Henry David Thoreau

So wie im letzten Sommer Lord Byron mein staendiger Begleiter war und mit mir durch Jura, Rhonetal und Chartreuse wanderte, so hatte ich auch auf dieser Reise meinen stillen Kameraden, den ich mit jedem Tage besser kennen lernte. Und obwohl ich in den ersten Wochen dieser Reise kaum die Zeit zum Lesen fand – zu reich war die Umgebung, zu dicht der Reigen der Erlebnisse – so boten sich spaeter doch so manche stille Stunden an, um in die Welt – und die Waelder – meines Buches zu tauchen und eine andere Welt aufzusuchen. So war ich also nicht nur hier. Waehrend ich den Mekong hinauf fuhr oder still an der Kueste Kambodschas meinen Fruchtsaft trank, waehrend ich in Vang Vieng das Treiben der Getriebenen beobachtete oder auf den Inseln Si Phan Dons in meiner Haengematte lag, ich las und lernte einen Menschen kennen. Ich reiste mit ihm durch die Waelder von Maine, folgte im Winter den Spuren eines Fuches am zugefrorenen See nahe Concord, Massachusetts und lebte zwei Jahre lang in jener Huette am Waldrand, nah und fern von nirgendwo. Ich lernte ihn kennen, jenen Gelegenheitsquietisten und Hobbyanarchisten, jenen Freund aller Waelder und Feind der Konventionen. Er, der grosse Reisende, der nie aus Neuengland herausgekommen ist und trotzdem die ganze Welt zu kennen schien. Ich las die Schriften von Henry David Thoreau.

Er starb zu frueh um seinen Ruhm noch zu erleben. Heute zaehlt er zu den wichtigsten literarischen Grossen Neuenglands. Sein Platz im Olymp der amerikansichen Literatur, gleich neben Emerson, Melville, Withman und Poe ist ihm gewiss. Und die Nachwelt nahm auf ihn Bezug. Tolstoi holte sich wichtige Impulse. Und wer weiss, ohne Thoreaus politischer Schrift der „Civil Disobidience“ waere das Leben Gandhis und das Schicksal Indiens vielleicht ein anderes gewesen. Denn Gandhi uebernahm sein Prinzip des friedlichen Protests von niemand anderem als Thoreau, dem Vordenker jeglicher Form zivilen Ungehorsams.

Philosophie und Dichtung sind in seinem Werk verwoben. Er verkoerpert vieles und doch ist seine Meinung klar. Man koennte ihn mit der Philosophie Rousseaus in Verbindung bringen, vielleicht auch mit den europaeischen Denkern der Lebensphilosophie vergleichen. Gewiss ist der Einfluss Emersons nicht unerheblich, der ihm Freund und Lehrmeister war. Dennoch ist Thoreau einzigartig. Seine entschlosse Abwendung von jeglicher festgefahrener Konvention, sein Streben nach Einfachkeit und Origninalitaet, seine fast religioese Verehrung der Natur und des Lebens, sein stiller Protest und sein ewiges Junggesellentum – es lohnt sich seinen Gedanken zu folgen. Und wie immer machte es mir Spass meine eigene Weltanschauung mit jener der Autoren meiner Lektuere zu vergleichen, Parallelen herauszuarbeiten und Unterschiede klar zu legen. Zu Thoreau sage ich oft einfach nur Ja. Er haette sich auch mit Byron gut verstanden, den er – denke ich – nicht kannte. Er kannte und zitierte viele Werke, die ihm wohl sehr wichtig waren. Oft erkannte ich in seinen Schriften so manche Stelle aus dem Lun Yu des Konfuzius wieder. Oft zitierte er auch die Veden, Vergil oder einfach nur Homer. In der Bibel fand er weniger, das in den Rahmen seiner Schriften passte. Thoreau ist kein Erzaehler, der Geschichten und Charaktere er’findet“. Alles, was er schrieb, ist ein Bericht. Ein Bericht seines Lebens, seiner Reisen und vor allem seiner Zeit am Waldon-See, wo er zwei Jahre lang mit der Einsamkeit experimentierte und vom Land alleine lebte. Thoreau hat nicht nur von alternativen Lebenswegen geschrieben und philosphiert. Er hat sie ausprobiert. Und er ist ein Meister der Beobachtung, besonders der Naturbeobachtung. Das Spiel der Jahreszeiten, der Zauber eines zugefrorenen Sees, die Waerme des Feuers, die Stimmen im Wind und die Lieder im Regen – keine hat dies je besser beschrieben als Thoreau. Man lobe aber auch seinen feinen Sarkasmus und versteckten Spott fuer die Gesellschaft der Mainstream Kultur.

Jetzt bin ich mit ihm fertig, habe mein Buechlein „Waldon and other writings“ von vorne bis hinten gelesen und auf vielen Seiten viele Saetze mit Kugelschreiberstrichen dicht versehen um sie bei Bedarf wieder zu finden. Nur ein grosser Autor von vielen. Nur eine weise Stimme aus der Vergangenheit mehr. Und doch koennen solche leisen Stimmen auch in der Welt von heute noch so viel bewegen.

Why should we be in such desperate haste to succeed and in such desperate enterprises? If a man does not keep pace with his companions, perhaps it is because he hears a different drummer. Let him step to the music which he hears, however measured or far away. Only that day dawns to which we are awake. There is more day to dawn. The sun is but a morning star.

Mir stellt sich vor allem eine Frage: So wie Thoreau von der Natur spricht, von seinen Pflanzen, Tieren und zugefrorenen Seen, wie er all dem mit Worten Leben einhaucht, wie er damit den Phaenomenen des Lebens die Macht gibt im Geiste des Menschen Emotionen zu wecken, kann man dies denn nicht auch mit den Sternen tun, – mit schwarzen Loechern und Neutronensternen, mit Quarks, Neutrinos und Bosonen? Kann man nicht auch von diesen Dingen in Worten sprechen, die poetisch sind? Und so vielleicht mehr Licht ins Dunkel bringen, als mit reiner Mathematik, mehr Menschen sehen lassen, was in ihrem Wellenlaengenbereich ansonsten noch verborgen bleibt? Vielleicht. Man braeuchte einen Thoreau der Naturwissenschaften.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s