Stefan Zweig: Die Welt von Gestern

Ich habe noch keine Autobiographie gelesen, die ähnlich fasziniert und erschüttert wie Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“. Dabei will er gar nicht über sich selbst schreiben. Sein eigenes Leben wird in all seinen Höhen und Tiefen lediglich herangezogen, um die gewaltigen sozialen und politischen Umwälzungen deutlich zu machen, die sich zwischen Ende des neunzehnten und der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ereigneten. Hinzu kommt Zweigs unvergleichliche Meisterschaft im Gebrauch der deutschen Sprache, die auch so viele seiner Erzählungen zum Leuchen bringt. Was für eine Reise durch die Jahrzehnte! Was für ein strammer Wind des unaufhaltsamen, oft grausamen Wandels!


Die Jugend in der Haupstadt des Habsburgerreiches, das künstlerische Leben in Frankreich und England, die Anfänge des Europäischen Gedankens, dessen Erschütterung durch den ersten Weltkrieg, die Mühen der Zwischenkriegszeit, die wiedergewonnene Freiheit, ihr abruptes Ende durch die Machtergreifung Hitlers, die triste Existenz als staatenloser Flüchtling – all dies erfuhr Zweig am eigenen Leib und schildert es in unvergleichlich frappierender Sprache. Dabei geht es ihm allerdings nicht nur um die politischen Umwälzungen. Auch der soziale und kulturelle Wandel, der sich zu seinen Lebzeiten vollzog, wird beleuchtet. Hinzu kommen Begegnungen und Gespräche mit vielen prägenden Figuren seiner Zeit, denen Zweig sehr viel Leben einzuhauchen vermag. Wie er gemeinsam mit Rilke durch Paris spaziert, mit Joyce in Zürich Tee trinkt, mit Rodin durch dessen Attelier geistert, mit Richard Strauß über Musik spricht, mit Theodor Herzl auf einer Parkbank in Wien sitzt, wie er zu Gast bei H.G.Wells dessen Disput mit G.B. Shaw belauscht, wie er zuletzt Freud vor dessen Tod besucht – all dies wirkt so lebendig, dass die Menschen hinter den Namen auf wundersame Weise sichtbar werden.


Das Ende ist gewiss ein Trauriges. Obwohl die letzten Lebensmonate fehlen, zeichnet sich in der Resignation des Autors schon fast sein Entschluss zum Freitod ab, den er 1942 wählte. Zu sehr peinigte ihn der Gedanke an alls das, was in Europa geschah. All die Toten. All die erloschenen Hoffnungen. All die vernichtete Kultur. Zweig hatte schon früh den Traum eines kulturell und künstlerisch vereinten, grenzenlosen Europas geträumt. 1942, da die Armeen Hitlers noch auf dem Vormarsch waren, lag diese Vision ferner denn ja. Man möchte Zweig so gerne zurufen: Warte doch noch ein wenig. Halte aus und sieh zu. Wie hätten ihn die Erklärung der Menschenrechte und die frühen Schritte in Richtung europäischer Vereinigung wohl gefreut.

Einges an dieser Autobiographie mutet aus heutiger Sicht doch auch sehr eigentümlich an. Etwa der Umstand, dass Zweig einige literarische Zeitgenossen aufs Genaueste bishin zu den Gesichtszügen beschreibt, seine erste und zweite Frau aber fast unerwähnt lässt. Irgendwann wird aus einem „Ich wohnte“ plötzlich ein „Wir wohnten“, ohne dass davor ein Wort über Kennenlernen und Hochzeit geschrieben wurde. Aber vielleicht wollten die Damen es so. Kritikwürdig ist gewiss das zu positive Licht, mit dem Zweig die Welt vor 1914 beschreibt. Dass jene Freiheiten und jener Wohlstand, den er preist, eben nur einer priviligierten Gesellschaftsschicht, der er selbst angehörte, zuteil wurde, scheint er zu übersehen.


Wie dem auch sei: „Die Welt von Gestern“ ist ein ungeheuer gutes Buch, in dem man sehr viel über europäische, deutsche und vor allem österreichische Geschichte lernen kann.

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