „Paradise“ gelegentlich an das ungleich monumentalere Werke „Midnight’s Children“ von Rushdie erinnert. Gurnahs Erfolg vermag hoffentlich, auch die afrikanische Literatur zu höheren Bekanntheitsgraden zu führen. Es gibt hier noch viele Schätze zu bergen. „Paradise“ ist einer davon.

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